Anmerkungen zu einer Nachbarschaft: Polen und Belarus

aus OWEP 2/2004  •  von

Der Verfasser, Jahrgang 1964, Historiker und Journalist, lebt in Warschau.

Gegen Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts machten sich die Polen klar, dass die scheinbar unzerstörbare UdSSR bald auseinander fallen könnte. Deshalb kam in Kreisen der Opposition Interesse für unsere östlichen Nachbarn auf: für Belarus (Weißrussland), für Litauen und die Ukraine. Die polnischen Oppositionellen hatten viel bessere Kontakte zu sowjetischen Dissidenten als z. B. die entsprechenden Kreise in der DDR. Es gibt viele Beispiele dafür, dass die damals geknüpften Freundschaften die politischen Diskussionen der Polen mit Weißrussen, Ukrainern oder Litauern, ja sogar die Regelung verschiedener diplomatischer Fragen im Verkehr mit den neuen Staaten nach 1989 sehr erleichterten. Das hatte auch andere Folgen, wie etwa die relativ große Zahl von Publikationen über diese Länder in polnischen Zeitungen oder die von Historikern betriebenen Untersuchungen der gemeinsamen – näheren wie ferneren – Vergangenheit. Dieser schöpferische Zeitabschnitt in den Beziehungen Polens zu seinen östlichen Nachbarn kam Mitte der neunziger Jahre zu einem Ende. In der Außenpolitik waren die polnischen Eliten, mochten sie postkommunistisch sein oder sich von der Solidarność-Bewegung herleiten, auf die europäische und euroatlantische Integration eingestellt. Gleichzeitig gewann Russland langsam seine Vitalität zurück und begann, seine Position gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken zu festigen. Und im Falle des für diese Pressionsversuche besonders anfälligen 10 Millionen Menschen zählenden Weißrusslands kam noch hinzu, dass das autoritäre Regime des Hitler-Verehrers Alexander Lukaschenko die Beziehungen zu Polen deutlich einschränkte, obwohl in Belarus etwa 400.000 Polen leben. Belarus ist heute das wohl einzige europäische Land, wo in Staatsdruckereien die „Protokolle der Weisen von Zion“ verlegt werden, eine Anfang des 20. Jahrhunderts von der zaristischen Geheimpolizei hergestellte Fälschung über eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Dieses antisemitische Pamphlet wird sonst nur in arabischen Ländern offen vertrieben.

Eine undramatische Geschichte

Obwohl es im Laufe der letzten Jahrhunderte in den polnisch-weißrussischen Beziehungen zu heftigen Konflikten kam, waren diese Beziehungen nie so schlecht wie jene zwischen den Polen und anderen Nachbarn: den Deutschen, Russen oder Ukrainern.

Die weißrussischen Patrioten erinnern sich noch heute daran, dass sich die Mehrheit des weißrussischen Adels bis zum Ende der großen polnisch-litauischen Republik (1795) polonisiert hatte. Wenngleich die Vertreter dieses Standes sich damals Litauer nannten (abgeleitet vom Großfürstentum Litauen, also dem so genannten historischen Litauen, dem territorial etwa das heutige Weißrussland entspricht), so dachten sie doch in den politischen Kategorien der Republik, ähnlich wie die Schlachta im ethnischen Polen. Nach den Teilungen Polens unternahmen die Behörden des zaristischen Russlands auf dem Gebiet der heutigen Belarus eine Reihe harter antipolnischer Schritte wie die Beschlagnahme polnischen Grundbesitzes und die vollständige Russifizierung des öffentlichen Lebens. Darüber hinaus entstand eine Ideologie des „Sapadnorusism“ – des Westrussentums. Diese Ideologie kam der zaristischen Doktrin eines großen russischen Volkes nahe, das gebildet werden sollte aus Großrussen, Kleinrussen (Ukrainern) und eben den als Westrussen bezeichneten Weißrussen. In dieser Konstruktion war das Weißrussentum ein russischer Regionalismus, ein Element des „Russischen“ als eines weit gefassten religiös-kulturellen und nationalen Kollektivs. Ein Experte für die Geschichte von Belarus, Prof. Dr. Eugeniusz Mironowicz, betont nicht ohne Grund, dass „die Theorie vom Westrussentum dafür entscheidend war, dass die weißrussische Idee vom psychologisch-kulturellen polnischen Kontext gelöst wurde“. Diese Feststellung ist wichtig, weil auch heute eine besondere Art von Sapadnorusism – nur jetzt ein postsowjetischer – Hauptelement in der staatlichen Propaganda der Republik Belarus ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg konnten die Weißrussen – anders als die Polen – keine Unabhängigkeit erringen, vielmehr wurde Belarus zum Objekt der Rivalität zwischen Polen und dem bolschewistischen Russland. Ein Effekt dieser Rivalität war der Vertrag von Riga (1921), in dessen Folge das Land in zwei Teile gespalten wurde: in einen polnischen Teil und in die – von den Bolschewiki regierte – Bjelorussische Sozialistische Sowjetrepublik. Die weißrussischen Patrioten haben diesen Vertrag nicht selten mit den im 18. Jahrhundert von Russland, Preußen und Österreich verursachten Teilungen Polens verglichen. Im unabhängigen Polen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts versuchten die Weißrussen eine Irredenta-Politik, unter nationalen Fahnen, vor allem aber unter kommunistischem Vorzeichen. Es war paradoxerweise Josef Stalin, der diese zweite Irredenta zu ersticken half. Die sowjetische Innenpolitik Ende der zwanziger Jahre, die Zerschlagung der nationalen Eliten in der Ukraine und in Weißrussland und auch die Millionen Opfer fordernde Kollektivierung der Landwirtschaft in der UdSSR bewirkten, dass die Sympathien in Polen lebender Weißrussen für die UdSSR deutlich abkühlten.

Es sollte daran erinnert werden, dass die sowjetischen Behörden Ende der dreißiger Jahre beschlossen, das polnische Element in Weißrussland zu vernichten. Aus offiziellen sowjetischen Quellen ergibt sich, dass 1937 in der Bjelorussischen Sowjetrepublik fast 120.000 Polen lebten, zwei Jahre später aber nur noch etwas über 58.000. Mehr als 60.000 waren ermordet oder nach Kasachstan und Sibirien verschleppt worden. Am 1. September 1939 griff Hitler Polen an, am 17. September folgte ihm Stalin (was eine Konsequenz des Ribbentrop-Molotow-Paktes vom 23. August 1939 war). In sowjetischer Zeit wurde der 17. September sowohl in der weißrussischen Hauptstadt Minsk als auch in Kiew als „Jahrestag der Vereinigung“ des östlichen mit dem westlichen Weißrussland (bzw. der Ukraine) gefeiert. 1999 kündigten der Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, ebenso wie der weißrussische Führer Alexander Lukaschenko an, dass der Jahrestag gefeiert werde. Unter dem Druck der polnischen Diplomatie rückte der Ukrainer Kutschma davon ab. Doch die Behörden von Belarus feierten den 60. Jahrestag der unter Stalin erfolgten Wiedervereinigung. Noch immer tragen viele Straßen in weißrussischen Städten den Namen des „17. September“, es gibt ebenso Kolchosen mit diesem Namen usw. Das ist so, als ob man in Deutschland den 1. September als Anfang eines siegreichen Krieges gegen Polen feierte ...

Während des Zweiten Weltkriegesgabe es in dem – von Deutschland okkupierten – Weißrussland den gleichen politischen Mechanismus wie in Wolhynien oderin Galizien. Die Deutschen wurden mehrfach zum Schiedsrichter im Kampf des polnischen Untergrundstaates gegen weißrussische nationale Aktivisten oder gegen sowjetische Partisaneneinheiten. Die Intensität der Konflikte wurde meistens nach den aktuellen Bedürfnissen der deutschen Besatzungsbehörden reguliert. Nur die Proportionen waren andere, denn die polnisch-weißrussischen nationalen Konflikte erreichten nie das Niveau des Völkermordes – anders als es im benachbarten Wolhynien geschah, wo nach geschätzten Angaben etwa 50.000 bis 60.000 Polen und (bei polnischen Vergeltungsaktionen) über 10.000 Ukrainer getötet wurden.)

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden – abgesehen von zwei Repatriierungswellen (1945-47, 1956-58), als fast eine Million Polen aus Weißrussland nach Polen ausreiste – die polnisch-weißrussischen Beziehungen im gesellschaftlichen Bereich fast bis zum Ende der achtziger Jahre „eingefroren“. Im Bewusstsein der meisten Polen existierte Weißrussland gar nicht, es gab nur die UdSSR. Von allen, die im Osten lebten, sprachen die Polen als von den „Ruskis“ oder von den Sowjets.

Katholiken in der orthodoxen Zivilisation

Die katholische Kirche, die im sowjetischen Teil Weißrusslands nicht völlig liquidiert worden war, konnte sich nach dem Zerfall der UdSSR erst richtig entfalten. Heute gibt es eine weißrussische Bischofskonferenz, die Kirchenprovinz Minsk-Mogilew, die Diözesen Pinsk, Grodno und Witebsk. Die katholische Kirche hat dort über 400 Pfarreien und zwei höhere Geistliche Seminare. Die dominierende Weißrussische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die 10 Eparchien (Diözesen) hat, wird von der Regierung unterstützt. Das 2002 eingeführte Konfessionsgesetz unterstreicht formell den vorrangigen Status der orthodoxen Kirche, wobei es ihr „die geistliche Rolle in der Geschichte und in der spirituellen und kulturellen Entwicklung des weißrussischen Volkes“ zuerkennt. Trotzdem sind die katholisch-orthodoxen Beziehungen korrekt. Wenngleich es nicht viele Beispiele für ökumenische Zusammenarbeit gibt, so muss man doch zugeben, dass die orthodoxen Bischöfe aus Belarus nie solche Signale von einer angeblichen Bedrohung der Orthodoxie durch den Katholizismus in die Welt gesandt haben, wie dies der Patriarch von Moskau und ganz Russland, Alexij II., tat. Das bedeutet nicht, dass es in Zukunft keine Probleme geben könnte. In Russland wie auch in der Ukraine und in Belarus existiert so etwas wie eine orthodoxe Zivilisation. In diesen Ländern deklariert sich ein bedeutender Teil der Orthodoxen als „Nichtglaubende“ oder „Unentschiedene“. Formulierungen wie „orthodoxer Atheist“ oder „orthodoxer Nichtglaubender“, das sind – so möchte es scheinen – offensichtliche Begriffsabsurditäten. Ein Kenner des Problems, Prof. Dr. Włodzimierz Pawluczuk, erklärt das folgendermaßen: „Die Orthodoxie ist nicht nur Religion, sondern sie ist auch ein Kulturtypus und Kern einer bestimmten, gesonderten Zivilisation. Als bytowoje christianstwo (deutsch etwa: Alltagschristentum) bezeichnen manche russischen Denker die Orthodoxie. Ein Christentum, dessen Wesen nicht im Glaubensdogma, sondern im Dasein, in der Existenz liegt: in den Sitten, in den Lebenspräferenzen und -werten, in der Art und Weise, wie man Sinnhaftes erspürt, im Charakter der Gemeinschaft, in der Landschaft, im Verhältnis zur Natur, zur Welt, zur Poesie, in der Art des Daseins ... Wir haben es ganz einfach mit einem anderen Typus des Verhältnisses zwischen Religion und Kultur zu tun ... Der größte Teil der Menschheitsgeschichte ist durch eine Einheit von Religion und Kultur gekennzeichnet ... Die Autonomie der Religion gegenüber dem Ethnos und der Politik ist eine Erfindung der Zivilisation des Westens und tritt außerhalb von ihr nirgendwo zutage.“ Mit anderen Worten, der Atheist kann gleichzeitig Orthodoxer ... im Sinne der Zivilisation sein. Wenn also der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, sich als „orthodoxer Atheist“ darstellt, verstehen die Menschen in Polen nicht, worum es geht. In seinem Land ist das eine wesentliche ideologisch-politische Deklaration, aus der sich wichtige Konsequenzen ergeben – vor allem eine enge Zusammenarbeit mit Russland, aber z. B. auch (früher) die Unterstützung für den Diktator Serbiens, Slobodan Milošević. Demnach muss der gegenwärtige interkonfessionelle Friede nicht ewig dauern, die Lage in Weißrussland ist auf religiösem Gebiet nicht vorausschaubar, und der Schlüssel zu dieser Situation liegt in Moskau, d. h. nicht in der Hand der weißrussischen orthodoxen Hierarchie.

Exaktheit und Chronistenpflicht verlangen es auch, die – zum Glück vergangenen – polnisch-weißrussischen Konflikte vor dem Hintergrund der katholischen Liturgiesprache zu erwähnen. Anfang der neunziger Jahre forderten sowohl der Bund der Polen in Belarus als auch die Weißrussische Nationale Front von der katholischen Kirche das gleiche, nämlich die Feier der hl. Messe auf Polnisch bzw. auf Weißrussisch. Beide entnationalisierten und von den Sowjets russifizierten Ethnien wollten, dass die Kirche ihnen die Schulen und Kulturzentren ersetze. Zum Glück ging der Episkopat von Belarus nicht auf ein solches Konzept ein, dass nämlich die katholische Kirche ein Vorposten im Dienste der Schule (ganz gleich ob der polnischen oder der weißrussischen) sein solle. Jetzt ist es in den meisten Pfarreien so, dass die hl. Messen auf Polnisch, Weißrussisch und Russisch gefeiert werden, und ebenso wird religiöse Literatur in diesen drei Sprachen herausgegeben. Also hat die katholische Kirche in Belarus – dank ihrer Besonnenheit – diesen potenziellen Konflikt löschen können. Man muss jedoch sagen, dass die Katholiken in Polen in ihrer Masse nicht viel über ihre Glaubensgenossen in Belarus wissen. Vielleicht hätte sich das geändert, wenn Johannes Paul II. dieses Land besucht hätte. Anlässlich der 2001 erfolgten Pilgerreise des Papstes in die Ukraine erschienen zahlreiche Publikationen über die Ukraine, über den dortigen Katholizismus, über die Unierten und die Orthodoxie. Die Behörden der Republik Belarus haben jedoch, dem Beispiel Russlands folgend, bisher einem Besuch des Papstes nicht zugestimmt, obwohl sich der Metropolit von Minsk-Mogilew, Kardinal Kazimierz Świątek, mindestens seit 1998 darum bemüht.

Unsichere Meinungsforschungen

Obwohl die Bestimmung der polnisch-weißrussischen Sympathien und Antipathien mit Hilfe soziologischer Forschungen schwierig und trügerisch sein kann, entwickeln sie sich doch scheinbar zum Guten hin. Aus einer Untersuchung des polnischen Zentrums zur Erforschung Gesellschaftlicher Meinung (CBOS), die im Januar 2003 veröffentlicht wurde, ergibt sich, dass 26 % der Polen den Weißrussen Sympathie entgegenbringen, 30 % stehen ihnen gleichgültig gegenüber, 36 % mögen sie nicht, und 8 % äußern „das lässt sich schwer sagen“. Hinzugefügt werden muss, dass sich die Meinung über die Weißrussen im Laufe der letzten zehn Jahre in Polen deutlich verbessert hat. Wie aus den Untersuchungen von CBOS hervorgeht, stieg die erklärte Sympathie für Weißrussen von 19 % im Jahre 1993 auf 26 % Ende 2002, während die Abneigung ihnen gegenüber von 47 % auf 36 % sank. Neuere Untersuchungen über dieses Thema gibt es nicht. Im übrigen lassen sie sich kaum in sinnvoller Weise analysieren, weil das Wissen der Polen über Weißrussland immer geringer und fragmentarischer wird. Das ist unter anderem deshalb so, weil im Sommer 2003 (also bereits nach Durchführung der hier erwähnten Untersuchung) zwei polnische Medien (die über die höchste Auflage verfügende Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ sowie die „Polnische Presseagentur“ (PAP), die u. a. Informationen für Regionalzeitungen, Internetportale, Radiostationen und Fernsehsender lieferte) auf ständige Korrespondenten in Belarus verzichtet haben.

Wohl noch schwieriger sind Umfragen zu analysieren, die das Verhältnis der Weißrussen zu Polen und zu den Polen betreffen – vor allem deshalb, weil die weißrussischen Behörden im Jahre 2002 den Soziologen die Arbeit erschwerten, indem sie Sonderlizenzen für die jeweilige Durchführung von Meinungsumfragen einführten. Dies ist eine Art präventiver Zensur in der Soziologie. (Nebenbei bemerkt: Diese von der Administration Präsident Lukaschenkos eingeführte Direktive ist eine Art Rückkehr zur Vergangenheit; in der UdSSR waren in den siebziger und achtziger Jahren die soziologischen Institute an den Universitäten unmittelbar dem KGB unterstellt.) Dennoch sind die Ergebnisse der in Weißrussland durchgeführten glaubwürdigen Umfragen überraschend.

Zwei regierungsunabhängige, ernstzunehmende weißrussische soziologische Institutionen sind NOVAK und das Unabhängige Institut für Sozio-Ökonomische und Politische Forschungen (NISEPI). Nach Untersuchungen von NOVAK aus dem Jahre 2000 halten sich nur 49,8 % der Weißrussen für ein eigenes Volk, während 46,3 % sich als einen Teil der „Rus“ ansehen, zu der auch die ethnischen Russen und die Ukrainer zählen (hier haben wir die Erscheinung des Westrussentums in reiner Form!). Andererseits sind nach einer Umfrage von NISEPI aus der gleichen Zeit etwa 70 % der Bewohner Weißrusslands für die Unabhängigkeit ihres Landes. Untersuchungen beider Zentren von 2002 sind noch interessanter: Etwa 65 % der Weißrussen sprechen sich für eine Integration ihres Landes in Russland aus, während 58 % eine Integration in der Europäischen Union (EU) wollen. „Wenn man bedenkt, dass ein Teil der Befragten sowohl eine Integration in Russland also auch der EU will, dann kann man das nur so kommentieren, dass die Weißrussen die Isolation vom Rest der Welt fürchten und deshalb die Integration mit irgendwem wollen“, sagt der Vorsitzende der Vereinigung Osteuropäisches Demokratisches Zentrum, Paweł Kazanecki.

Zurück zu polnischen Fragen: Im Dezember 1999 gab NISEPI an, dass 40 % seiner Befragten möchten, das Leben in Belarus wäre so wie in Deutschland, jeder vierte wählte Amerika als Vorbild, danach kam Polen (6,4 %), und nur einer von tausend Befragten träumte von einem Leben in Russland. Auf die Frage „Welche Staaten bedrohen Belarus?“ antworteten 41,7 %, dies sei die NATO, 25 % nannten die USA, 7,2 % fürchteten Russland und 4,6 % Polen. Man kann das auch so werten, als wollten die Weißrussen eine Integration in Russland, doch zögen sie die Polen den Russen vor ...

Hoffnung auf die NGOs

Auch wenn die polnisch-weißrussischen zwischenstaatlichen Beziehungen einen eher formalen Charakter haben, gibt es zum Glück in Polen NGOs, also regierungsunabhängige Organisationen, die stets an Weißrussland gedacht haben. Anfang der neunziger Jahre waren das vor allem die „Landsmannschaften“. Diese in gewisser Weise den deutschen Vertriebenenorganisationen der Ostpreußen oder Schlesier ähnelnden Organisationen, die die einstigen Bewohner von Grodno, Lida, Pinsk oder Nowogródek sammelten, organisierten Anfang der neunziger Jahre Exkursionen nach Weißrussland. Mit der Zeit entstanden daraus (wieder) Freundschaften polnischer Vertriebener aus Weißrussland mit ihren früheren Nachbarn. Die „Landsmannschaften“ schickten häufig Transporte mit humanitärer Hilfe gerade für die ehemaligen Nachbarn, z. B. für Kinder von Tschernobyl. Doch wegen der unerbittlichen Gesetze der Demographie, d. h. dem allmählichen Aussterben der Vertriebenengeneration, aber auch deshalb, weil Polen am 1. Oktober 2003 das von der EU verlangte Visum für den Grenzverkehr mit Belarus weingeführt hat, werden solche Aktivitäten nach und nach aufhören.

Unabhängig von den „Landsmannschaften“ sind zahlreiche an Weißrussland interessierte Stiftungen und Vereinigungen aktiv. Nach dem Vorjahresbericht der Stefan-Batory-Stiftung, der in Zusammenarbeit mit der Gruppe „Zagranica“ (Ausland) (http://go2east.ngo.pl) erstellt wurde, verwirklichten unterschiedliche polnische Stiftungen und Vereinigungen in den Jahren 1998 bis 2003 177 Projekte, die sich auf Belarus beziehen. Für 20 dieser Organisationen hat die „Zusammenarbeit mit Weißrussland keinen einmaligen Charakter, sondern stellt ein wichtiges Element ihrer programmatischen Arbeit dar“. Zehn Organisationen realisieren langfristige Projekte in Bezug auf Belarus. Das Zentrum für Sozio-ökonomische Analysen führt (in Zusammenarbeit mit weißrussischen Wissenschaftlern) Untersuchungen über die dortige Wirtschaft durch. Die Vereinigung des Zentrums für bürgerliche Erziehung Polen-Belarus im ostpolnischen Białystok konzentriert sich auf kulturelle Zusammenarbeit mit dem an die Wojwodschaft Podlasien angrenzenden Grodnoer Gebiet und unterhält ein Informationsportal www.bialorus.pl, dessen Bedeutung – angesichts des mangelnden Interesses der gesamtpolnischen Medien für Belarus – kaum überschätzt werden kann. Das Maximilian-Kolbe-Haus für Versöhnung und Begegnung in Gdańsk/Danzig organisiert einen polnisch-weißrussischen Jugendaustausch, die polnische Caritas hilft bei der Finanzierung einer karitativen Einrichtung in Weißrussland, die Batory-Stiftung organisierte zahlreiche Exkursionen polnischer Journalisten nach Belarus und von weißrussischen Reportern nach Polen, darüber hinaus finanzierte sie etwa 200 Stipendien für weißrussische Wissenschaftler in Polen. Belarus ist eines der wichtigsten Länder für die Helsinki-Menschenrechts-Stiftung. Die Stiftung vermittelt den weißrussischen Juristen, Journalisten und Lehrern das dort sehr notwendige Knowhow. Natürlich geht das nicht ohne Hindernisse ab, denn die Funktionäre der weißrussischen Diktatur begreifen, dass sich solche Aktivitäten auf lange Sicht gegen sie richten. Als Beispiel mag die Vereinigung Osteuropäisches Demokratisches Zentrum (http://www.eedc.org.pl) dienen, die sich – neben der Weiterbildung für weißrussische Journalisten und der Unterstützung unabhängiger Medien – für die Organisierung von Polenreisen weißrussischer Lehrer einsetzt. „Die Behörden der Republik Belarus erschweren dies, sie schrecken die interessierten Lehrer mit Strafen ab, sie drohen sogar mit dem Rauswurf. Vor einem Monat wollte eine Schule in Olsztyn/Allenstein das Schultheater polnischer Kinder aus Grodno einladen, aber der Lehrer schreckte davor zurück, denn man drohte ihm damit, dass er seine Arbeit verliere und die Kinder bestraft würden. Wir organisierten auch kurze Praktika für Lehrer, Studienbesuche an privaten, öffentlichen und integrativen Schulen. Wir demonstrierten – von unterschiedlichen Seiten aus – die Effekte der polnischen Schulreform und alternative Lehrprogramme. Auch das war für die weißrussischen Lehrer interessant. So sehr, dass viele sich auf linke Weise ärztliche Arbeitsbefreiungen für die Aufenthaltszeit in Polen besorgten ... Das heißt, sie fehlten auf der Arbeit, ja es gab sogar bezahlte Ersatzleute, die für sie in dieser Zeit in den Krankenhäusern lagen“, berichtet der Vorsitzende des Zentrums, Paweł Kazaniecki.

Wie geht es weiter?

Die polnische Regierung muss zweifellos die in Belarus aktiven NGOs stark unterstützen. Was zwischenstaatliche Kontakte betrifft, so hat es im Herbst 2003 einige gegeben: Polnische Parlamentarier reisten nach Minsk, während der polnische Premier Leszek Miller und Senatspräsident Longin Pastusiak sich nach Belarus begaben. Es lässt sich heute schwer abschätzen, ob dieses faktische Ende des Boykotts Lukaschenkos durch Polen einen Durchbruch in den polnisch-weißrussischen Beziehungen gebracht hat. Aber man muss bedenken, dass Polens Interessen in Weißrussland sich von den Interessen der übrigen Staaten der EU unterscheiden. Da gibt es nicht nur die Frage der gemeinsamen Grenze, des Visums oder des Handels. Dort lebt eine Minderheit von etwa 400.000 Polen, die eine potenzielle politische Geisel Alexander Lukaschenkos sind. Es geht im übrigen nicht darum, den weißrusssischen Diktator für Europa salonfähig zu machen. Auf jeden Fall muss man die Politik der EU gegenüber dem Osten als irrational bezeichnen: Alexander Lukaschenko ist persona non grata, hingegen sein Patron, nämlich Präsident Wladimir Putin, in vielen europäischen Hauptstädten ein begehrter Gast. Das ist sehr seltsam, wenn man bedenkt, dass die – zugegebenermaßen brutale – Diktatur Lukaschenkos ein einziges Ziel hat: das Überdauern an der Macht, während das Ziel des von Russland geführten Tschetschenienkrieges Völkermord ist. Mir scheint, dass man sich nach den polnischen Parlamentswahlen (2005) in Warschau mit einer solchen Behandlung des Ostens nicht abfinden wird – nicht abfinden darf.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.