Russen und Letten im heutigen Lettland

Natalija Bolschakowa ist Vorsitzende der Alexander-Men-Stiftung in Riga und Chefredakteurin der Zeitschrift „Christianos“.

Heute, da das gemeinsame Europäische Haus gebaut wird, da die Begriffe „Osten“ und „Westen“ (wenigstens in Europa) endlich einander nicht mehr gegenüber stehen und keinen antagonistischen Charakter mehr tragen, sondern vor allem in geographischer, kultureller, historischer und anderer „friedlicher“ Hinsicht verwendet werden, da ruft die allgemeine Situation in Lettland, die ethnische und populistische Stimmung, großen Unwillen und Verbitterung hervor. Selbst die Kampagne zur Abstimmung über den Beitritt Lettlands zur EU war völlig „lettisch“, und die Massenmedien verwendeten häufig antirussische und antirussländische Argumente, was in vieler Hinsicht den Sinn des Beitritts Lettlands zur EU entstellte und außerdem viele Russen erregte und verärgerte, die die Staatsbürgerschaft der lettischen Republik besitzen und dementsprechend das Stimmrecht hatten; daher stimmten sie oft „gegen Europa“, obgleich Europa an diesem negativen Bild natürlich nicht schuld ist.

Doch wenn am Vorabend des Referendums über den EU-Beitritt der damalige Premierminister Einars Repse in einer direkt übertragenen Fernsehsendung in Gegenwart der lettischen Präsidentin die Zuhörerschaft mit russischen Panzern erschreckte, dann ist es in einer solchen Umgebung sehr schwierig, Objektivität und Ruhe zu bewahren; nicht einmal der Premierminister trägt für seine Worte Verantwortung – viele glauben diesem jedoch blind und bauen ihre Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu den Russen, die in Lettland leben, darauf auf. Auch die langjährigen Hoffnungen, uns in die europäischen kulturellen und ethischen Werte einzugliedern, in die demokratischen Traditionen, die breite Bildung und die fortschrittliche Art von Denken und Leben, auch diese Hoffnungen wurden durch die primitiven und grundlosen Angriffe gegen Russland und gegen das russische Volk vergiftet, das doch auch zur Familie der europäischen Völker gehört und mit ihr durch gemeinsame christliche und kulturelle Wurzeln verbunden ist.

Ein wenig Geschichte

Als im Jahr 1990 von den Fernsehbildschirmen und von den Zeitungsseiten Aufrufe in russischer und lettischer Sprache an das „Volk von Lettland“ (so hießen wir damals alle, auch die nationalen Minderheiten) ertönten, die uns aufriefen, für die Unabhängigkeit der lettischen Republik zu stimmen, da wurde versprochen, dass alle, die im Moment der Erlangung der Unabhängigkeit im Lande lebten (d. h. alle, in deren Pass ein Wohnort in der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik eingetragen war), die lettische Staatsbürgerschaft im freien lettischen Staat erhalten sollten. Wenn die große Masse der nichtlettischen Bevölkerung damals beim Referendum nicht für die Unabhängigkeit gestimmt hätte, dann hätte es keine Stimmenmehrheit gegeben. Michail Gorbatschow erkannte die Unabhängigkeit Lettlands nach den Resultaten des Referendums an, und Boris Jelzin hat sie später bestätigt, nachdem er der erste Präsident der Russischen Föderation geworden war. Wir, die russische Intelligenz in Lettland, haben bewusst und aufrichtig (das erste Mal im Leben!) für die Unabhängigkeit gestimmt, und wir haben die Zweifelnden davon überzeugt, dass das der einzige Weg zur Freiheit, zu einem demokratischen Staat und zu einem normalen Leben ist.

Doch als das Ziel erreicht war, als Lettland ein unabhängiger Staat geworden war, hörten wir – Russen, Juden, Polen, Ukrainer und andere – auf, „Volk von Lettland“ zu sein und wurden zur russischsprachigen Bevölkerung, die nicht nur in Lettland als unnötig, sondern sogar als feindlich empfunden wurde, sodass es schien, als seien wir Besatzer. Äußerst überraschend ist dabei, dass am aggressivsten gegen die Russen diejenigen auftraten, die noch am Tag zuvor Mitglied der KPdSU waren und wichtige Posten in der Führung der lettischen Sowjetrepublik einnahmen. Ich selbst etwa konnte keine Anstellung in meinem Beruf finden, weil ich mich weigerte, in die KPdSU einzutreten, und weil ich religiös war. Einer von ihnen, ein Lette, verbot dem Chefredakteur der einzigen russischsprachigen Literaturzeitschrift „Daugava“ mich einzustellen, weil ich nicht der Partei angehörte und überhaupt unzuverlässig sei, und er begründete das so: Die Literatur ist eine ideologische Front, und ein Arbeiter an der ideologischen Front muss Kommunist sein! Nicht einmal in den Jahren der Perestrojka änderte sich diese Situation in Lettland. In der lettischen Abteilung von Glavlit, der Zentralbehörde für Literatur, ohne deren Genehmigung nichts gedruckt werden durfte, saßen, als in Moskau schon vieles möglich war, nach wie vor starrköpfige lettische KGB-Funktionäre.

So gab es also von Anfang an eine Lüge im neuen Leben Lettlands: Weder die Volksfront noch Anatolij Gorbunovs (ehemaliger erster Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Lettlands und dann Regierungschef des unabhängigen Lettland), der persönlich versprochen hatte, allen die Staatsbürgerschaft zu geben, niemand, kein einziger Mensch, erinnerte sich mehr an diese Versprechungen, niemand entschuldigte sich vor Hunderttausenden von Menschen. Um etwas von der heutigen Situation zu verstehen, muss man wenigstens kurz einen Blick auf diesen Kontext unseres Lebens werfen.

Hauptkriterium der Demokratie sind allgemeine Wahlen. Doch solche Wahlen gibt es in Lettland seit dem 15. Oktober 1991 nicht mehr, als der oberste Sowjet der lettischen Republik die gesamte Bevölkerung des Landes in Bürger und Nicht-Bürger einteilte (von den Russischsprachigen haben nur diejenigen die Staatsbürgerschaft erhalten, die selbst oder deren Eltern vor 1940 in Lettland gelebt haben). Die Folge davon ist, dass ein Drittel der Bevölkerung nicht einmal das Recht hat, an den Wahlen zu den Organen der kommunalen Selbstverwaltung teilzunehmen. Im benachbarten Litauen wurde ein ebensolches Versprechen, dass alle die Staatsbürgerschaft erhalten, den Menschen vor der Abstimmung für die Unabhängigkeit gegeben, und es wurde sofort erfüllt; dort gibt es keine Nicht-Bürger (die man im Volk „Neger“ nennt), dort gibt es keine diskriminierenden Gesetze wie in Lettland, dort ist der Lebensstil der Bevölkerung erheblich höher, die Industrie entwickelt sich, ebenso die Landwirtschaft und der Tourismus (die Visa-Beziehungen mit Russland und den GUS- Ländern sind vereinfacht), und es gibt keine Konfrontationen mit Russland.

Es ist nicht gut für die Perspektiven des historischen Schicksals des lettischen Volkes, auch nicht für seine Zukunft, dass es nicht nur keine Reue gibt, sondern dass es nicht einmal Versuche gibt, die Wege, Geschichten, Fehler und Verbrechen zu erkennen, die in mancher Hinsicht vielleicht im Nationalcharakter liegen. Ständig sucht man einen Schuldigen dafür, wie in einem so kleinen Land so unglaubliche Verbrechen geschehen konnten wie die Vernichtung der jüdischen Gemeinde von Lettland (ungefähr 100.000 Menschen) und die Ermordung einiger hunderttausend Juden, die dafür aus den Ländern Europas nach Lettland gebracht worden waren. Die Vernichtung der Juden in Lettland liegt nicht nur den deutschen Faschisten auf dem Gewissen. Der Völkermord am jüdischen Volk in Lettland während des Zweiten Weltkriegs ist in hohem Maße auch durch Letten geschehen: Sowohl von „friedlichen Einwohnern“ als auch von Soldaten und Offizieren der lettischen Legion der SS, die die Juden in ganz Lettland töteten oder lebendig in den Synagogen verbrannten. Heute verwirrt uns die leichtsinnige Unkenntnis dieser Verbrechen in erheblichem Maße: Jedes Jahr am 16. März bewegt sich über die Hauptstraße von Riga ein Zug von Legionären der SS: alte Männer aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges und junge Vertreter der Jugendabteilung der Legion der SS, die in unserer Zeit gegründet wurde. Einige Male haben an diesem Gedenkmarsch auch Mitglieder der Regierung teilgenommen, doch als westeuropäische Zeitungen empört auf diesen Skandal hinwiesen, hat die Teilnahme von Ministern daran aufgehört. Der Zug endet in der Domkirche, wichtigster Kirche und Stolz Lettlands (wegen der berühmten Orgel), mit einem Gottesdienst.

Die Meinung der Christen in dieser Hinsicht verbittert besonders. Als ich einen sehr bekannten und gebildeten lutherischen Pastor, der nicht nur unter den Lutheranern großes Ansehen genießt, danach fragte, wie die Kirche nazistische Überzeugungen und den Völkermord am jüdischen Volk segnen kann, antwortete er mir, man dürfe das nicht übertreiben, es seien einfach alte Leute, die man verstehen müsse (von den jungen Teilnehmern wollte er nicht sprechen). Mancher habe eben in der Roten Armee gekämpft, und andere in der Lettischen Legion – was sei das schon für ein Unterschied. Man kann auch den Erzbischof der lettischen lutherischen Kirche nicht verstehen, der gleichzeitig Pastor Dietrich Bonhoeffer für eine herausragende Persönlichkeit hält, an dessen Erbe die Lutheraner bis zur heutigen Zeit einen großen Reichtum finden, und der die Lettische Legion segnet, anstatt sie zur Reue zu rufen. Wir hoffen sehr, dass Lettland jetzt, in der EU, gezwungen sein wird, seine Ideologie zu demokratisieren und vor allem seine Bewertung des Regimes von Karlis Ulmanis in der Zwischenkriegszeit und die Aktivitäten von Letten während der faschistischen Okkupation und des Sowjetregimes neu zu überdenken.

Als die Regierung das Gesetz über die Staatsbürgerschaft beschloss, mit dem sie alle ihre Versprechungen brach und die Bevölkerung betrog, legte sie eine Mine mit verzögerter Wirkung, ohne zu bedenken, wie sich das auf das Land im Ganzen auswirken würde. Diejenigen, welche für ein solches gesetzloses Gesetz stimmten, wollten natürlich eine möglichst große Zahl von Russischsprechenden aus dem Lande vertreiben. Bis zum Jahr 2003 haben 167.000 Menschen Lettland verlassen; 33 Prozent waren bereit, das Land zu verlassen – so instabil ist das Vertrauen zur lettischen Regierung bei den nationalen Minderheiten. Unter denen, die gegangen sind (sowohl Russen als auch Juden), gibt es viele, die die Staatsbürgerschaft sozusagen geerbt haben, die jedoch kein Vertrauen zum Regime haben und für sich keine würdigen Lebensperspektiven gesehen haben. Sie haben auf die Staatsbürgerschaft verzichtet und sind emigriert, nach Russland, nach Israel, Deutschland, in andere westeuropäische Länder oder nach Amerika. Viele wertvolle Spezialisten sind ausgewandert, hervorragende Fachleute auf verschiedenen Gebieten, sodass es einen großen Verlust an Humankapital gegeben hat, was sich in einem kleinen Land besonders bemerkbar macht. Jetzt bleibt Lettland sehr stark sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch bezüglich des Lebensstandards und hinsichtlich der demokratischen Umgestaltungen der Gesellschaft hinter Litauen und Estland zurück.

Eine Integration der Minderheiten ist heute grundsätzlich nicht möglich, da die Ethnokratie ganz andere Ziele verfolgt, nämlich den Aufbau eines lettischen mononationalen Staates und die Aufteilung der materiellen Güter zum Nutzen der lettischen politischen Elite. Nur Letten sind Staatsbeamte. So kommt es, dass die Demokratie für Lettland „nicht vorteilhaft“ ist, weil sie die Privilegien der Letten bedroht. Zwischen Ethnokratie und Wirtschaft gibt es eine enge Verbindung, denn es besteht ein nationaler Ansatz hinsichtlich der Verteilung der staatlichen Aufträge – nur ein „lettisches“ Projekt kann Unterstützung aus dem Staatsetat bekommen. Der Anstieg der Spannung im Land kommt genau daher, dass das Regime an Konflikten und an Spannung in der Gesellschaft interessiert ist. Seit 1991 sind Feind Nummer eins die Nicht-Bürger und seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die russische Ausbildung und die russische Schule. Dann folgt die russische Wirtschaft, und der nächste Feind wird der Teil der lettischen Intelligenz sein, der jetzt in bescheidenem Maße versucht, gegen das Regime zu protestieren. Die Ethnokratie bringt nicht nur für die Nicht-Letten eine Bedrohung, sondern auch für die Letten selbst.

Die Verflochtenheit zweier Kulturen

Ein normaler durchschnittlich gebildeter Bürger Lettlands besucht, wenn er überhaupt ins Theater geht, regelmäßig das Theater des russischen Dramas in Riga, das eines der ältesten russischen Theater außerhalb Russlands ist und neulich seine 120. Saison beendet hat. An den Aufführungen dieses Theaters nehmen häufig lettische Schauspieler teil, die sehr gerne mit russischen Partnern in russischer Sprache spielen. Alle lettischen Theaterregisseure und viele Schauspieler kommen aus der russischen Theaterschule. Bis heute sind sie glücklich, wenn sie von russischen Regisseuren zu Aufnahmen nach Russland eingeladen werden (es gibt kein lettisches Kinostudio). Und natürlich sehen sich alle, die sich Kabelfernsehen leisten können, russische und sowjetische Filme an, die auf den russischen Kanälen gespielt werden. Zu Gastspielen der russischen Theater aus Moskau und Petersburg kommen natürlich auch Letten (ungeachtet dessen, dass es oft sehr schwierig ist, Karten zu bekommen, und diese oft sehr teuer sind). Das betrifft auch die Literatur.

Wenn man auf dem Land in das Haus eines lettischen Katholiken blickt, besonders in Lettgallien (den Ostteil Lettlands, der an Russland und Weißrussland grenzt), wird man dort in der schönen Ecke die Ikone der Gottesmutter mit dem Kind in byzantinischer, weißrussischer Ausführung sehen. So verbinden sich von Generation zu Generation die orthodoxe und die katholische Spiritualität, und die spirituelle Literatur in russischer Sprache (sowohl katholischer als auch orthodoxer Autoren) ist die tägliche geistige Speise der Christen in Lettland. Zum wundertätigen Antlitz der Mutter Gottes nach Adlon kommen sowohl katholische als auch orthodoxe Pilger, sowohl Russen als auch Letten, von denen viele aus Russland, der Ukraine, Weißrussland in die wunderschöne Basilika in das bescheidenen lettische Dorf anreisen. In Lettgallien gibt es russische katholische Gemeinden, und man kann in Lettland eine große Zahl von lettischen Orthodoxen finden. Dazu gehört auch, dass lettische Katholiken und Lutheraner auf Pilgerfahrten nicht nur zu Klöstern und heiligen Stätten gehen, die sich in Westeuropa befinden, sondern auch in die Kirchen von Moskau und St. Petersburg und in die Klöster und zu den Reliquien der Heiligen von verschiedenen Stellen der ehemaligen UdSSR, und ebenso zum Grab und zum Todesort des Erzpriesters Alexander Men – auch das ist ein Zeugnis dafür, dass die orthodoxe Spiritualität und, wenn man so sagen kann, der russische Typ von Frömmigkeit den lettischen Christen nahe sind.

Die Beziehungen von Lettland und Russland und die Beziehungen zur russischsprachigen Bevölkerung in Lettland

Von allen Ländern des Baltikums herrschen heute gerade zwischen Lettland und Russland die schwierigsten Beziehungen. Sogar vor dem Beitritt Lettlands zur EU in der letzten Aprilwoche 2004 wurden aus Riga russische Diplomaten „wegen Spionage“ ausgewiesen. An der Grenze wurde ein Experte des russischen Außenministeriums für nationale Minderheiten namens Poloskov zurückgewiesen und nicht nach Lettland gelassen. Außerdem sind Lettland und Estland die beiden einzigen Länder in der Welt, wo es Denkmäler für SS-Soldaten gibt und Demonstrationen ehemaliger SS-Mitglieder durchgeführt werden, an denen in Lettland sogar Abgeordnete des Parlaments und Minister teilnahmen.

Dabei ist ohnehin das Problem dieser Hunderttausende Russisch sprechender Bewohner der Republik nicht gelöst, die keine Staatsbürgerschaft haben. Das gilt auch für das Gesetz über die Überführung der Schulausbildung in die lettische Sprache, das zu zahlreichen Aktionen und Protesten russischer Schüler im ganzen Lande geführt hat; die Behörden drohen allen, die diesen gewaltsamen Assimilierungsversuchen zu widerstehen sich bemühen, mit Repressionen. Dabei wird das keinesfalls von Demagogie überdeckt, was sich aus einem Interview von Präsidentin Vaira Vike-Freiberga in der Zeitschrift „Argumente und Fakten“ sehen lässt, das sie im Mai 2004 in Riga gegeben hat. „Nach den Gesetzen der EU wird dann, wenn eine Minderheit im Lande 20 Prozent der Bevölkerung darstellt, deren Sprache automatisch zur Staatssprache“, sagte der Journalist, „und in Lettland gibt es 30 Prozent Russen, doch ihre Sprache ist nicht Staatssprache.“ „Weil etwa in Belgien, wo es zwei Staatssprachen gibt“, antwortete die Präsidentin, „die anderssprachige Bevölkerung schon seit Jahrhunderten lebt. Doch bei uns in Lettland? Eine illegale, brutale, totalitäre, ausländische Okkupation“. „Den Behörden Lettlands kann man Beispiele aus der ganzen Welt anführen, doch jedes Mal antworten sie: ‚Ja, das geht bei denen, doch bei uns ist es völlig anders‘ “, erwiderte der Journalist. „In Lettland gibt es das Problem des Zustroms russischsprachiger Bevölkerung und ihrer nicht genügenden Loyalität zum Land!“ antwortete die Präsidentin.

Aus Gründen der Objektivität muss man sagen, dass die Russen in diesem Territorium schon seit dem 13. Jahrhundert leben, und seit dem 15. Jahrhundert gibt es orthodoxe Kirchen. Doch auch die Russischsprachigen, die im 20. Jahrhundert kamen, und ihre Nachkommen, die hier geboren sind, sind keine Okkupatoren. Die Militärgarnison, die es zu jener Zeit in Lettland gab, wurde aufgelöst, und alle Militärangehörigen wurden mit ihren Familien 1991 und 1992 aus Lettland umgesiedelt. Von den Russen, die heute in Lettland leben, litten viele unter Repressionen und waren im Lager und in Verbannung. Als in Lettland die Kommunisten die Deportationen durchführten, haben sie ja nicht nur Letten verbannt, sondern auch Russen und Juden, von denen viele ums Leben gekommen sind.

Was die Präsidentin unter der „mangelnden Loyalität gegenüber dem Land“ versteht, die sie der russischen Bevölkerung zum Vorwurf macht, lässt sich nicht klar sagen. Vielleicht geht es um die emotionale Verbundenheit zur Sowjetunion bei einem gewissen Teil der Menschen mittleren und höheren Alters, die häufig den Russischsprachigen zur Last gelegt oder angedichtet wird.

Die Beziehungen zwischen Lettland und Russland werden immer schlechter. Die Ausfälle lettischer Diplomaten, Journalisten, Politiker gegen Russland sind nicht nur sinnlos, sondern auch schädlich. Hass lässt es nicht zu, logische und vernünftige Lösungen zu finden, und die Verluste für die lettische Wirtschaft – und damit für die Menschen – werden immer größer. Lettland hat eine einzigartige geopolitische Lage, doch es nützt sie fast nicht aus, sodass etwa die Ölleitungen trocken bleiben, weil man im Gebiet von Ventspils, wo sich die Ölraffinerie befindet, zur Überzeugung gekommen ist, besser ohne Erdöltransit zu bleiben, als dafür in Ventspils Russen zu haben. Solche Beispiele gibt es viele. Besonders schwierig ist die Situation des Fischereiwesens.

Wünsche und Hoffnungen

Wenn heute diejenigen die Staatsbürgerschaft bekommen würden, die in Lettland geboren sind, die seit langem hier leben und nicht ausreisen wollen sowie die älteren Leute, dann könnte man sie ihnen ohne Sprachprüfungen verleihen, wie das vor vierzehn Jahren versprochen worden war. Das würde zu einem emotionalen Aufschwung und zu Vertrauen zum Staat führen, sodass sich das Klima im Lande erheblich verbessern würde. Alle die, die heute in diesem Land leben und in ihm arbeiten, könnten dann wirklich zu einem Volk von Lettland werden. Für die Kultur ist jede Isolierung gefährlich, sie geht daran zu Grunde. Die lettischen Dichter, die sich vor allem an der russischen und seinerzeit sowjetischen Lyrik gebildet haben, zeugen einerseits davon, dass sie sich kaum ohne die russischen Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts denken lassen, und andererseits davon, dass sie ohne kreative und menschliche Kommunikation mit den russischen Literaten, die in den letzen zehn bis zwölf Jahren fast abgebrochen ist, geradezu einsam sind.

Viele Christen in Lettland, Lutheraner und Katholiken, lesen sehr viel spirituelle Literatur in russischer Sprache (da es nicht genügend theologische Literatur in lettischer Sprache gibt, weder im Original noch als Übersetzung). Sie sind der Meinung, dass die östliche orthodoxe Tradition des christlichen Bekenntnisses für Lettland sehr wichtig ist, und zwar sowohl durch die darin enthaltene große asketische mystische Erfahrung als auch durch das Zeugnis der christlichen Predigt und durch das Leben vieler Bekenner und Märtyrer der russischen orthodoxen Kirche im Verlauf des ganzen 20. Jahrhunderts.

Wir alle müssen verstehen, dass Lettland ein multinationales Land ist; in der Perspektive eines Lebens in der EU wird es, wenn sich das so sagen lässt, noch multinationaler, und sein Aufbau und das Leben in Lettland müssen dem entsprechen. Auch die russische Sprache wird in diesem gemeinsamen europäischen Leben unbedingt notwendig sein.

Der Autor vieler Untersuchungen zum Schutz der Menschenrechte, der französische Professor Yves Plasseraud, sieht unsere Zukunft so: „Europa ist die gemeinsame Zukunft für Russen und Letten, und diese Zukunft soll schön sein. Außerdem haben die Russen in Lettland eine neue Rolle, die den anderen Russen den Weg nach Europa zeigt.“

Deutsch von Thomas Bremer.