Europas Beziehungen zu Russland: Wie wir die Herausforderung annehmen können

aus OWEP 2/2005  •  von Peter Wittschorek

Peter Wittschorek leitete mehrere Jahre die Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung in Südosteuropa, Osteuropa und im Kaukasus und ist nun als Berater in Projekten zur Stärkung der Zivilgesellschaft in der Ukraine tätig.

Zweifellos ist Russland eine besondere Herausforderung für Europa. Nicht im wörtlichen, provozierenden Sinn, der unseren geteilten Kontinent viele Jahre ebenso charakterisierte wie belastete. Nach der Überwindung scharf trennender Mauern in Köpfen und Landschaften sowie durch Öffnung, Wandel und Transformation auf allen Seiten sind der Wille und die Überzeugung zur Annäherung an Russland und zu einem engeren Zusammenwirken gewachsen. Wie aber begegnen wir dem weiten, vielfältigen und sich auch weiter veränderndem Land in eigentümlich ferner Nachbarschaft? Was wissen wir von den Meinungen, Überzeugungen und Sorgen der uns kaum mehr als aus stereotypen Darstellungen bekannten Menschen? Was verstehen wir vom Handeln ihrer politischen Führung um den so gegenwärtigen wie im Verborgenen bleibenden Präsidenten Wladimir Putin? Worauf gründet unser neues Verhältnis zu Russland, und wieweit können wir es aktiv mit gestalten? Folgende vier Gedanken können uns beim Umgang mit dieser Herausforderung behilflich sein.

Russland als Teil Europas

Bei allem Unterschiedlichen und Trennenden, Europas Selbstverständnis und Konstitution werden durch die Nachbarschaft Russlands im Osten, wo der an dieser Flanke nicht exakt zu fassende Kontinent mit ihm geographisch wie auch anderweitig seine Fortsetzung findet, mit bedingt. Hinderlich und unzulänglich ist die in westlicher wie östlicher Perzeption immer wieder anzutreffende Reduzierung Europas auf seinen dynamischen und attraktiven West- oder EU-Teil; zumal dieser durch die Erweiterung der EU ohnehin in Veränderung begriffen ist – auch in seinem Verhältnis zu Russland, wie die von den gewissermaßen die Richtung vorgebenden baltischen und mitteleuropäischen Staaten belebten Debatten um das Gedenken des Weltkriegsendes oder die Ächtung nicht nur der Hakenkreuz-, sondern auch der Hammer-und-Sichel-Symbolik exemplarisch zeigen. In die gleiche Richtung weist die allmähliche Wahrnehmung einer vom Kreml unabhängigen, aber eng mit ihm verbundenen Ukraine – und sollte ein verantwortungsvolleres Handeln hinsichtlich einiger keineswegs außereuropäischer Konflikte mit russischer Beteiligung, die Tragödie im Nordkaukasus an erster Stelle, weisen. In Leid und Freud gemachte Erfahrungen der Verbundenheit mit Russland, eine wachsende Überzeugung der Zugehörigkeit zum gleichen Kontinent und die Bereitschaft, sich nicht nur mit „Russland und Europa“, sondern auch mit „Russland in Europa“ zu beschäftigen, ermöglichen uns die Annäherung an diese sehr reale Herausforderung und eine profunde Auseinandersetzung mit ihr.

Aufmerksame und bewusste Wahrnehmung

Nicht ohne Stolz verzeichnen wir zahlreiche Einflüsse auf unsere östlichen Nachbarn, deren Stammland, die Kiewer Rus, von skandinavischen Warägern geeint und durch Griechen und Bulgaren christianisiert wurde. Zar Peter der Große erfuhr in Holland und England seine Ausbildung, um seiner Heimat das Tor nach Europa zu öffnen, und seine Nachfolgerin Katharina die Große, geborene von Anhalt-Zerbst und Großmutter zahlreicher europäischer Herrscherhäuser, personifizierte den aufgeklärten Zarenhof. Im 19. Jahrhundert brachten Intellektuelle die Ideen des Liberalismus nach Russland, in heutiger Zeit kümmern sich Berater und internationale Organisationen um die Stärkung rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Ideengutes. Lang ist die Liste strategischer Zusammenarbeit und Einbindung, von der Heiligen Liga gegen die Türken über die Heilige Allianz zur Restauration der europäischen Herrschaftshäuser nach der Französischen Revolution und die dem barbarischen Nazideutschland Einhalt gebietenden Alliierten Mächte bis zur sogenannten Anti-Terror-Koalition unserer Tage. Dazu treten anregende Begegnungen mit Literatur, Musik und Kunst russischer Provenienz, sowie dieses besondere Lebensgefühl, das durch viele Zuwanderer auch in Orten wie Paris, Zürich, London, Baden-Baden und Berlin zu Hause ist. Schließlich die große Faszination, die Russland auf Abenteurer und Reisende ebenso wie auf Unternehmer und Spekulanten ausübt, wovon die zunehmende Popularität in unsern Medien und Börsenblättern zeugt.

Dieser teilweise überheblichen oder romantisierten Wahrnehmung stehen Distanz hinsichtlich Entwicklung und Selbstverständnis Russlands sowie leidvolle Enttäuschungen gegenüber. Schon unter der Mongolenherrschaft verpasste es den Anschluss an Humanismus und Renaissance, unter der Führung Moskaus als „Drittes Rom“ wurde es zum Hort der Orthodoxie, den Herausforderungen der industrialisierten Gesellschaft war es aufgrund seiner feudalen Strukturen nicht gewachsen. Mit den Sowjets erlebte Russland Umsetzung und Perversion der in dem Land auf fruchtbaren Boden gefallenen kommunistischen Ideologie und überzog den Kontinent in einer Mischung aus Übereifer und Selbstüberschätzung mit Gewalt, Spaltung und Leid. Unter Putin entfernt es sich in eindrucksvoller wie beängstigender Geschwindigkeit vom für die meisten europäischen Länder wegweisenden Ideal der Demokratie und erhebt dabei einen jüngst am Beispiel der Ukraine in dramatischer Weise demonstrierten Machtanspruch über die eigenen Grenzen hinaus. Hinzu kommen Bilder einer zunehmend von Korruption durchsetzten Ökonomie, einer mit Verarmung, sinkender Lebenserwartung und Resignation kämpfenden Bevölkerung und von durch Isolation oder sogar Straftaten in unseren Städten auffällig werdenden Immigranten. Das staatliche Morden in Tschetschenien schließlich und das verordnete Schweigen darüber beschreiben einen zivilisatorischen Tiefpunkt unseres Kontinents.

Im Einzelnen sind alle Eindrücke und Erfahrungen gerechtfertigt und nachvollziehbar, das Bild, das sie ergeben, bleibt aber verzerrt und unvollständig. Eine Annäherung an die komplexe Realität dieses weiten wie vielfältigen Landes ist abhängig von einer weiter wachsenden Aufmerksamkeit und einem Interesse, das über die Reduktion auf Oberflächliches und tagespolitische Ereignisse hinaus reichen, Mythen und Klischees überwinden und einen bewussten Umgang miteinander ermöglichen muss. Der Herausforderung Russland stellen wir uns erst, wenn wir Einseitigkeit aufgeben, um ins Gespräch zu kommen und mehr voneinander mitzubekommen.

Beziehungen auf allen Ebenen

Nie zuvor waren die Möglichkeiten derart reich und vielseitig, Begegnungen mit Russland und seinen Menschen als Schlüssel zum Kennenlernen, zum Erfahren von Gemeinsamkeiten und zur Überwindung oder aber Akzeptanz von Unterschiedlichem und Trennendem nutzen zu können. Die Intensivierung des Austausches auf verschiedenen Ebenen knüpft an die positiven Erfahrungen an, die Deutsche und Europäer in den letzten Jahren in vielfacher Weise schon miteinander machen konnten. So gewinnen nun auch in den Beziehungen mit Russland kleine und größere Initiativen an Bedeutung: Privatreisen in beide Richtungen, was uns nicht nur als Gäste, sondern auch als Gastgeber fordert, Partnerschaften zwischen Städten, Vereinen und Behörden sowie Geschäftsbeziehungen, dazu der immer dynamischere Kunst-, Jugend- und Wissenschaftsaustausch sowie andere Kontakte, um die zunehmend speziell ausgerichtete Organisationen bemüht sind. Auch zwischen den Kirchen wird der Ausbau der Beziehungen angestrebt, wobei zusätzlich zu Treffen und Konsultationen auf Leitungsebene immer mehr Begegnungen von Gemeinden und Gläubigen zum Motor werden können.

Kontakte zwischen motivierten und engagierten Menschen bieten in allen Bereichen ein noch sehr wenig beachtetes Potenzial für die gegenseitige Annäherung. Zivilgesellschaftliche Strukturen und Aktivitäten, die seit einigen Jahren auch in der russischen Gesellschaft an Bedeutung und Einfluss gewinnen und der von oben gelenkten, an Einzelinteressen orientierten Herrschaft eine zukunftsfähige Alternative entgegen zu setzen vermögen, können genauso nach Außen einen Brückenschlag unabhängig von offiziellen Vorgaben und Restriktionen leisten. Die vielen bereits bestehenden und weiter hinzu kommenden bi- oder multilateralen Initiativen in Vereinen, Verbänden, Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen sind wichtige Foren, um aneinander zu rücken und verstehen zu lernen, und verdienen tatkräftige Unterstützung. Auf dieser Ebene ist nicht nur der direkteste Kontakt möglich und erwünscht, auf Dauer wird er sich auch immer weniger von bleibenden oder neu hinzukommenden Unzulänglichkeiten und Hindernissen wie natürlichen Sprachbarrieren oder Entfernungen, lästigen Visa- und anderen formalen Prozeduren, mangelndem politischen Willen, Behinderung oder gar Sabotage entmutigen lassen.

Gemeinsame Zukunftsräume durch Einmischung und Vertrauen

Auch die Annäherung und Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene, Russlands Mitgliedschaft in Europarat und OSZE, die Strategische Partnerschaft zwischen Russland und EU oder die intensiven deutsch-russischen Beziehungen haben ihre grundsätzliche Berechtigung vor allem darin, dass sie Kommunikation, Austausch, Verständigung und Zusammenarbeit ermöglichen. Gänzlich wirkungsvoll sind sie aber erst, wenn Offenheit, Einmischung, Dialog- und Kritikfähigkeit genauso selbstverständlich zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft gehören. Ein anschauliches Beispiel ist die derzeitige Ausgestaltung der Strategischen Partnerschaft Russland-EU in ihren vier gemeinsamen Räumen Wirtschaft, Außen- und Sicherheitspolitik, innere Sicherheit, Kultur / Information / Bildung. Der Prozess beschränkt sich keineswegs auf solche für beide Seiten vorteilhafte und somit wenig problematische Teilbereiche wie Energieallianz oder Kooperation in Wissenschaft und Technologie, sondern umfasst auch einige kontroverse und daher sehr viel schwieriger zu bearbeitende Aspekte wie die Lösungen von Konflikten im ehemals sowjetischen Machtbereich oder die Einbeziehung von Grund- und Freiheitsrechten. Die Auseinandersetzung ist damit weder umfassend, beispielsweise mangelt es an einer zivilgesellschaftlichen Dimension (wofür die EU zu wenig Potenzial hat), noch wird sie ohne Rückschläge und Kompromisse vonstatten gehen (allzumal wenn auf beiden Seiten keineswegs mit einer Stimme gesprochen wird). Von Bedeutung aber ist, dass solche Foren geschaffen werden und der Austausch aufgenommen wird.

Unter falscher Zurückhaltung und Verschweigen leiden unsere Beziehungen dauerhaft nicht weniger als unter Unwissenheit. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, auch wenn sie zunächst nur von einer Seite ausgehen, geben Anregung und Beispiel und versprechen auf lange Frist den größten Nutzen. Gerade im Verhältnis mit Russland lässt sich heute lernen, dass durch Einmischung und den Aufbau von Vertrauen als zentrale Bestandteile quantitativ, aber auch qualitativ wachsender Beziehungen neue Formen des Miteinander und Füreinander geschaffen werden können. Die Möglichkeit, durch Öffnung und Vertiefung weiterer, zudem kontroverser und umstrittener Räume miteinander bekannt und vertraut zu werden und darauf aufbauend die gemeinsame Zukunft zu formen, ist unsere eigentliche Herausforderung für Russland in Europa.