Sich öffnen und Perspektiven gewinnen

Meine Erwartungen an Kirche und Gesellschaft in der Tschechischen Republik
aus OWEP 1/2005  •  von Marie Kolmanova

Marie Kolmanova studiert an der Wirtschaftsuniversität in Prag und ist Mitarbeiterin im Zentrum für Europäische Integration in der Tschechischen Handelskammer.

Mein Name ist Marie, 1980 wurde ich in Prag in eine große katholische Familie hineingeboren. Obwohl die Kirche in Tschechien während der kommunistischen Herrschaft im Vergleich etwa zur Lage in der DDR oder auch zur Slowakei besonders unterdrückt wurde, war meine Familie in diesem Bereich sehr aktiv. Ich war noch sehr jung, als die Wende kam, und habe somit nur ein paar Erinnerungen an die angespannte Atmosphäre in der Zeit davor: Meine Großeltern hatten damals jeden Sommer eine Woche „im Geist von Taizé“ für Jugendliche organisiert. Heimlich natürlich – weit ab von der Zivilisation auf einer Hütte im Böhmerwald. Es trafen sich dort etwa sechzig Leute verschiedener Konfessionen. Oft kamen auch Besucher aus dem „Westen“. Schon als Kind konnte ich dadurch etwas von der einmaligen Atmosphäre mitbekommen. Die Leute waren wirklich froh, dass sie zusammen beten konnten, man fühlte die Verbundenheit, denn in jedem Augenblick konnte die Staatspolizei kommen.

Die Ereignisse 1989 bedeuteten für die Kirche eine neue Herausforderung. Würde es ihr gelingen, sich an die „neuen Verhältnisse“ anzupassen? Was erwarte ich eigentlich in der heutigen Zeit von der Kirche und von der Gesellschaft Tschechiens? Wenn ich im Folgenden das Wort „Kirche“ benutzen werde, meine ich die katholische Kirche, weil sie in der Tschechischen Republik am stärksten vertreten ist und weil ich sie am besten kenne.

Im Allgemeinen ist Tschechien – hauptsächlich Böhmen – im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ein sehr atheistisch geprägtes Land. Das erschwert natürlich die Position der Kirche und ihren Dialog mit der Gesellschaft. Von der Diskussion hieraus resultierender Fragen, wie z. B. ab welchem Alter sich die Schüler in Deutschland für Religionsunterricht oder Ethik selbst entscheiden dürfen, ist unsere Gesellschaft weit entfernt. Religionsunterricht gibt es in der Regel nur an den kirchlich getragenen Schulen. Ich war immer das einzige Kind in meiner Klasse, das „religiös“ war, und musste damit zurecht kommen, dass ich irgendwie anders war – sechs Geschwister, aktive Teilnahme an verschiedenen kirchlichen Aktivitäten usw. Manchmal war es nicht einfach, sich immer in dieser „Sonderposition“ zu befinden; besonders weil viele Leute zur Kirche eine negative Einstellung hatten, obwohl sie eigentlich sehr wenig über sie wussten.

Wie es dazu gekommen ist, dass in der tschechischen Gesellschaft solche Vorurteile gegenüber der Kirche entstanden sind, ist mir nicht ganz klar. Natürlich bietet sich hier die Erklärung, dass es das Erbe der kommunistischen Ideologie ist. Das spielt sicher eine Rolle, aber erklärt nicht alles. Während der „Samtenen Revolution“ 1989 und noch kurz danach wurde nämlich die Kirche als Symbol der Opposition, vielleicht sogar als moralische Autorität angesehen. Unter den Dissidenten gab es viele Christen, auch heimlich geweihte Priester, die sich an der Gestaltung der Demokratie in der Tschechoslowakei aktiv beteiligten.

Ich sehe zwei mögliche Gründe für eine negative Einstellung der tschechischen Gesellschaft zur katholischen Kirche: Erstens ist die Antipathie in Tschechien gegen die katholische Kirche nicht erst mit dem Kommunismus in den fünfziger Jahren entstanden, sondern sie entwickelte sich schon viel früher. Zur Zeit des Kaiserreichs Österreich-Ungarn war die katholische Kirche mit der Habsburger-Dynastie verbunden. Vereinfacht bedeutete das für den aufstrebenden tschechischen Nationalismus: Kampf gegen die Monarchie = Kampf gegen die katholische Kirche. Zweitens gelang es der Kirche trotz der scheinbar positiven Einstellung der Bevölkerung nach der Revolution 1989 nicht, mit der Gesellschaft zu kommunizieren und damit den verborgenen Vorwürfen den Boden zu entziehen.

Vielleicht scheint dieser Exkurs über die Vergangenheit überflüssig zu sein. Für das Verständnis der heutigen Situation in der Kirche und Gesellschaft hielt ich es jedoch für wichtig, zumindest diese Punkte anzubringen. Jetzt werde ich versuchen, mich mehr auf die Zukunft zu orientieren und meine Erwartungen an die Kirche zu äußern.

Vor allem erwarte ich von der Kirche in Tschechien, dass sie sich öffnet, dass sie sich auch für Probleme von Menschen interessiert, die nicht zu ihr gehören bzw. die nicht die Art und Weise der katholischen Religiosität gewohnt sind. Wie ich bereits angedeutet habe, bewegte ich mich sehr oft in einer „atheistischen“ Umgebung und hatte natürlich viele Freunde, die nie religiös erzogen wurden. Für diese Menschen ist es sehr schwierig zu verstehen, was die Kirche sagt, was eigentlich während der Messfeier geschieht, oder wozu es überhaupt eine Kirche gibt. Für jemanden, der nie in der Kirche war, ist das eine völlig fremde Sprache und Gestik, was wir „Katholiken von Kind auf“ als selbstverständlich ansehen. Mein Wunsch oder meine Erwartung an die Kirche ist es, allen Menschen, die mit ihr aus den verschiedensten Gründen in Kontakt treten, Verständnis zu zeigen. Ich wünsche mir den Willen zu sehen, ihnen Kirche und Glauben verständlich zu erklären. Das setzt jedoch voraus, dass die Kirche, die Christen, sehr viel über den Glauben, über das christliche Leben selbst nachdenken, dass sie nie aufhören, sich zu hinterfragen und Antworten zu suchen. Dann, so glaube ich, könnten wir besser unterscheiden, was im Christentum eigentlich wichtig und was vordergründig ist, und könnten es auch nach außen kommunizieren. Ein Beispiel dazu: Kurz vor Ostern hat ein Priester (anstatt der Predigt) sehr lange und detailliert darüber gesprochen, welche die genaue Regelung der katholischen Messen während der Osterzeit ist – ab wieviel Uhr kann man schon am Samstag die Auferstehung feiern und Ähnliches ... als ob es das Wichtigste in dieser Zeit wäre, alle Vorschriften genau einzuhalten! Kein Wort zum Evangelium, kein Wort über Gott. Ich kann jetzt sehr gut verstehen, warum so viele Leute glauben, dass Katholizismus hauptsächlich ein System unveränderbarer Regeln und weit von menschlichen Bedürfnissen entfernt ist.

Also, wie und wieweit soll die Kirche versuchen, die Menschen zum Christentum zu bekehren? Ich bin überzeugt, dass eine Evangelisierung durch Druck schweren Schaden hinterlassen kann – oft für das ganze Leben. Viele von meinen Mitschülern haben schlechte Erfahrungen mit Missionaren gemacht, die meistens aus den USA und von dort aus verschiedenen evangelischen Konfessionen kamen. Es wurden z. B. verschiedene „Englisch-Camps“ organisiert, bei denen es allerdings hauptsächlich um Evangelisierung ging. Die Missionare versuchten die jungen Leute sehr davon zu überzeugen, dass, wenn sie jetzt beginnen, an Christus zu glauben, und sich bekehren, ihr Leben sofort anders sein wird. Eine solche Atmosphäre der „allgemeinen Euphorie“, des psychischen Drucks und gemeinsamen Singens sentimentaler Lieder führt dazu, dass man mitmacht, aber selten bleibt nach ein paar Begegnungen mehr als das unangenehme Gefühl, manipuliert worden zu sein.

Die Kirche sollte meiner Meinung nach einen anderen Weg gehen. Gemeinden, in denen Raum für gelebtes Miteinander ist, die lebendig sind und sogar relativ unabhängig von dem Priester funktionieren, sprechen ohne übernatürlichen Druck auch eine größere Anzahl von Menschen an. Solch eine Evangelisierung – durch das Beispiel des eigenen Lebens – zwingt nicht, aber lädt ein.

Als ich klein war, hat meine Familie viel Zeit in einer einsamen Pfarrei auf dem Lande verbracht. In die Gemeinde dort kam ein junger aktiver Pfarrer, und nach ein paar Jahren hatte sich die Struktur der Gemeinde völlig verändert: anstatt nur vor „fünf alten Damen“ zu predigen, gingen auf einmal mehrere Familien zum Gottesdienst. Die Kinder bereiteten sich immer während der Woche auf das Sonntagsevangelium vor und zeichneten Bilder, die dann für die Kinderpredigt benutzt wurden. Weil der Priester in mehreren Gemeinden tätig war, konnte er nur jeden zweiten Sonntag kommen, trotzdem gab es immer einen Wortgottesdienst, wenn er nicht da war. So etwas mag heute vielleicht ganz normal erscheinen, aber Mitte der achtziger Jahre war diese Gemeinde etwas Besonderes. Es gab relativ wenig Priester damals: Einem großen Teil von ihnen wurde nämlich die staatliche Zustimmung zur öffentlichen Tätigkeit entzogen. Sie verdienten sich ihren Lebensunterhalt meistens als Arbeiter und konnten nur heimlich ihrer eigentlichen Berufung nachgehen. Wenige Priester konnten zwar aktiv sein und daher auch etwas „mehr machen“, waren aber unter ständiger Kontrolle und Druck des Staatsapparats.

Heute besuche ich regelmäßig eine Kirche in Prag, wo eine solche lebendige Gemeinschaft entstanden ist. Für den Priester spielt die Einbeziehung der Gemeinde eine große Rolle: Die Laien wirken direkt mit, es gibt verschiedene Aktivitäten während der Woche (für Jugendliche, Mütter, Rentner usw.). Natürlich ist auch hier alles nicht perfekt und harmonisch, aber man kann das Leben und die Bewegung spüren. Was ich an dem Priester besonders schätze, ist seine Bereitschaft, über Kirche, Glauben und Gesellschaft nachzudenken.

Ein weiteres Thema, welches mir am Herzen liegt, ist die Einstellung der katholischen Kirche zu anderen Konfessionen. Vor drei Jahren heiratete ich David, der aus einer evangelischen Familie stammt. Um sonntags nicht getrennte Wege gehen zu müssen, besuchen wir beide die katholische Kirche, was ich ihm hoch anrechne, denn die äußerlichen Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen sind ziemlich deutlich. Absichtlich benutze ich das Wort „äußerlich“, weil damit zwar bestimmte Aspekte des Christentums betont werden; wenn man jedoch über die Substanz des Glaubens spricht, stehen wir uns eigentlich sehr nah. Praktisch könnte es aber Schwierigkeiten geben, die die Kirche(n) nicht unbedingt zu erleichtern versucht. Im Gegenteil: Es wird immer wieder betont, dass die katholische Kirche „am Tisch Christi am nächsten sitzt“ und deswegen eine spezielle Position hat. Ist diese Superiorität wirklich nötig? Z. B. war es für uns nicht einfach, sich darauf zu einigen, wo wir heiraten. Wir entschieden uns aus verschiedenen Gründen letztendlich für die katholische Kirche, worüber ich mich freue. Aber, als ob es nicht genug wäre, dass wir uns einigten, verlangte die Kirche von David eine Unterschrift, dass er unsere zukünftigen Kinder katholisch erziehen würde. Dabei spreche ich gar nicht über Kommunion und anderen Unterschiede. Auch unsere „Ehevorbereitung“ mit dem Priester war eigentlich keine Vorbereitung für die Ehe, es ging gar nicht um uns als zwei Leute, die sich lieben – es drehte sich alles um das Problem, dass David nicht katholisch ist und er deswegen nicht völlig am Kirchenleben teil nehmen darf. Heute wundere ich mich, dass er es überstanden hat. Oft endet es aber so, dass die Leute auf die katholische Kirche verzichten.

Mein letzter Punkt bezüglich der Kirche in Tschechien ist die Problematik der Ausbildung der Priester, deren Ansichten sich vor allem während ihrer Studienzeit bilden. Eigentlich wird damit die Orientierung der Kirche für eine ganze Generation bestimmt. Ein abschreckendes Beispiel ist bzw. war das Priesterseminar in Prag: Das Niveau des Unterrichts war niedrig, neueste theologische Strömungen wurden ignoriert, Studenten nicht zur Selbstständigkeit angeleitet. Die Fakultät der Katholischen Theologie in Prag war wie von der restlichen Welt abgeschnitten. Mit Ausnahme der Fernstudiengänge wurden dort lediglich Männer angenommen. Dieses führte etwa dazu, dass meine katholische Freundin an der Evangelischen Fakultät Theologie studierte.

Eine weitere ernsthafte Folge dieses Ausbildungssystems ist es jedoch, dass viele der Seminaristen keine gesunde Beziehung zu Frauen finden konnten: Es gab kein obligatorisches Pastoralpraktikum für die Seminaristen, in denen man mit Frauen und Mädchen in Kontakt hätte treten können. Sogar in der Mensa der Theologischen Fakultät gab es getrennte Tische für Männer und Frauen. Erst als das Tschechische Ministerium für Bildung im Jahre 2002 damit drohte, der Katholischen Theologischen Fakultät in Prag die staatliche Zulassung zu entziehen, begann sich die Situation zu verbessern. Mein letzter Wunsch an die katholische Kirche in Tschechien ist es also, dass diese Reformen fortgesetzt werden.

Ich finde es bereits nicht einfach, meine Erwartungen an die katholische Kirche zu nennen, die sehr vielfältig, aber trotzdem relativ klar definiert ist. Noch viel schwieriger scheint es mir, meine Erwartungen an die so heterogene tschechische Gesellschaft zu äußern. Ihre kommunistische Vergangenheit beeinflusst die heutige tschechische Gesellschaft immer noch in starkem Maße, und somit wird es noch lange dauern, bis sie ihre eigene Identität findet.

Ein Wunsch fällt mir ein: Wir als Tschechen sollten uns bewusst werden, dass die Welt sich nicht um uns dreht, dass es auch andere Menschen mit unterschiedlichen Problemen gibt, und vielleicht auch, dass viele Ausländer anders sind, als wir sie ansehen. Ich wünsche mir, dass eine größere Zahl von Tschechen als bisher für eine gewisse Zeit im Ausland leben würde. So können sie ihr Land aus einer anderen Perspektive sehen und ihre eigene Identität besser verstehen.

Die Beziehungen zwischen Tschechien und anderen europäischen Staaten liegen mir sehr am Herzen. Deswegen würde ich gern, zumindest für eine gewisse Zeit, im Dienst der Tschechischen Republik im Ausland arbeiten und versuchen, zum positiven Ansehen unseres Landes beizutragen.