Der Bug: Grenze gegen Osteuropa?

aus OWEP 3/2004  •  von Anna Mateja

Die Autorin ist Redakteurin der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“.

Bug – auch Westlicher Bug genannt im Unterschied zum als Südlicher Bug bezeichneten Fluss, der aus der Ukraine ins Schwarze Meer fließt. Länge: 813 km, davon 683 km zu Polen gehörig. Der Fluss entspringt in 310 m Höhe im Westteil der Wolynisch-Podolischen Platte und mündet bei Serock in den Zegrze-Stausee nordöstlich von Warschau.

Wenn man durch die Sträßchen von Drohiczyn, von Kodeń oder Włodawa schlendert, die auf der polnischen Seite des Bugs liegen, dann kann man sich kaum die Kriege oder blutigen Religionskonflikte vorstellen, deren Zeugen der Fluss und die an seinen Ufern gelegenen Orte waren. Der Bug ist immer noch Grenze. Die umgebende Wirklichkeit ist jedoch freundlicher geworden. Wenngleich zwischen den Menschen weiterhin Unterschiede bestehen, hat man begonnen, diese als Bereicherung, nicht aber als Belastung oder Streitgrund zu sehen.

Als es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem weiteren Akt in der „Völkerwanderung“ des 20. Jahrhunderts kam, da verschwand aus Ostpolen etwas, was ihm einen besonderen Charakter gegeben hatte: jene heute schon historische mitteleuropäische Nuance, jene Besonderheit, die dadurch geschaffen wurde, dass vor 1939 in den östlichen Grenzmarken Polens Juden, Moslems und Christen unterschiedlicher Konfession zusammenlebten. Es war jene Besonderheit, die sich in dem Sprachgewirr der Märkte und in den Gassen der Kleinstädte zeigte, im Duft jüdischer Spezialitäten und östlicher Piroggen, im Sabbatgebet in der Synagoge, in der orthodoxen Wasserweihe an Epiphanias oder in der katholischen Fronleichnamsprozession.

Die ehemaligen Grenzmarken Polens sind heute Teil unabhängiger Staaten: Litauens, Weißrusslands und der Ukraine. Ein Surrogat des Klimas, das vom Holocaust, von den Bevölkerungstransfers und von der Festlegung der neuen Ostgrenze Polens zerstört wurde, lässt sich noch in den Gebieten finden, die dort liegen, wo der Bug die Grenze bildet: in Podlachien und im nördlichen Teil des Lubliner Landes. Vor dem Hintergrund des heutigen ethnisch und national fast einheitlichen Polens werden die Territorien am Bug exotisch bunt und geheimnisvoll. Dennoch kann man schwerlich die dort herrschende Armut übersehen. Im Osten gibt es keine Industrie. Die Staatsgrenze trennt sie von den für den Handel wichtigen Orten. Seit einigen Jahren verlassen vor allem junge Menschen die anmutigen, aber armen Orte, um anderswo Ausbildung und Arbeit zu finden.


Es gibt keine polnischen Grenzmarken im Osten mehr. Mit ihnen verflüchtigte sich der Geist des einstigen „Mittel-Europas“. Es gibt die Grenze – und sie ist schwer zu überschreiten, insbesondere nach Polens Beitritt zur EU, als sie zur Ostgrenze der Gemeinschaft wurde. Gemeinsam blieb der Bug, der durch drei Staaten fließt. Er entspringt im ukrainischen Podolien als Fluss Buh. Er fließt durch Polesien und Wolynien, und nahe bei der Ortschaft Gołębie (einige Dutzend Kilometer östlich von Zamość) erreicht er Polen. Von dort werden die Mäander des Bugs zur Grenze. Nördlich von Sobibór – einem Dorf am Rande des Lubliner Polesiens, wo im letzten Krieg die Deutschen ein Vernichtungslager für Juden bauten – ist der Fluss Grenzstrom zu Weißrussland. Der Bug passiert Brest, um unweit von Niemirów nach Polen hineinzufließen. Sein Lauf endet in Masowien im Zegrze-Stausee.

Zum Glück sahen die Menschen den Bug nicht ausschließlich als natürliche Sperre gegen die Eroberungsgelüste der Feinde oder allzu ehrgeiziger Nachbarn. Dieser Fluss blieb im Gegensatz zu anderen gleichgroßen in Westeuropa wild; alte Flussarme und Sumpfgebiete schützten wirkungsvoller als feierlichste Verträge. Jahrhundertelang spendete der Bug Leben, er schuf Arbeitsplätze für die an seinen Ufern wohnende Bevölkerung. Auch war er die Hauptverkehrsader in diesem Teil Europas. Auf ihm schafften die Flößer das Getreide von der Ukraine nach Gdańsk/Danzig. Der Bug war Teil jenes kunstvollen Netzes aus großen und kleinen Flüssen, die das Schwarze Meer mit der Ostsee verbanden. 1775 begann man mit dem Bau des Königlichen Dnjepr-Bug-Kanals. In Russland herrschte Zarin Katharina II., während Polen drei Jahre zuvor die erste Teilung hinnehmen musste, die ihm die östlichsten Gebiete nahm. Bis heute verbindet dieser Kanal durch die Zuflüsse von Pripjet und Bug den Dnjepr mit der Weichsel. Trotz der Grenzen und politischen Trennungslinien, an denen es zwischen Polen und der Ukraine nicht fehlte, wurde der Bug zum natürlichen Bindeglied.


Alles begann im „Goldenen Zeitalter“ des Mittelalters, als ostslawische Siedler am Bug mit Siedlern aus Kleinpolen und Masowien zusammentrafen. Die Ruthenen waren natürlich orthodox. Im 16. Jahrhundert begannen der König und die Adelsstände damit, sie tiefer in die katholische Umgebung zu integrieren und von den Einflüssen Moskaus abzuschneiden. Fast 30 Jahre Gespräche wurden 1596 durch den Abschluss der Union von Brest gekrönt. Eine Delegation ostslawischer Bischöfe erkannte den Papst als Oberhaupt und die Dogmen der katholischen Kirche an. Sie behielten jedoch die östliche Liturgie, den Julianischen Kalender, das Recht auf verheiratete Priester und eine besondere Verwaltung. Nicht alle orthodoxen Hierarchen akzeptierten die Union.

Trotz unterschiedlicher Konflikte – die besonders in den von der Polnischen Republik im 17. Jahrhundert geführten Kriegen ausbrachen – genoss die unierte Kirche Freiheit bis zu den polnischen Teilungen. Im 19. Jahrhundert begann der Fluss, die Konfessionen voneinander abzugrenzen, und spielte eine beträchtliche Rolle bei der Herausbildung des nationalen Bewusstseins der örtlichen Bevölkerung. Nach Jahren der Beschränkungen und Diskriminierungen wurde die Union 1839 im Zarenreich beseitigt; ihre Anhänger mussten das Bekenntnis wechseln. Nördlich des Bugs kehrte die Orthodoxie zurück, doch einige Jahrzehnte später wurden u. a. aus den ehemaligen Unierten Weißrussen. Ein Teil dieser Gebiete befindet sich auf der polnischen Seite der Grenze und weist die zahlenmäßig größte Ansammlung weißrussischer Bevölkerung in Polen auf.

Im Königreich Polen – dem aus einem Teil polnischen Gebietes geschaffenen, von Russland abhängigen Land, das nach den napoleonischen Kriegen entstand – wurde die Union erst 1875 beseitigt. Jene, die südlich und westlich des Bugs wohnten, blieben – in aller Heimlichkeit vor den Behörden und vor dem örtlichen Popen – der Union treu. Nach dem Erlass des Toleranzukasses von 1905 wählten sie in der Regel die römisch-katholische Konfession. Ihre Nachkommen halten sich heute für Polen. Je weiter man vom Bug nach Süden kommt, desto mehr finden sich dort ehemalige Unierte, die sogar nach dem Ukas bei der aufgezwungenen Orthodoxie blieben und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das erwachende ukrainische Nationalgefühl verstärkten.

In den Absichten der Teilungsmächte sollte der Bug nur eine politische Grenze sein. Doch entsprechend dem Prinzip cuius regio eius religio, das auf den Gebieten des Russischen Kaiserreiches herrschte, wurde der Fluss zu einer Grenze der Konfessionen und in der Konsequenz – durch Weckung des besonderen ethnischen Gefühls – zur Grenze selbstständiger Staaten.


Das sind jedoch nicht alle Gewürze, die den Territorien am Bug ihren besonderen Geschmack verleihen. In Włodawa, das nahe dem Dreistaateneck – Polen, Weißrussland, Ukraine – liegt, stehen seit Jahrhunderten die orthodoxe Kirche, das katholische Paulinerkloster und die barocke Synagoge nebeneinander – letztere ist schön renoviert, aber leer. Nach dem Holocaust ist niemand mehr da, der dort betet. Gerade weil die Juden fehlen, lässt sich heute schwer erklären, was der mitteleuropäische Charakter jenes Gebietes war. War es nur eine kulturelle Besonderheit? War es die unbewusste Verwirklichung des heute so energisch propagierten Multi-kulti-Prinzips? Am Bug wurden nicht nur Kriege geführt, wenngleich von ihnen meistens gesprochen wird. Jahrhundertelang lebten Nachbarn unterschiedlicher Konfession und Herkunft einträchtig nebeneinander, für sie war die Verschiedenheit ein konstantes oder geradezu konstitutives Merkmal der Umgebung. Es gab orthodoxe und unierte Ukrainer, Katholiken, Weißrussen, Neu-Unierte, Juden und muslimische Tataren.

Nach den Zeiten der Umsiedlungen, der Vernichtungslager, der Vereinsamung der wenigen, die blieben und sich erinnern wollen – vergeht diese Welt allmählich. Den Platz des „mitteleuropäischen Schmelztiegels“ nimmt allein die politische Überzeugung ein, dass der Bug den Westen vom Osten trennt. Dieses Denken hat sich in den letzten Wochen durch den EU-Beitritt Polens und den Hinweis verstärkt, dass die Länder östlich davon lange keine Chance dazu haben werden. Soll die Geschichte am Bug enden, an einer in Jalta festgelegten und auf den Landkarten erst seit 1945 erscheinenden Grenze? Auch dort im Osten ist Europa, wenngleich es diametral anders ist als jenes, das am Rhein oder an der Loire existiert.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.