Polen: Migration zwischen Realität und Mythos

aus OWEP 3/2003  •  von Agnieszka Sabor

Die Verfasserin ist Redakteurin der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“.

Die Migration – und insbesondere die Emigration – hat in Polen ihre eigene Mythologie, die die Haltung vieler Generationen sowohl im Lande wie jenseits der Grenzen formte. Ihre romantische Form wurde im 19. Jahrhundert durch die aufeinander folgenden Erhebungen zur nationalen Befreiung markiert, nach deren Scheitern die Hauptstädte Westeuropas sich mit polnischen Flüchtlingen – seien es politische Führer oder „Könige des Geistes“ – füllten. Im 20. Jahrhundert wurden sie fast unbemerkt durch polnische Veteranen, die in der britischen Royal Air Force gekämpft hatten, oder durch Intellektuelle ersetzt, die sich um die hoch angesehene Pariser Exilzeitschrift „Kultura“ sammelten. Im vorletzten Jahrhundert scharte man sich um den polnischen Fürsten Adam Jerzy Czartoryski und seine Residenz im berühmten Hotel Lambert in Paris, später – nach dem 2. Weltkrieg – um den Chefredakteur der genannten Zeitschrift Jerzy Giedroyć und die Bewohner seiner Maison Laffitte.

Für die alte Emigration war der polnische im Exil lebende Dichterprophet Adam Mickiewicz mit seinen in biblischem Ton gehaltenen „Büchern der (polnischen) Pilgerschaft“ symptomatisch, für die neuere Exilzeit der Dichter und Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz, der in nüchterner Sprache die Dramatik der zur Emigration gezwungenen Polen zum Ausdruck brachte. Unabhängig von der Zeit, in der sie lebten, schrieben sie sich in das gleiche Paradigma ein.

Die Mythologie der Emigration hat auch eine andere – pionierhafte – Form, die seltener und gleichsam schüchterner, weil oft mit Wanderungen „um des Brotes willen“ verbunden, beschworen wird: Wanderungen, die dann am Gestade eines nord- oder südamerikanischen Hafens endeten oder eigentlich erst begannen. Aber auch sie hat ihre Helden: Ingenieure, Geschäftsleute, Farmer. Darunter einen Ernest Malinowski, der eine Eisenbahn in den peruanischen Anden baute. Und einen Kazimierz Junosza Bzowski, der die Brücke über den Niagara konstruierte.

In jeder Form assoziiert sich jedoch die Emigrationsmythologie im kulturellen Bereich mit moralischem Heroismus, der Verantwortung für das zurückgelassene Land verlangt. Deshalb wird zum Markenzeichen der Emigration die Literatur – als Ersatzform für Politik. Dies geschieht in so starkem Maße, dass sie manchmal sogar in den englischsprachigen, auf dem Pazifik spielenden Erzählungen eines aus Polen stammenden Joseph Conrad aufscheint. So nimmt es nicht wunder, dass jene, die wie der Dichter Zbigniew Herbert in der Zeit des Kommunismus ihr Land nicht verlassen wollten oder konnten, ihre Verweigerung zur Teilhabe an der Lüge als „innere Emigration“ bezeichneten.

Aber neben der Emigrationsmythologie gibt es auch eine Antimythologie. In ihrer oberen Schichtung kann sie sich als Leid oder Trauma zeigen – zum Beispiel bei denen, die im März 1968 nicht nur (und vielleicht nicht vor allem) von einem totalitären Regime aus dem Vaterland verjagt wurden, sondern auch wegen der in der polnischen Gesellschaft vorhandenen antisemitischen Stereotypen, die es zuließen, dass bei den provozierten Kundgebungen vor den Universitäten der Ruf „Zionisten nach Zion“ ertönen konnte.

In der unteren Schichtung kommt eine Antimythologie (völlig anderer Art) gleichsam wie ein Querschläger zurück, wenn sie zum Beispiel in Gestalt der ins Polnische übersetzten, die landläufigen Vorstellungen illustrierenden Sprüche von der Art „Fahr‘ nach Polen, dein Auto ist schon dort“, in Gestalt umstrittener Erinnerungen aus Green Point – einem New Yorker Stadtteil, der mit seiner zähflüssigen, verschlafenen Atmosphäre an das Polen der Zeit eines Parteichefs Gomułka und Gierek erinnert –, oder in Gestalt der beschämenden Szenen vor den „polnischen“ Kirchen in Wien oder München erscheint, wo um Arbeit bettelnde oder angetrunkene Landsleute das Bild der Polen verdunkeln.

Nach den Grenzverschiebungen in Europa

Es gibt noch einen anderen mythischen Aspekt der polnischen (und nicht nur der polnischen!) Wanderungsbewegungen – jenen, der aus den Nachkriegsveränderungen der Grenzen resultiert. Illustriert wird er einerseits – negativ – durch das Bild der zu Ruinen verkommenen Städtchen in Niederschlesien und Hinterpommern, aus denen man nach 1945 Ziegel zum Wiederaufbau Warschaus wegschaffte, oder durch die Geschichte des polnisch-ukrainischen Konflikts über den Lemberger polnischen Soldatenfriedhof. Andererseits bringt dieser Aspekt etwas Positives, etwas, was in den letzten Jahren auftaucht und was man als Versuch zur Überwindung der Geschichte bezeichnen könnte. Am besten erläutert dies eine Anekdote: Zwei ältere Herren treffen sich auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Berlin. Der erste von ihnen fragt: „Ach, Sie kommen aus Wrocław? Ausgezeichnet, denn, wissen Sie, ich stamme auch aus Lemberg.“

Und wer weiß, ob nicht gerade dieser letzte Aspekt mythischen Denkens über Migrationen jetzt eine höchst positive Funktion bei der Herausbildung der polnischen Identität erfüllt. Ein schlichtes Friedshofskreuz, das sich im unmittelbaren Zentrum von Paris, in der Nähe des Invalidendoms (unweit der polnischen Botschaft) befindet, war in den achtziger Jahren einer der wichtigsten Orte für Begegnungen der damaligen polnischen Emigration. Hier bekam man Informationen, verfasste man Manifeste, legte man – in einem postromantischen Gestus – Blumen nieder. Heute ist das ein fast völlig vergessener Ort. So wie das Lied von Jacek Kaczmarski über „unsere Klasse“ vergessen wurde, eine Schulklasse, die über die ganze Welt – von Schweden bis nach Tel Aviv – verstreut wurde. Vor einem guten Dutzend Jahren war das fast noch die Hymne einer Generation gewesen. Es scheint also, als ob der romantische Mythos der prometheischen Verantwortung der polnischen Emigration gegenüber der eigenen Nation Geschichte geworden ist.

Indes entsteht eine neue, im Augenblick der Eingliederung Polens in den Blutkreislauf der Kultur des Westens konstruktive, auf die Geschichte der Migrationen gestützte, jetzt aber schon in gewisser Weise übernationale Mythologie.

In Wrocław/Breslau oder Gliwice/Gleiwitz trägt das – wiederaufgerichtete, eigentlich nach 1989 erst errichtete – Gedächtnis an die Vertreibungen Früchte. An jene Vertreibungen, in deren Ergebnis die Vorkriegsbewohner die Stadt verließen. Und an jene, die bewirkten, dass sich die lange nach Lemberg Heimweh empfindenden Neuankömmlinge von jenseits des Bug in ihr niederließen. Die kommunistische Propaganda, die auf den Mythos von der „Rückkehr auf die uralten Piastengebiete“ zurückgriff, fand einen breiten Widerhall in der vom Krieg traumatisierten Gesellschaft (Professor Leon Kieres, Chef des Instituts für Nationales Erinnern und Breslauer, erzählte in Interviews von seiner eigenen, noch in den siebziger Jahren bestehenden völligen Gleichgültigkeit gegenüber der Zerstörung der ehemals deutschen Struktur der Stadt und davon, wie plötzlich ihm – der damals Student war – die von den Kommunisten von einem Tag auf den anderen zerstörten mittelalterlichen Breslauer Klaren-Mühlen fehlten). Paradoxerweise hat erst das „Ersitzen“ (in den so genannten „Wiedergewonnenen Gebieten“ wächst die dritte Nachkriegsgeneration heran) es erlaubt, die Tragik der Zwangsmigrationen zu bemerken, die den Charakter der Stadt völlig verändert haben. Und erst jetzt konnte daraus ein gewisser politischer, kultureller oder – umfassender formuliert –identitätsstiftender Entwurf geschaffen werden, den nicht nur in Nieder- und Oberschlesien, sondern auch in Hinterpommern, Ermland und Masuren einerseits Horst Bienek und andererseits Adam Zagajewski auszudrücken vermögen. Beide sind in gewisser Weise Exilschriftsteller. In der neuen Mythologie der Bevölkerungsverschiebungen im 20. Jahrhundert wird die Versöhnung wichtig, aus der Mitverantwortung für die Zukunft der ganzen europäischen Gemeinschaft entsteht.

Vor einigen Monaten fand in Krakau eine den historischen und zeitgenössischen Beziehungen zwischen der alten Jagiellonen-Hauptstadt und der nahen, heute zur Ukraine gehörenden Metropolitanstadt Lemberg gewidmete Konferenz statt. Die Überschrift der Begegnung „Krakau – Lemberg – Europa“ schien im ersten Augenblick zu anspruchsvoll. Aber vielleicht traf sie den Kern der Sache, denn die für die Konferenz wichtigste Frage – die Erinnerung, auch jene an die massenhaften Zwangswanderungen der jüngsten Geschichte – wird ja vor unseren Augen zu einem der wichtigsten Werte (wenn nicht überhaupt zur einzigen Qualität), um die herum heute die europäische Identität errichtet wird. Diesen Wert schien einer der ukrainischen Diskussionsteilnehmer zu bestätigen. Er stellte fest, dass – paradoxerweise – die polnische Lemberg-Nostalgie, wie sie immer noch in der Kultur gegenwärtig sei, kein gefährliches oder in der Ukraine ungern gesehenes Thema sein muss, sofern nur die gegenwärtigen Bewohner dieser Stadt, die zumeist aus der Tiefe des Landes kommen, in die Geschichte Lembergs hineinschreiben, wie sie dorthin gelangt sind, also wie ihre eigene Migration aussah. Dadurch wird eine wirkliche Stabilisierung nach der tragischen „Völkerwanderung“ des 20. Jahrhunderts möglich werden.

Neue Situation nach 1989

So wurde also der alte Migrations-Mythos durch einen neuen, auf die Zukunft gerichteten, aber mit der Vergangenheit verbundenen ersetzt. Wie er noch bis vor kurzem ein über die Grenzen Polens hinausgetragener Entwurf für nationale Freiheit war, so wird er jetzt Teil eines Diskurses über Erinnerung und Vergebung, eines Diskurses, der die neue europäische Struktur errichten soll. Zeichen dieser Veränderung ist die polnisch-deutsche Debatte über den Ort, an dem das „Zentrum gegen Vertreibungen“ entstehen solle, damit es einen übernationalen Charakter gewinnt.

Dennoch dauern die Migrationen – wenn auch von anderem Typus – weiter an. Nach 1989 haben die Ausreisen aus Polen einen fast ausschließlich wirtschaftlichen Charakter und umfassen in der Hauptsache den am schlechtesten ausgebildeten Teil der Gesellschaft. Viel seltener bedeuten sie die feste Ansiedlung in der neuen Heimat (wenngleich neben den traditionellen Wanderungszielen, wie USA, Deutschland, Kanada und Frankreich, neue Ziele auftauchen, z. B. Norwegen oder Island). Für gewöhnlich haben wir es mit „Wanderern zwischen den Welten“ zu tun, die im Ausland eine Saisonarbeit suchen, aber regelmäßig nach Hause zurückkehren. Anfang der neunziger Jahre hielten sich beispielsweise in der Gemeinde Perlejewo im ostpolnischen Podlasien auf diese Weise über 60 % der Haushalte über Wasser. In der Stadt Nowy Targ am Fuße der Tatra, einer Stadt, die seit Generationen für Abwanderungen in die USA bekannt ist, taten dies 45 %.

Die „Wanderer zwischen den Welten“, die sich aus zurückgebliebenen Gebieten rekrutieren, aus Milieus stammen, die abseits der Hauptströmung gesellschaftlicher Aktivität liegen, haben das Bild der Emigration verändert (auch, vielleicht sogar vor allem, in Polen): sie wurden nicht mehr als politische Flüchtlinge (Helden) angesehen, sondern mehr und mehr als Bedrohung oder Grund zur Scham. Gleichzeitig verändert sich die Form der Emigration, die in immer geringerem Maße den Charakter der typischen „Auslandspolen“ – der so genannten „Polonia“ – trägt, wie man sie seit langem kannte: einerseits assimiliert man sich leichter dem neuen Milieu, man gliedert sich ungezwungen in den multiethnischen Kreislauf der modernen Kultur ein, verliert jedoch zugleich die außergewöhnliche Bedeutung für die nationale Kultur; andererseits unterhält man – im Gegensatz zur Zeit des Kommunismus – lebendigere und natürlichere Beziehungen zum polnischen Staat (ein Symbol dessen könnten die Vorwahlbesuche der Präsidentschaftskandidaten der Republik Polen im Ausland sein).

Am wichtigsten ist jedoch, dass Polen – obwohl es ein „Entsende“-Land bleibt – gleichzeitig zu einem „Aufnahme“-Land geworden ist. Neben den Zuwanderern, die nach Polen kommen, um Geld zu verdienen, gelangen in dieses Land auch politische Immigranten sowie „Transit“-Migranten, die Polen als Sprungbrett nach Westen betrachten.

Zuwanderung nach Polen steigt

Wie die Statistiken zeigen, ist die Zahl der Ausländer, die sich um eine Daueraufenthaltsgenehmigung für Polen bemühen, ständig im Wachsen: Im Jahre 1993 stellten sie 19,5 % der Antragsteller dar, im Jahre 1995 bereits 30,3 %. Unter ihnen dominieren Ankömmlinge aus Russland, aus der Ukraine, aus Belarus, aus Bulgarien, China und Vietnam. In unserem Lande tauchen auch die sogenannten „Marriott-Brigaden“ auf (benannt nach einem der besten Warschauer Hotels), d. h. Vertreter internationaler Körperschaften, die aus dem Westen mit dem Auftrag hierher kommen, in Polen Filialen zu gründen. Warschau – und langsam auch andere größere Städte Polens – beginnen, an multiethnische Metropolen Europas zu erinnern.

Die Statistiken bestätigen, dass ein bedeutender Teil der Personen, die sich hier aus diesen oder jenen Gründen niederlassen wollen, ein wertvolles „Human-Kapital“ darstellt (sie verfügen über Oberschul- oder Hochschulausbildung). Dieses „Kapital“ kann in gewisser Weise den Verlust ausgleichen, den der Massenexodus der Intelligenz Ende der sechziger und in den achtziger Jahren bewirkt hat.

Es stellt sich die Frage: Kann im Zusammenhang mit all diesen Veränderungen ein neuer romantischer Mythos der Migration entstehen? Vielleicht wird er (zum ersten Mal seit 200 Jahren) nicht mehr nötig sein. Und vielleicht kann in der Situation einer zweifellosen Krise der polnischen Identität (hervorgerufen durch die allgemeine Krise, durch das Gefühl von Angst und Unsicherheit in der neuen ökonomischen Situation, durch die politische Instabilität) der neue – diesmal die Immigration betreffende – Mythos es paradoxerweise gestatten, diese Identität wiederzugewinnen. Denn er wird einen unmittelbaren Bezug zur Jagiellonischen Tradition darstellen, auf die sich heute die polnischen Intellektuellen berufen, wenn sie an die damals in Polen einwandernden und das im 15. und 16. Jahrhundert bestehende polnische „Goldene Zeitalter“ mitgestaltenden Italiener, Deutschen, Juden, Griechen oder Armenier erinnern ...

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.