Aufbruch mit Geschichte

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2005  •  von Gunter Dehnert

Gunter Dehnert, Jahrgang 1980, studiert zur Zeit den Magisterstudiengang Philosophie, Deutsch und Geschichte an der Universität Regensburg. Vom Oktober 2004 bis Juni 2005 absolvierte er im Rahmen eines DAAD-Jahresstipendiums ein Auslandsstudium an der Uniwersytet Jagielloński im polnischen Krakau.

Entscheidet man sich in der Wahl seines Auslandsaufenthalts für Polen, gerät man gegenüber seinen Kommilitonen in der Heimat anscheinend ganz zwangsläufig in eine Rechtfertigungsposition. Natürlich gilt auch Polen bei uns spätestens seit dem EU-Beitritt im Mai letzten Jahres nicht mehr als vollkommene terra incognita, aber das vorherrschende Bild bleibt doch auch unter Wohlmeinenden immer noch recht unscharf und einseitig, denn bezieht man seine Informationen aus den einschlägigen und mittlerweile recht zahlreichen Reisereportagen, so werden vielfach nach wie vor die gleichen Stereotypen bedient: der polnische Bauer, der seine Ernte immer noch mit dem Panje-Wagen einbringt, Industriebrachen, ein Land, das wie kein anderes in seiner Geschichte lebt und unter ihr leidet. Das Ganze wird dann meist noch mit einem gewissen melancholischen Grundton unterlegt. Diese Art der Berichterstattung schließt durchaus auch seriöse Formate mit ein. Wobei – zumindest das mit der Geschichtslastigkeit stimmt unbestritten. Doch bleibt solch eine Behauptung weitgehend leer, wenn eine klare Benennung der Ereignisse ausbleibt, die dieser Gestimmtheit zugrunde liegen, zumal das polnische Gedächtnis weit über die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinausreicht. Will man das heutige Polen aber begreifen, dann darf man eben auch nicht nur in der Geschichte stehen bleiben und sich den Ergebnissen der Entwicklung seit dem Zusammenbruch Volksrepublik Polen verschließen, wobei sicher auch in meinem Fall das geschichtliche Interesse neben der Möglichkeit, meine Polnischkenntnisse zu verbessern, überwog. Dies wie wohl auch die praktischen Möglichkeiten, die ein Auslandsaufenthalt im größten der neuen EU-Mitgliedsstaaten bieten kann, bewogen mich schließlich beim DAAD zu einer Bewerbung für ein Jahresstipendium für Philosophie an der Uniwersytet Jagielloński in Krakau, nach der Prager Karlsuniversität immerhin die zweitälteste Universität Mitteleuropas und ganz zweifellos eines der geistigen Zentren Polens. Krakau auch deshalb, weil es von den originär polnischen Städten tatsächlich die schönste ist, was sicherlich neben ihrer Rolle in der polnischen Geschichte vor allem darauf zurück zu führen ist, dass der historische Kern im Gegensatz zu denen der meisten anderen polnischen Städte wundersamerweise unversehrt blieb. Diese Tatsache scheint sich auch bereits bei einer erstaunlichen Anzahl westlicher Touristen herumgesprochen zu haben, denn an schönen Frühsommerwochenenden hört man beispielsweise auf dem Rynek oder in der ulica Grodzka deutlich mehr Deutsch oder Englisch als Polnisch.

So verwundert es dann auch nicht, dass sich unter den sehr zahlreichen ausländischen Studierenden neben Ukrainern, Weißrussen, Litauern, die meist einen ordentlichen Studienabschluss in Polen anstreben, mittlerweile auch viele Austauschstudenten aus den alten EU-Mitgliedsstaaten, den USA oder Japan befinden. Die Motivation für einen solchen Schritt ist dabei vielfältig: Eine große Gruppe stellen nach wie vor Studenten mit polnischem Hintergrund, die einen Studienaufenthalt in Polen unter anderem auch dazu nutzen, ihr Herkunftsland besser kennen zu lernen. Daneben gibt es Studenten, die bereits Erfahrungen in Polen gesammelt haben und sich vor Ort meist einem bestimmten Projekt widmen möchten. Die wohl größte Gruppe endlich bilden aber Studenten, die lediglich über geringe oder gar keine Vorstellungen über die Gegebenheiten in Polen verfügen. Als Grund für einen Aufenthalt in Polen hört man aus dem letztgenannten Personenfeld dann nicht selten den exotischen Reiz, den ein solches ehemaliges „Ostblockland“ auf sie ausübe. Umso größer ist dann zum Teil die Verwunderung, ja manchmal schon Enttäuschung, wenn im Nachhinein festgestellt werden muss, dass die Verhältnisse in Polen eben doch bereits denen westeuropäischer Länder recht nah gekommen sind, inklusive solch negativer Auswirkungen wie einer hohen Scheidungs- und einer niedrigen Geburtenrate. In diesem Zusammenhang erschiene es doch wünschenswert, wenn die entsprechenden Personen sich bereits im Vorfeld ihres Aufenthaltes zumindest grundlegend mit dem, was auf sie zukommt, vertraut machten. Dies böte überdies den Vorteil, auf die häufig gestellte Frage polnischer Studenten hinsichtlich jener Beweggründe eine für beide Seiten befriedigendere Situation zu schaffen, denn natürlich fühlt man sich von polnischer Seite überhaupt nicht exotisch, sondern – bedingt auch durch den hohen Grad an Mobilität – längst in „Kerneuropa“ angekommen, aus dem man sich im übrigen auch nie richtig weg wähnte, höchstens gewaltsam ausgegrenzt.

Diese relative Normalität im Alltäglichen heißt natürlich nicht, dass Polen positive wie negative Eigenheiten zugunsten einer Annäherung an westliche Gegebenheiten völlig abgestreift hätte. So ist es mehr als ein Klischee, dass die Polen wohl eine der gläubigsten Nationen Europas stellen, trotz der angesprochenen hohen Scheidungsrate etwa. Wenn man sich also auch gewiss nicht an alle moralischen Vorgaben aus Rom hält, so scheint doch aber die Notwendigkeit einer institutionalisierten moralischen Instanz in der Gesellschaft weitgehend als gegeben vorausgesetzt zu werden. Demzufolge traf die Wahl Joseph Ratzingers als Nachfolger Johannes Pauls II. in Polen auf wesentlich größere Zustimmung, als das in seiner Heimat der Fall war. Neben der engen Freundschaft zu seinem Vorgänger, der in Polen als „Unser Papst“ bezeichnet wurde, war es gerade die in Deutschland so hart kritisierte konservative Grundhaltung, die vielen als Garant für Kontinuität auf einem Gebiet galt, das den Anspruch des Absoluten in sich trägt. Der Widerspruch, die Annehmlichkeiten einer freien Gesellschaft in der Praxis kaum weniger zu nutzen als in anderen europäischen Ländern und trotzdem einen in Moralfragen harten Kurs einzufordern, wurde mir in Gesprächen mit polnischen Studenten immer wieder dahingehend erklärt, dass man ja wenigstens versucht sein muss, einem Leitstern zu folgen, und dazu wiederum bedarf es eben eines solchen, der seine Überzeugungen glaubwürdig, da beharrlich vertritt. Es wäre hier wohl zu billig, solche Erklärungsversuche ausschließlich als Scheinmoral enttarnen zu wollen, mögen sie im Einzelfall auch nicht frei davon sein. Die Reaktionen nach dem Tode Johannes Pauls II. selbst waren in diesem Zusammenhang natürlich ebenfalls für einen deutschen Studenten, der einen hohen Mobilisierungsgrad der Studentenschaft bisher lediglich in Zusammenhang mit der angekündigten Erhöhung von Studiengebühren oder anderen direkten universitären Belangen kannte, zumindest Anlass zum Staunen. Die verschiedenen Bezeugungen der Trauer, die das Land eine ganze Woche fast lahmlegten (Konzerte wurden abgesagt, Vorlesungen in Philosophie wurden dem Werk Karol Wojtyłas umgewidmet usw.), waren anfangs, als zur Stunde des Todes spontan Kerzen in vielen Fenstern zu sehen waren, sicherlich Zeichen ernsthaft empfundener Trauer, zumal wenn man sich die Rolle Wojtyłas bei der Überwindung des kommunistischen Systems in Polen vergegenwärtigt. Hingegen erweckten die darauffolgenden Veranstaltungen, die in Krakau eben zumeist von Studenten getragen wurden und die ich, da ich im sogenannten Studentenstädtchen lebte, besonders gut verfolgen konnte, oft den Charakter eines bloßen Aktionismus‘, der vereinzelt auch von einigen Studenten diesbezüglich kritisiert wurde. Dennoch war diese Zeit in besonderer Weise reich an Eindrücken: in einer Zeit, in der die ganze Welt nach Polen, insbesondere nach Krakau blickte, konnten interessante Vergleiche zwischen Innen- und Außensicht gezogen werden.

In solch einem Fall war man dann auch besonders dankbar, dass die eigenen Polnischkenntnisse so weit gediehen waren, dass sie das Verfolgen der polnischen Presselandschaft zuließen, denn natürlich gilt auch für Polen: Ohne das Abbauen der anfänglich recht großen Sprachbarriere bleibt der Einblick in die Besonderheiten des Landes stark begrenzt. Zwar existieren mittlerweile einige engagierte zweisprachige Publikationen, und die Bereitschaft vor allem der jüngeren Polen, ihre diversen Fremdsprachenkenntnisse anzuwenden, ist so enorm, dass man, als Ausländer erkannt, Probleme hat, überhaupt polnisch zu kommunizieren, aber natürlich sind die oben angesprochenen Magazine wenig aktuell oder bieten doch oft ein sehr stark selektiertes Themenfeld, und zum Kennenlernen des Alltags sind grundlegende Sprachkenntnisse ohnehin unerlässlich. Über die Medien erhält man schließlich auch einen guten Einblick über die polnische Innenpolitik, die im Gegensatz zur polnischen Berichterstattung über Geschehnisse in Deutschland in unseren Medien eher selten Erwähnung findet. Konkurrenzlos in Sachen Professionalität sowie auch Qualität zeigt sich dabei nicht nur unter den Tageszeitungen die „Gazeta Wyborcza“, die eine recht liberale Position vertritt. Aber natürlich trifft man auch in Polen auf Boulevardblätter wie den in dieser Sparte erfolgreichsten Springer-Ableger „Fakt“, dessen Aufmachung bis ins Kleinste der hiesigen „Bild“-Zeitung gleicht.

Die polnische Politik selbst, so möchte man meinen, bietet hingegen wenig Grund zur Belustigung. Mit der „Liga Polskich Rodziń“, einer seltsamen Mischung aus katholischem Fundamentalismus mit radikalem Nationalismus, der populistischen „Samoobrona“ und „Prawo i Sprawiedliwość“, die den aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten, den derzeitigen Warschauer Bürgermeister Lech Kaczyński stellt, der jüngst eine Wiedergutmachung für die Zerstörung Warschaus als Reaktion auf die Aktivitäten der „Preußischen Treuhand“ forderte, befinden sich schließlich gleich drei Parteien im Sejm, die wiederholt mit radikalen Thesen am rechten Rand für Furore sorgen. Den Nährboden für die Zustimmung, die solche Parteien erfahren, wird man dabei neben den Problemen, welche die Geschwindigkeit des Transformationsprozesses bereitet und die durch zahlreiche Korruptionsaffären verursachte Schwächung der noch herrschenden Sozialdemokraten aber meiner Meinung nach auch in der eingangs erwähnten Geschichtsfixiertheit zu suchen haben. Populäre Forderungen gegenüber Deutschland wie die Kaczyńskis fallen nur deshalb auf fruchtbaren Boden, weil das in der Volksrepublik Polen zur Staatsdoktrin erhobene Feindbild Deutschlands immer noch nachwirkt und eine Aufarbeitung eigener Schuld, sei es etwa in Bezug auf die restriktive Minderheitenpolitik in der Zwischenkriegszeit oder auf das heikle Thema der Vertreibung, bestenfalls am Anfang steht. Zu dem wünschenswerten Ziel einer deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Vorbild des Prozesses mit Frankreich kann es demzufolge nur kommen, wenn endlich auch von deutscher Seite solche Themenfelder unumwunden angesprochen werden, ohne allerdings hierbei polnische Befindlichkeiten außer Acht zu lassen.