Getrennte Vergangenheit – gemeinsame Zukunft? Polnische und deutsche Katholiken 1945-1978

aus OWEP 4/2005  •  von Karl-Joseph Hummel

Dr. Karl-Joseph Hummel ist Direktor der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn.

Die Vorsitzenden der beiden Bischofskonferenzen, Erzbischof Józef Michalik und Karl Kardinal Lehmann, unterzeichneten am 21. September 2005 in Fulda eine polnisch-deutsche Gemeinsame Erklärung zum 40. Jahrestag des Briefwechsels der katholischen Bischöfe beider Länder vom 18. November / 5. Dezember 1965 und würdigten darin die „mutige Tat“ von 1965 als „einen entscheidenden Schritt zum Neuanfang in den gegenseitigen Beziehungen unserer Völker“.

Diese positive Würdigung versteht sich nicht von selbst. Noch 1995 waren die Fragen, die Kardinal Glemp 30 Jahre nach dem Briefwechsel auf einer gemeinsamen Pressekonferenz polnischer und deutscher Bischöfe 1995 in Warschau gestellt hat, nicht nur rhetorische Fragen: „Warum gewann jener Brief einen solchen Widerhall, warum rief er Empörung bei den kommunistischen Regierungsmannschaften hervor, warum wiegelte er vorübergehend Menschen gegen die Kirche auf, warum erzeugte er auf deutscher Seite auch Nachdenklichkeit hinsichtlich der politischen Konsequenzen in bezug auf die Gebiete, die man ‚unter polnischer Verwaltung‘ zu nennen pflegte?“1 1965 waren sich nicht viele der wegweisenden Bedeutung dieses Briefwechsels so sicher wie Otto B. Roegele: „Wie immer diese Auseinandersetzung … ausgehen wird, der moralische Anspruch der Bischöfe, daß sie in Gewissensfragen der Nation für ihr ganzes Volk zu sprechen legitimiert sind, wird aus der Diskussion nicht mehr verschwinden.“2

Christliche Avantgarde

Bei einem Vergleich mit den Bemühungen um die deutsch-französische Aussöhnung fallen im Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn Polen einige wichtige Unterschiede auf. Die Initiative zu einem Neuanfang mit Polen kam deutlich später, die Beziehungen erwiesen sich als belasteter und komplizierter und wurden bis heute immer wieder von Rückschlägen bedroht oder erschwert. Die ersten Nachkriegskontakte zu Polen wurden zunächst nicht auf der diplomatisch-politischen Bühne der Bundesrepublik Deutschland geknüpft wie z. B. die Beziehungen zwischen Robert Schuman, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, sondern über privates Engagement aus beiden Teilen Deutschlands, häufig von Menschen angebahnt, die sich bereits von früher kannten. Die Initiative lag meist bei Einzelnen, bei Künstlern, bei Intellektuellen, vor allem aber bei den christlichen Kirchen, denen das Verdienst zukommt, „in der Breite der Gesellschaft in Deutschland wie in Polen eine Diskussion ausgelöst zu haben, die letztlich die Voraussetzung dafür schuf, die starren Fronten politischen Denkens aufzubrechen und neue Wege zu gehen.“3

Schwieriger Beginn

Die Beziehungen der deutschen und der polnischen Katholiken waren nach 1945 nicht nur bilateral belastet, sondern bildeten auch eine der allgemeinpolitischen Koordinaten des Kalten Krieges und blieben schließlich nicht unbeeinflusst von den Auseinandersetzungen um die vatikanische Ostpolitik vor allem Papst Pauls VI. und seines „Außenministers“ Agostino Casaroli.

Die schwerwiegendste, bis zum heutigen Tag nicht ausgeräumte geschichtliche Belastung in den Beziehungen zwischen deutschen und polnischen Katholiken ist erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit in eben dieser Dreierbeziehung entstanden und wurde durch den von polnischer Seite angestrengten Seligsprechungsprozess für Kardinal Augustyn Hlond (1881-1948) Mitte der 1990er Jahre erneut in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In diesem Konflikt geht es um die Frage, welche päpstlichen Sondervollmachten dem Primas 1945 zur Verfügung standen, um die deutschen Bischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare und Domkapitel in drei ostdeutschen Diözesen (Breslau, Ermland, Freie Prälatur Schneidemühl) und den deutschen Teilen der Diözesen Prag und Olmütz zum 1. September 1945 durch Apostolische Administratoren zu ersetzen, und ob er davon in der rechten Weise Gebrauch gemacht hat. Daneben gibt es aber auch manche bilaterale Streitfrage wie die „Kirchenglocken“ oder „Kirchenbücher“, die sich zu einem jahrzehntelangen Dauerbrenner mit brisantem emotionalen Streitwert entwickelten.

Frühe Initiativen

Zu den frühen Gesprächskontakten gehörte neben einer Reihe von Einzelinitiativen 1957 das Treffen deutscher Publizisten mit Redakteuren der Zeitschrift Znak und der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny in Wien, auf dem der Chefredakteur der KNA, Karl Bringmann, Stanisław Stomma zu einem Besuch in der Bundesrepublik einlud, der 1958 tatsächlich auch stattfinden konnte. Eine offizielle Teilnahme polnischer Katholiken am Kölner Katholikentag 1956 bzw. 1958 in Berlin war damals dagegen noch nicht möglich.

Deutliche Veränderungen, die auch durch Umfrageergebnisse belegbar sind, ergaben sich erst in den 1960er Jahren, als z. B. von Magdeburg aus Jugendgruppen als kleines Zeichen der Sühne und des Versöhnungswillens nach Polen pilgerten, sofern die DDR-Behörden die notwendigen Genehmigungen nicht verweigerten. Ab 1964 wurde diese Initiative auch von der Aktion Sühnezeichen unterstützt und dadurch zu einem ökumenischen Anliegen. 1964 fand die Pilgerfahrt nach Auschwitz statt, die am Beginn des Maximilian-Kolbe-Werks steht, die ersten Freiwilligen meldeten sich zu Arbeitseinsätzen in ehemaligen Konzentrationslagern.4

Als Anfang der 1960er Jahre die Zeit des „kollektiven Beschweigens“ in der Bundesrepublik Deutschland zu Ende ging und die zeitgeschichtliche Erforschung zunächst der Anfangsjahre des „Dritten Reiches“ begann, war Julius Döpfner (1913-1976) einer der Wortführer in der geschichtspolitischen Vergangenheitsdebatte über die Rolle der katholischen Kirche. Seine berühmt gewordene Berliner Hedwigs-Predigt vom 16. Oktober 1960 war der erste erfolgreiche Versuch, den Blick nicht nur auf die Konflikte der Vergangenheit, sondern auch auf die Aufgaben für eine gemeinsame Zukunft zu richten. Der damalige Berliner Bischof betonte zwar, es könne nicht Aufgabe eines Bischofs sein, politische Pläne zu entwickeln, gleichwohl stieß er mit seiner Initiative weitreichende politische Entwicklungen an, als er dem deutschen Volk dringend riet, sich drei Punkte einzuprägen: „1. Krieg als Mittel zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschen scheidet von vorneherein aus … 2. Das deutsche Volk kann nach allem, was in seinem Namen geschehen ist, den Frieden nur unter sehr großen Opfern erlangen … Beide Völker müssten völlig darauf verzichten, sich gegenseitig Untaten vorzurechnen … 3. Für die Zukunft ist die Gemeinschaft der Völker und Staaten wichtiger als Grenzfragen.“5

Auf polnischer Seite war eine der treibenden Kräfte, „in persönlichen Gesprächen die Kluft zwischen hüben und drüben zu überbrücken“, Bolesław Kominek (1903-1974). Kominek, seit Dezember 1956 Bischöflicher Verwalter des Administraturbezirkes Breslau, nahm z. B. einen deutschen Vorschlag auf und regte im November 1963 in Rom an, sich gegenseitig für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse von Edith Stein (1891-1942) und Maximilian Kolbe (1894-1942) einzusetzen: „Alle positiven Versuche eines fruchtreichen Zusammenarbeitens in der tausendjährigen Tradition des Nebeneinanderlebens beider Völker müssen aufs Neue in Erinnerung gebracht und in der Sicht der heutigen Lage bewertet werden.“ 1995 konnten die polnischen und deutschen Bischöfe in einem gemeinsamen Wort „Das Geschenk der Versöhnung weitergeben“ fast selbstverständlich Maximilian Kolbe und Edith Stein als „mutige Zeugen des christlichen Glaubens in unserem Jahrhundert“ in einem Satz nennen.

1965 – Konflikt und Versöhnung

Als Papst Paul VI. bei der Eröffnung der zweiten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils am 29. September 1963 in einem denkwürdigen Appell an die Konzilsbeobachter der getrennten Kirchen Horaz zitierte: „Vergeben wir und bitten wir einander um Vergebung“ (Vers 11, Ars Poetica), konnten Bolesław Kominek und Karol Wojtyła nicht wissen, welche außergewöhnliche Bedeutung dieses Motto für sie persönlich noch bekommen sollte. Kominek formulierte im November 1965 mit diesem Satz die zentrale Botschaft des „Versöhnungsbriefes“, der spätere Papst Johannes Paul II. wiederholte dieses mea culpa nach seiner Wahl weltweit und unermüdlich, um die katholische Kirche vor dem Eintritt in ein neues Jahrtausend „durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten und Verspätungen zu reinigen.“

Im Sommer 1965 zeigte sich dann innerhalb weniger Wochen die komplexe Vielfalt von gleichzeitigem Festhalten an alten Positionen und dem Willen zu einem besseren Neuanfang. Zunächst erinnerte die Polnische Bischofskonferenz am 1. September 1965 in einem Hirtenbrief zum 20. Jahrestag des Aufbaus „polnischen Kirchenlebens in den West- und Nordgebieten“ an die Neuorganisierung des kirchlichen Lebens durch Kardinal Hlond. Die dabei verwendete nationale Rhetorik veranlasste Kardinal Döpfner am 3. September 1965 auf einer Pressekonferenz zu der Feststellung, es bestehe leider die Gefahr, dass der polnische Episkopat kirchliche und nationale Gesichtspunkte zu stark identifiziere, und provozierte damit seinerseits. In Rom suchte er jedoch im persönlichen Gespräch mit Primas Wyszyński die Wogen wieder zu glätten; die Meinungsverschiedenheiten über die Oder-Neiße-Grenze und den Anspruch Polens auf die deutschen Ostgebiete erwiesen sich damals aber noch als unüberbrückbar.

Im November 1965 luden die polnischen Bischöfe Amtsbrüder aus 57 Ländern ein, 1966 anlässlich der Millenniumsfeier seiner Christianisierung Polen zu besuchen. Die besondere Einladung an die deutschen Bischöfe enthielt den denkwürdigen Satz, der die Gläubigen auf beiden Seiten ebenso überraschte wie die politische Öffentlichkeit in Bonn, Ost-Berlin und Warschau: „In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und wenn Sie, deutsche Bischöfe und Konzilsväter, unsere ausgestreckten Hände brüderlich erfassen, dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf ganz christliche Art unser Millennium feiern.“

Für die Antwort der deutschen Bischöfe standen nur wenige Tage zur Verfügung. Der polnische Brief vom 18. November war nämlich protokollarisch korrekt an Kardinal Frings gerichtet, den noch amtierenden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, der sich damals aber nicht in Rom aufhielt. Die Einladung blieb deshalb bis zum 27. November ungeöffnet liegen. Am 2. Dezember 1965 wurde Kardinal Döpfner in Rom zum neuen Vorsitzenden gewählt. Mit der Improvisation der deutschen Antwort wurde dann federführend Kardinal Bengsch beauftragt, dessen Entwurf der Görlitzer Weihbischof Schaffran redaktionell ergänzte und überarbeitete. Das Antwortschreiben nahm im Wortlaut auf die polnische Einladung Bezug: „Furchtbares ist von Deutschen und im Namen des deutschen Volkes dem polnischen Volke angetan worden. Wir wissen, daß wir die Folgen des Krieges tragen müssen, die auch für unser Land schwer sind ... So bitten auch wir zu vergessen, ja wir bitten zu verzeihen. Vergessen ist eine menschliche Sache. Die Bitte um Verzeihung ist ein Anruf an jeden, dem Unrecht geschah, dieses Unrecht mit den barmherzigen Augen Gottes zu sehen und einen neuen Anfang zuzulassen … Mit brüderlicher Ehrfurcht ergreifen wir die dargebotenen Hände.“

Ernüchterung nach 1965

Zunächst war von einem versöhnten Neuanfang aber nur wenig zu bemerken. Die Regierungen in Ost-Berlin und Warschau hielten den Briefwechsel für Landesverrat und reagierten mit einer außergewöhnlich aggressiven Kampagne. Kardinal Bengsch wurde zum Staatssekretär für Kirchenfragen zitiert, die polnischen Bischöfe nach ihrer Rückkehr aus Rom in Polen verhört, die bemerkenswert gut informierten Geheimdienste der DDR und Polen stimmten bereits im Januar 1966 ihre Erkenntnisse ab. Die polnischen Bischöfe waren tief enttäuscht, ließen aber nicht erkennen, dass sie nicht einen pastoralen Brief, sondern eine politische Antwort erwartet hatten: „Ja“, sagte Erzbischof Kominek später, „es gab Mißverständnisse bezüglich dieses Briefwechsels. Diese Mißverständnisse beruhen wohl auf einem fundamentalen Mißverständnis, nämlich, der Brief war kein politisches Dokument, sollte wenigstens keines sein. Er war aus dem Konzile heraus geschrieben, aus dem Konzilsgeist verfaßt.“6 Für die national-polnische Seite schloss die Kirchenfrage freilich die Grenzfrage mit ein: Ich glaube, schrieb Kardinal Wyszyński, „daß dies mit Politik gar nichts zu tun hat. Es handelt sich einfach um die seelsorgerische Pflicht unserer Episkopate … Heutzutage ist Polen das letzte Bollwerk des Katholizismus im Osten. Darum ist unsere Grenzfrage auch eine Kirchenfrage“7. Noch fünf Jahre später schrieb Primas Wyszyński an Kardinal Döpfner: „Nun muß ich Ihnen ganz ehrlich gestehen, daß die Antwort des deutschen Episkopats auf unseren Versöhnungsbrief nicht nur die Polen, sondern auch die Weltmeinung enttäuscht hat … Die polnische Seite hatte zudem den Eindruck, daß unseres, durch Christenliebe diktiertes Entgegenkommen auf Politik gestoßen hat … Verzeihen heißt leider nicht vergessen.“8

Die deutschen Bischöfe waren dagegen eher bestrebt, „die ‚Versöhnung‘ von der Politik zu lösen: Gemeinsames Gebet und gegenseitige Besuche waren möglich, aber politische Zugeständnisse wie etwa die Zustimmung zur kirchlichen Neuordnung in den Oder-Neiße-Gebieten, die Anerkennung des Heimatrechtes der Polen dort oder gar ein klares Wort zur Grenze kamen nicht in Frage“9. Erst Ende der 1970er Jahre wurde die bis dahin vorherrschende Vergangenheitsperspektive von Überlegungen über die Gestaltung der Zukunft abgelöst. Gleichzeitig verloren die historische Argumentation und die Argumentation mit Rechtsansprüchen im deutsch-polnischen Dialog an Überzeugungskraft, während semantisch Europa, die Gemeinschaft der Völker und die Menschenrechte ins Zentrum rückten.

Im Zentrum heftiger innenpolitischer und ökumenischer Auseinandersetzungen in Deutschland standen ab 1965/1966 die Ost-Denkschrift der EKD (1. Oktober 1965) über die „Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen Nachbarn“10, die Bamberger Erklärung des 81. Deutschen Katholikentages (13.-17. Juli 1966)11 und das Bensberger „Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen“ (März 1968)12. Das Bensberger Positionspapier trug ca. 140 Unterschriften, auch von Nicht-Mitgliedern des Kreises.. Prominente Mitglieder des Bensberger Kreises wie Paul Mikat oder Otto B. Roegele distanzierten sich von dieser Erklärung, während andere Prominente wie Karl Rahner, Joseph Ratzinger oder Robert Spaemann die deutsch-polnische Annäherung damals mit ihrer Unterschrift unterstützten. Die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Vertriebenenorganisationen konnte sich diese Überraschung nur mit der Überlegung erklären, einige, „vornehmlich Hochschullehrer, Ordensleute und Theologen rankten sich bis heute an den Idealen der Jugend hoch, ohne diese in der rechten Weise an der Wirklichkeit zu messen.“13 Die Deutsche Bischofskonferenz gab eine kritische Stellungnahme zum Bensberger Memorandum ab.

Probleme der siebziger Jahre

In früheren Jahren hatte Kardinal Döpfner – nach Rücksprache in Rom – die Regierung in Bonn noch beruhigen können, man halte in Rom entschieden an der bekannten Gepflogenheit fest, vor einem Friedensvertrag nichts an dem Status von Bistümern zu ändern. Dies gelte für die Zone und die deutschen Bistümer im polnischen Staatsbereich gleichermaßen, obwohl der polnische Episkopat auf eine Änderung dränge. Seit seiner Rückkehr vom Konzil unterstützte Kardinal Döpfner aber die vatikanische Überlegung, die Bistümer östlich der Oder und Neiße aus seelsorgerlichen Gründen unmittelbar Rom zu unterstellen. Nuntius Corrado Bafile hätte es „im Interesse des Ausgleichs bestehender deutsch-polnischer Spannungen hoch“ bewertet, wenn dieser Vorschlag von deutscher katholischer Seite in die Öffentlichkeit gekommen wäre. Katholische Unionspolitiker wie Johann Baptist Gradl, Hans Globke, Karl Theodor Guttenberg und Heinrich Krone befürchteten damals zu Recht, die Kirche habe ihren Standpunkt schon bezogen, „das Heil der Seelen verlange Konzessionen“, warnten aber gleichwohl eindringlich vor den Konsequenzen, die ein solcher Schritt der Kirche unweigerlich auch für die Verhältnisse in der DDR haben würde, und sprachen in diesem Zusammenhang von einer drohenden „Lawine“ der „Normalisierung“, die dadurch ausgelöst würde.14

Intern hatten führende deutsche Katholiken freilich längst eine realpolitische Linie vorgegeben. Die ersten, noch zerstreuten Zweifel, ob die vatikanische Politik sich auch künftig an ihren altbewährten und oft bekräftigten Grundsatz halten würde, kirchenpolitische Entscheidungen erst nach definitiven politischen Vorgaben zu treffen, – neue Diözesangrenzen in der DDR und in Polen z. B. also erst nach einem Friedensvertrag festzulegen –, verstärkten sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Die Vertragspolitik der sozial-liberalen Bundesregierung spielte dem Vatikan dann durch die Ratifizierung des Warschauer Vertrags am 3. Juni 1972 das entscheidende Argument zu, zunächst in Bezug auf die Gebiete östlich der Oder und Neiße einen wichtigen Schritt weiterzugehen. Die vatikanische Verlautbarung zur Neuordnung der Gebiete östlich von Oder und Neiße vom 28. Juni 1972 hat sich ausdrücklich auf den deutsch polnischen Vertrag bezogen. Nach der Unterzeichnung und Ratifizierung des Warschauer Vertrags reagierte Rom binnen drei Wochen – und errichtete neue polnische Diözesen. In der vatikanischen Erklärung wurde zur Begründung auf pastorale Notwendigkeiten hingewiesen. Die vor dieser Entscheidung nicht konsultierte Deutsche Bischofskonferenz tat sich freilich schwer, gerade diesen Hinweis als den ausschlaggebenden Grund zu akzeptieren.

In den Jahren 1972-1978 spielten sich die Hauptauseinandersetzungen dann aber zunächst zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rom ab. Die Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, die Kardinäle Döpfner und Höffner, der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz Dr. Josef Homeyer, das Katholische Büro, die Präsidenten und der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Bernhard Vogel, Hans Maier und Friedrich Kronenberg, katholische Unionspolitiker wie Rainer Barzel, Herbert Czaja, Richard Jaeger, Helmut Kohl, Alois Mertes und Franz-Joseph Strauß, übernahmen in enger Abstimmung mit Kardinal Bengsch und teilweise mit dem Auswärtigen Amt sowie mit intensiver Medienunterstützung eine in dieser Form beispiellose Aktivrolle.

Nach den beiden Polenreisen der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz – 1973 reiste Döpfner erstmals nach Polen, im April 1977 Kardinal Höffner – kam es dann vom 20. bis 25. September 1978 unter Leitung des 77jährigen polnischen Primas, der bis dahin Polen nur verlassen hatte, um den Vatikan und Italien zu besuchen, zum ersten Gegenbesuch einer zehnköpfigen polnischen Delegation in der Bundesrepublik Deutschland. Die polnischen Bischöfe trafen auf ihrer „unpolitischen Pilgerreise“ offiziell keinen deutschen Politiker. Wyszyński hatte einen Besuch in Berlin ebenso strikt abgelehnt wie ein von Willy Brandt gewünschtes Zusammentreffen. Nach dem Urteil von Franz Alt war in der Geschichte der Bundesrepublik bis dahin kein unpolitischer Besuch politisch so wertvoll. Über den Erfolg des Zusammentreffens entschied folgender Fortschritt: Der polnische Primas war bereit, bei diesem Besuch erstmals nicht mehr über die Vergangenheit zu sprechen, sondern auf den zukunftsgerichteten Auftrag der Kirche in beiden Ländern hinzuweisen.

Der Blick war tatsächlich ab jetzt grundsätzlich in die Zukunft gerichtet – wenn auch die vertrauten Themen der Vergangenheit noch lange wie eine nicht abgelöste Hypothek wirkten. Wenige Wochen nach dem Besuch in Deutschland wurde der polnische Kardinal Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. gewählt, der sich die ostpolitischen Entscheidungen selbst vorbehielt und dabei von Beginn an eine grundlegend andere Politik verfolgte als Papst Paul VI. und Agostino Casaroli. Dadurch bekamen in dem jetzt beginnenden letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges alte Entscheidungen oft einen völlig neuen Stellenwert. Reinhold Lehmann reklamierte 1985 diese Neubewertung auch für den bischöflichen Briefwechsel: „Der Briefwechsel war kein isolierter historischer Vorgang. Er war Etappe auf dem Weg und zeigt die Auseinandersetzungen der damaligen Zeit, aber auch die heute noch schwelenden Probleme. Er wurde jedoch für die Folgezeit wegweisend. Entscheidend ist, dass die kirchlichen Kontakte sich zu dem Zeitpunkt weiterentwickeln konnten, als auch politisch durch den Warschauer Vertrag dem polnischen Sicherheitsbedürfnis mehr Rechnung getragen wurde.“


Fußnoten:


  1. Gemeinsames Wort, S. 13. ↩︎

  2. Otto B. Roegele: Versöhnung oder Haß? Der Briefwechsel der Bischöfe Polens und Deutschlands und seine Folgen. Eine Dokumentation. Osnabrück 1966, S. 76. ↩︎

  3. Theo Mechtenberg: Deutschland – Polen: Die Öffentlichkeitswirksamkeit der EKD-Denkschrift im Vergleich zum Briefwechsel der katholischen Bischöfe 1965. In: Ost-West-Informationsdienst Nr. 189 (1996), S. 41-50, Zitat S. 41. ↩︎

  4. Siehe Arkadiusz Andrzej Stempin: Wegbereiter im deutsch-polnischen Aussöhnungsprozess. Der Pax Christi Solidaritätsspende-Fonds und das Maximilian-Kolbe-Werk. Paderborn u. a. (im Druck). Vgl. außerdem Robert Zurek: 1964: Deutsche Katholiken in Auschwitz. Eine ungewöhnliche Wallfahrt. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 5 (2004), H. 4, S. 305-309↩︎

  5. Die Predigt wird zitiert nach: Wort aus Berlin. Rundfunkansprachen und Predigten des Bischofs von Berlin Julius Kardinal Döpfner. Bd. 2. Berlin 1961, S. 98-104. ↩︎

  6. Panorama-Interview vom 10.01.1966. ↩︎

  7. Brief des polnischen Primas an Kardinal Döpfner am 5.11.1970, in: Hansjakob Stehle, Warum die deutschen Bischöfe nicht gleich in die Hand der Polen einschlugen. In: Friedbert Pflüger/Winfried Lipscher, Feinde werden Freunde. Bonn 1993, S. 87. ↩︎

  8. Rom, 05.11.1970 (abgedruckt in: Deutschland und Polen. Kirche im Dienst der Versöhnung. Begegnungen, Dokumente, Perspektiven. Hrsg. von der Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 1996, S. 62). ↩︎

  9. Edith Heller: Macht Kirche Politik. Der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen im Jahre 1965. Köln 1992, S. 121. ↩︎

  10. Siehe Reinhard Henkys (Hrsg.): Deutschland und die östlichen Nachbarn. Beiträge zu einer evangelischen Denkschrift. Stuttgart, Berlin 1966. ↩︎

  11. Text in: Auf Dein Wort hin. 81. Deutscher Katholikentag vom 13. Juli bis 17. Juli in Bamberg. Paderborn 1966. ↩︎

  12. Ein Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen. Hrsg. vom Bensberger Kreis. Mainz 1968. Der Bensberger Kreis wurde am 7./8. Mai 1966 von Walter Dirks, Eugen Kogon u. a. im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Bamberger Katholikentag organisiert und erfasste zunächst etwa 100 katholische Laien verschiedener politischer Richtungen. 2004 hat sich der Kreis wieder aufgelöst. ↩︎

  13. Vgl. Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Vertriebenenorganisation (KNA Dokumentation Nr. 7, 02.03.1968, S. 5). ↩︎

  14. Karl-Joseph Hummel (Hrsg.): Vatikanische Ostpolitik unter Johannes XXIII. und Paul VI. 1958-1978. Paderborn u. a. 1999, S. 92. ↩︎