Staat – Region – Kontinent

Wie die Slowakei mitten in Europa ihre Identität sucht
aus OWEP 4/2003  •  von Karin Bachmann

Karin Bachmann ist als freie Journalistin tätig und lebt in Bratislava.

Es wird der große Tag der Slowaken werden, dessen sind sich in der Heimat alle sicher. „Wir gehen das erste Mal als Favoriten ins Spiel. Die Goldjungs können es packen“, verkünden die einschlägigen Gazetten im Vorfeld des bedeutsamen Matches. Tatsächlich schaffen die Eishockey-Weltmeister des Jahres 2002 beim diesjährigen Championat in Helsinki gegen Tschechien im Achtelfinale gerade einmal ein 3:3.

Die Mannschaft, die in der Vorgruppe auch einen starken Gegner wie Finnland mühelos bezwungen hat, ist wie ausgewechselt, allen voran der legendäre Peter Bondra, der sein Team im Jahr zuvor gegen die Russen noch zur Goldmedaille geschossen hat. Die Tschechen müssen nicht einmal viel tun, sie flitzen zum gegnerischen Tor, wie und wann sie wollen – und scheitern lediglich an einem exzellenten Torhüter, ohne den die Slowaken heute hoffnungslos untergehen würden. Der Rest des slowakischen Teams lässt ihnen nahezu freien Lauf. Kurz vor Schluss vergibt Miroslav Šatan für die Slowaken zu allem Überfluss auch noch einen eigentlich todsicheren Treffer.

Unterm Strich steht ein Remis, doch de facto hat die Angst gesiegt. Angst vor einem Gegner, den die slowakischen Spieler einfach nicht aus dem Hinterkopf verdrängen können: den Tschechen. Die Ratlosigkeit nach diesem Match ist groß, fast so wie vor einem Jahr, als die Slowaken bei der Weltmeisterschaft am Ende ganz oben standen. Mit dem feinen Unterschied, dass sie inzwischen eigentlich um ihre eigene Stärke wissen sollten. Damals in Göteborg konnten die jungen Männer kaum begreifen, warum ausgerechnet sie, die im Jahr zuvor den Tschechen im Finale unterlegen waren, auf einmal doch Gold holen konnten. Heuer in Helsinki hat ein Spielmacher Peter Bondra Mühe zu erklären, warum es nicht in erster Linie mit mangelnden spielerischen Qualitäten zu tun hat, wenn sich sein Team ausgerechnet bei einem ganz entscheidenden Match förmlich überrennen lässt. Von Angst will natürlich niemand etwas hören daheim. Daheim – in einer von Männern dominierten Gesellschaft, wo Versagen nur schwer verziehen wird.

Dieser Ausflug in den Sport mag westliche Leser zunächst befremden in einem Artikel, in dem es um die Identitätssuche der Menschen in einem der jüngsten europäischen Staaten gehen soll. Doch in einem Staat, der 1993 vom Ausland nahezu unbemerkt in die Eigenständigkeit rutschte und in dem sich die meisten Menschen wegen eines allzu schmalen Geldbeutels ihre Sehnsucht nach Abwechslung vom grauen Alltag vor allem in heimischen Sportstätten erfüllen, hat ein Begriff, der zugegebenermaßen bei Deutschen nur die Erinnerung an die Auseinandersetzung zweier Gesellschaftssysteme zu Zeiten des Eisernen Vorhangs weckt, nämlich die Rede von „Botschaftern in Trainingsanzügen“, durchaus noch Gewicht. Die Eishockeyspieler spielen dabei eine ganz besondere Rolle. „Ich war so froh, als mich vor kurzem jemand am Wiener Flughafen fragte, ob das der Žigmund Pálffy aus der Slowakei sei, der gerade einchecke. Seit dem WM-Erfolg vom vergangenen Jahr weiß man auch im Ausland, dass Žigo und die anderen nicht aus Tschechien oder Slowenien, sondern eben aus der Slowakei kommen und dass das ein eigenes Land ist“, erzählt Zora Csorborová, die Lebensgefährtin des Eishockey-Asses. Der Hinweis auf die ständigen Verwechslungen zwischen Slowenien und Slowakei hat übrigens vor allem mit der Ähnlichkeit der Ländernamen zu tun. Bei dem auf Tschechien ist auch eine gewisse Verärgerung über vermeintliche Anmaßungen der Nachbarn mit im Spiel. „Die Tschechen tun heute so, als hätten sie alle ihre Erfolge vor 1993 ohne slowakische Asse errungen – und unsere guten Leute von damals haben Mühe, dass ihre Leistungen nicht unter den Tisch gekehrt werden.“

Als sich die frühere Tschechoslowakei am 01.01.1993 in die beiden unabhängigen Staaten Slowakei und Tschechien spaltete, wollte laut Umfragen ein Großteil der Slowaken nicht eigenständig sein. Mehr als 70 % der Bevölkerung hätten damals gern das Goldene Prag als Hauptstadt und den Dichterpräsidenten Václav Havel als Staatsoberhaupt behalten. Dagegen schien es, dass das Bedauern der Tschechen über den Verlust des „Armenhauses Slowakei“ ungleich geringer war, auch wenn Havel nicht müde wurde, öffentlich für den Erhalt der Föderation von Tschechen und Slowaken zu plädieren.

Heute scheinen sich die Verhältnisse fast umgekehrt zu haben. Um den Jahreswechsel waren in Prag viele Ausstellungen zu sehen, die an die Höhepunkte einer gemeinsamen tschechoslowakischen Kultur zwischen 1918 und 1992 erinnern sollten. In der Slowakei schien dagegen eher der Stolz darüber zu dominieren, es entgegen allen Unkenrufen doch geschafft zu haben, als eigener Staat zu bestehen. Trotzdem gehören die Slowaken sicher zu den engagiertesten Verfechtern einer Region Mitteleuropa, von der sie sich eine deutliche Stärkung ihrer Position und eine deutliche Abgrenzung zu den wesentlich ärmeren Nachbarstaaten weiter östlich erhoffen. Zur Erinnerung: Der Begriff hatte zu Zeiten des Eisernen Vorhangs keinen Raum, seit den stürmischen Veränderungen im ehemaligen Ostblock erlebt er jedoch eine wahre Blüte. Jiří Pehe, Rektor der New York University in Prag, rief bei einem Kongress über mitteleuropäische Identität im Herbst vergangenen Jahres in Bratislava wahre Begeisterungsstürme hervor, als er die Vision von Mitteleuropa als stärkster Region in der künftigen Europäischen Union entwarf.

Das noch nicht all zu stark ausgeprägte Selbstbewusstsein der Slowaken wurde in den vergangenen fünf Jahren seit dem Antritt von Mikulaš Dzurinda als Premier deutlich befördert. Dzurinda schaffte es nicht nur, die Slowakei nach der Abwahl des Regimes von Vladimír Mečiar erstmals international hoffähig zu machen, sondern trieb auch die durchgreifende Reform des Landes voran, dank derer sich die Slowakei seit dem Jahr 2000, vom Ausland nahezu unerwartet, in der ersten Reihe der EU-Beitrittskandidaten findet. Das ist wichtig nicht nur für den in Zukunft zu erwartenden wirtschaftlichen Aufschwung der Slowakei. Es bedeutet auch, dass ein Kernelement des slowakischen Selbstverständnisses allmählich bröckelt: die Gewissheit, aus eigener Kraft nichts ausrichten zu können, was Außenstehende begeistern könnte, weil doch immer andere über die Slowaken herrschten bzw. Vladimír Mečiar als erster Regierungschef der heutigen Slowakei im Ausland nicht wohl gelitten war. Zuerst waren es die Ungarn, später die Tschechen, und bis heute haben die Slowaken ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem von 1939 bis 1944 existierenden Satellitenstaat von Hitlers Gnaden unter Jozef Tiso. Die Slowaken könnten aber mit Fug und Recht Stolz aus der Nachkriegszeit schöpfen. Denn der Mann, der 1968 die durchgreifendsten Veränderungen in der früheren ČSSR anstoßen wollte, war einer von ihnen: Alexander Dubček. Allerdings: Dubček scheiterte schon nach sehr kurzer Zeit, und seine Größe entfaltete sich vor allem in Prag. Vielleicht ist er deshalb in Bratislava viel weniger präsent als etwa die beiden Kodifikatoren der slowakischen Sprache, Anton Bernolák und Ludovit Štúr, selbst wenn der slowakische Rundfunk anlässlich seines zehnten Todestags im vergangenen Jahr mehrere längere Features brachte und der Platz zwischen Nationalrat und Burg nach ihm benannt ist.

Das Gefühl, über Jahre, vielleicht sogar über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg etwas verloren zu haben, wird noch lange eine Grundbefindlichkeit der Gesellschaft sein. Zu sehr lecken die Slowaken noch die Wunden ihrer Vergangenheit. Wobei das, was die Menschen glauben verloren zu haben und noch zu verlieren, nicht immer dasselbe war und ist. Bemerkenswerterweise streifen die Verlustängste, heute übrigens im Zuge des Beitritts zur Europäischen Union, wieder das, was die Slowaken schon gleich zu Beginn ihrer Geschichte verloren haben: ihre Eigenständigkeit.

Eines der Hauptargumente der Gegner eines EU-Beitritts der Slowakei lautet, dass das Land damit nach einem über tausendjährigen Ringen um eine territoriale Existenz wieder seine Souveränität verlieren werde, nachdem es gerade erst einmal ein gutes Jahrzehnt selbstständig war. Wer in den Geschichtsbüchern ab dem 9. Jahrhundert nach slowakischen Spuren sucht, tut sich schwer. Die Slowaken selbst sehen ihre Ursprünge im Großmährischen Reich. Aber es findet sich ganz anders als etwa für die heutigen Polen in den Quellen kaum ein Hinweis auf einen Stamm, der den Slowaken ausdrücklich Vorfahre gewesen sein könnte. So sind die Slowaken zwar gewiss, auf eine lange Geschichte zurückblicken zu können. Es bereitet ihnen allerdings erhebliche Schwierigkeiten, diese durchweg genau zu identifizieren. Zu lange sind sie vielleicht daran gewöhnt, nicht ausdrücklich erwähnt zu werden. Ein gutes Beispiel dafür lieferte die Ausstellung „Die Mitte Europas um das Jahr 1000“, die in ganz Mitteleuropa und auch in Bratislava zu sehen war. Die slowakische Hauptstadt war allerdings nicht von vornherein als Station eingeplant; erst sehr spät fiel den Verantwortlichen dort ein, dass die Exposition auch etwas mit dem Staat im Herzen des Kontinents zu tun haben könnte.

Ein Seminar deutscher Lektoren im vergangenen Herbst über die Bedeutung des Vereinten Europa für junge Bürger in den Beitrittsstaaten, an dem Studierende aus Tschechien, Ungarn und der Slowakei teilnahmen, förderte ebenfalls Erstaunliches zutage. Die slowakischen Teilnehmer hatten die Ausstellung durchweg schon besucht, wurden aber erst durch ausdrückliches Befragen ihrer Lektoren darauf aufmerksam, dass die Slowaken in den Begleittexten zu den Exponaten kaum erwähnt wurden.

Ein weiteres Beispiel für die erst allmählich einsetzende und auf den westlichen Betrachter möglicherweise sogar zunächst gewollt wirkende Suche der Slowaken nach Spuren in der Geschichte: Kamil Sládek, Leiter des Zentrums für Europäische Politik in Bratislava und von Haus aus Historiker, lud zum 500. Geburtstag des Habsburgerkaisers Ferdinand I. am 10. März 2003 Kollegen aus der Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn und Österreich zu einem dreitägigen Kongress nach Smolenice ein. Die Fachbesucher aus dem Westen erstaunte dabei schon der Anlass des Kongresses, gilt Ferdinand I. doch neben seinem Bruder Karl V. als blässliche und oft zu vernachlässigende Gestalt. Am Ende stand jedoch die Erkenntnis, dass Ferdinand I. ein großer Förderer gerade der kleineren Völker im Osten der Habsburgermonarchie war und somit den jahrhundertelangen Zusammenhalt des Riesenreiches beförderte.

Der Mangel eines Bewusstseins für die ausdrückliche Erwähnung des eigenen Volkes mag damit zusammenhängen, dass die Bezeichnung „slowakisch“ beispielsweise im Tschechischen ursprünglich „slawisch“ meinte. Die Grenzen zwischen den „Slawen“ im allgemeinen und den „Slowaken“ im besonderen wurden damit über Jahrhunderte verwischt. Wir sind damit bei einem weiteren merkwürdigen Paradoxon im Selbstverständnis der Slowaken angelangt, das vor allem über ihr eigenwilliges Verhältnis zur Muttersprache begreifbar wird. Einerseits geben sie sich im Gespräch sehr häufig noch sonderbar bescheiden, was die Überlebensfähigkeit ihres Staates in der Familie Europa angeht. Andererseits legen sie Wert darauf, dass ihre Sprache eine Art „Esperanto der Slawen“ ist, und wirken mit dieser Feststellung wiederum sonderbar raumgreifend.

Nicht zu Unrecht sind die Slowaken glücklich darüber, sich außerhalb ihres Landes auch in Tschechien, Polen, Kroatien, der Ukraine, Weißrussland und Russland ohne große Mühen verständlich machen zu können. Aber Kosmopoliten sind sie deshalb noch lange nicht. Dem Eindruck von Weltverbundenheit wirken sie genau dann entgegen, wenn sie bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit betonen, dass ihre Sprache außerordentlich schwer und daher kaum zu erlernen sei. Hierin unterscheiden sie sich von den Rumänen, die dank ihrer Muttersprache ebenfalls in einem Großteil des Kontinents kaum Verständigungsprobleme haben, aber wegen ihrer längeren Tradition als Staatsvolk deutlich selbstbewusster sind.

Das Gebiet der heutigen Slowakei ist von je her wegen seiner Lage inmitten Europas Durchgangsstation für viele Nationen. Heute leben die Slowaken hier mit neun nationalen Minderheiten friedlich miteinander. Im übrigen sind die Slowaken sicher neben den Iren eines der Völker in Europa, das sich am weitläufigsten in der Welt verteilt hat. So haben bis heute sehr viele slowakische Familien Verwandte in den USA, deren Vorfahren vor allem in den zwanziger Jahren auswanderten.

Im Zusammenhang mit dem anstehenden EU-Beitritt hat sich die Lage für viele Minderheiten in der Slowakei verbessert; das Land könnte so ein Musterbeispiel für Toleranz werden. Aber noch besteht Nachholbedarf. So rügt die EU-Kommission regelmäßig die Situation der Roma in der Slowakei. Dieses Problem ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Bisher besteht keine Einigkeit darüber, wie mit den Roma umzugehen ist. Führende Roma-Vertreter betrachten die missliche Lage dieser Minderheit in der Slowakei als „politisches Problem“ und werfen der Regierung Untätigkeit vor darin, dass sie etwa der Roma-Beauftragten keine Kompetenzen einräume. Viliam Figusch, Leiter des Europarats-Büros in der Slowakei, betrachtet die Schwierigkeiten der Roma vor allem als „soziales Problem“, das sich nur auf lange Sicht mit viel Geld und Geduld bei der Ausbildung der Roma lösen lasse. Die EU-Kommission selbst ordnet Berichte über die Situation der Roma wieder dem Thema „Minderheiten“ zu. Solange derartige fundamentale Differenzen bestehen, dürfte sich an der Lage der Roma in der Slowakei nicht viel ändern.

Wesentlich engagierter als die Roma-Frage verfolgt die slowakische Öffentlichkeit Auseinandersetzungen mit der ungarischen Minderheit im eigenen Land und mit den ungarischen Nachbarn. Während das Verhältnis der Slowaken zu den Tschechen auch seit 1993 durchweg freundlich ist, gibt es in den Beziehungen zum südlichen Nachbarn immer wieder Spannungen. Das gängigste Vorurteil der Ungarn über die Slowaken lautet, dass diese Slowaken nicht einmal eine wohlklingende Sprache hätten. Manche Slowaken wiederum neigen dazu zu behaupten, dass Ungarn Slowaken niemals ernst nähmen und nur auf eine passende Gelegenheit warteten, ihr Staatsgebiet wieder zu vergrößern. So war mit Beginn der Eigenständigkeit der Slowakei der Boden dafür bereitet, dass die Position der Ungarn unter dem Mečiar-Regime deutlich geschwächt wurde. Die Gebietsreform von 1996 ordnete die mehrheitlich von Ungarn bewohnte Region durch neue Grenzziehungen verschiedenen Verwaltungseinheiten zu, sodass die Ungarn in keiner Einheit mehr als 30 % stellten und daher ihre bisherigen Sonderrechte in den Selbstverwaltungsorganen verloren. 1995 wurde Slowakisch zur einzigen Amtssprache erhoben, der öffentliche Gebrauch der Minderheitensprache wurde unter Strafandrohung eingeschränkt. Erst seit 1999 gibt es wieder eine liberale Sprachenregelung für die Ungarn. Für Unstimmigkeiten sorgte zuletzt die Auseinandersetzung zwischen der Slowakei und Ungarn um einen Gesetzentwurf, der die Situation der Ungarn im Ausland verbessern sollte. Dieser wurde von der Regierung Dzurinda als diskriminierend gegenüber den Slowaken empfunden und letztlich von den Verantwortlichen in Budapest zurückgezogen.

Im Verhältnis Slowakei-Ungarn richten sich alle Augen derzeit auf die Stadt Komarno/Komarom, die zwischen beiden Staaten geteilt ist. Dort entsteht eine Universität, an der vor allem Slowaken und Ungarn gemeinsam studieren sollen. Derzeit ist aber noch völlig offen, welche Sprachregelung für den Vorlesungsbetrieb gelten soll. Aus Ungarn ist zu hören, dass die Studierenden nicht gewillt seien, wegen ihres Studiums Slowakisch zu lernen.


Literaturhinweise:

  • Alner, Juraj: Jánošik und Kafka, in: Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa, H. 1/2001, S. 48-55.

  • Pynsent, Robert P.: What about the Slovaks, in: Scepticism and Hope. Sixteen Contemporary Slovak Essays, hrsg. v. Miro Kollar, Bratislava 1999, S. 9-25.

  • Zajac, Peter: The Language of the Time. Ten Years after, in: Scepticism and Hope. Sixteen Contemporary Slovak Essays, hrsg. v. Miro Kollar, Bratislava 1999, S. 289-303.