Wie muslimisch ist die Türkei?

aus OWEP 4/2007  •  von Timo Güzelmansur

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von CIBEDO (Christlich-islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle/Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz) und Doktorand an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt (Main).

Annahme des Islam durch die Türken

Die Geschichte der Türken ist untrennbar und wechselseitig mit der Geschichte des Islam verbunden. Den Islam nahmen die Türken erst im zehnten Jahrhundert freiwillig an. Seit der Eroberung Bagdads im Jahre 1055 hatten sie jedoch eine Führungsrolle in der islamischen Welt inne, die im Osmanischen Reich nahezu ein Jahrtausend dauerte.

Das Osmanische Reich erreichte seinen Machthöhepunkt unter Mehmed II. (reg. 1451-1481), der am 29. Mai 1453 Konstantinopel eroberte und es zur Hauptstadt machte; Istanbul ist übrigens erst seit 1930 der offizielle türkische Name. In der Folgezeit gelang die Eingliederung ganz Anatoliens, Syriens und Ägyptens (1517). Die Osmanen übernahmen auch den Kalifentitel. Zwar hatte diese Würde schon damals ihre politische Wirkungskraft eingebüßt, doch war der Kalif ideell noch immer der Nachfolger des Propheten Mohammed in der Führung der Umma (islamische Gemeinschaft), also Statthalter Allahs auf Erden. Er verkörperte die islamische Staatsidee und die Einheit der Muslime. Durch die Übernahme der Kalifatswürde gewannen die Osmanenherrscher die religiöse Legitimation als Oberhaupt und Führer aller Muslime; dies verstärkte sich, als den Osmanen im Rahmen ihrer Expansion nach Ägypten und Arabien auch der Schutz und die Verwaltung der heiligen Städte Mekka und Medina anvertraut wurden.

Ende und Neubeginn

Sultanat und Kalifat blieben in Personalunion bei den osmanischen Herrschern so lange bestehen, bis am 1. November 1922 das Sultanat durch die „Kemalisten“1 abgeschafft wurde. Dem letzten Herrscher aus der Dynastie Osman verblieb nur noch die geistliche, „kalifische“ Gewalt. Nach der Verlegung der Hauptstadt nach Ankara wurde am 29. Oktober 1923 die Republik ausgerufen, damit der de facto bereits bestehende staatliche Zustand bestätigt und dem Osmanischen Reich ein Ende gesetzt. Staatspräsident wurde Mustafa Kemal (1881-1938), der den Beinamen „Atatürk“ („Vater der Türken“) erhielt.

Die Republik sollte einen Neubeginn durch die Reformen Atatürks erleben. Atatürk war entschlossen, sein Land zur „Zivilisation“ zu führen, worunter er die westliche, europäische Kultur verstand. Alles Islamische war in seiner Vorstellung ein Hindernis auf diesem Weg, weshalb er sich für eine aktive Bekämpfung der religiösen Lehrer und ihrer Macht entschied. Das Kalifat wurde im März 1924 abgeschafft. Zugleich wurden die religiösen Gerichtshöfe und die Ausbildungsstätten sowie das Amt des obersten Geistlichen, Şeyhülislâm (Scheikh-ul-Islam) aufgelöst. Damit demonstrierte Mustafa Kemal Atatürk, dass die Türkei sich nicht länger mit einem auf dem Islam beruhenden Staatsgedanken verbunden fühlte. Dieser Eingriff und die Beseitigung der altehrwürdigen Institution, die seit den Tagen Mohammeds die Einheit der Umma symbolisiert hatte, zwang die islamische Welt, sich neu zu organisieren.

Mustafa Kemal Atatürk wird von den meisten Türken als charismatischer Führer verehrt. Seine Reformmaßnahmen zur Modernisierung der Türkei könnten wie folgt zusammengefasst werden:

  • Einführung der europäischen Gesetzgebung 1926,
  • Einführung des gregorianischen Kalenders 1926,
  • Einführung des aktiven Wahlrechts für Frauen und Festlegung der Einehe (Abschaffung der Polygamie) 1926,
  • Abschaffung des Islam als Staatsreligion 1928,
  • Einführung des lateinischen Alphabets und Verbot des Fes als Kopfbedeckung 1926-1928,
  • Einführung von Familiennamen und des Sonntags als wöchentlicher Feiertag sowie des passiven Wahlrechts für Frauen 1934.

Diese nicht unumstrittenen Modernisierungsmaßnahmen – besonders die Abschaffung des Islam als Staatsreligion – bergen bis heute viel Konfliktstoff in sich. Atatürk blieb jedoch unbeeindruckt und formulierte in sechs Prinzipien sein Staatskonzept („Kemalismus“), das in das Programm der von ihm gegründeten Staatspartei, der „Republikanischen Volkspartei“ (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) aufgenommen wurde:

  • Republikanismus (Cumhuriyetçilik): Wahl der republikanischen Regierungsform unter endgültiger Absage an die Wiedereinführung einer Sultanats- und Kalifatsherrschaft;
  • Nationalismus (Milliyetçilik): Errichtung eines türkischen Nationalstaates;
  • Populismus (Halkçılık): Gleichheit der Bürger ohne Berücksichtigung von Volkszugehörigkeit, Sprache und Glauben. Der „Wille des Volkes“ ist konstitutives Element der Türkischen Republik.
  • Etatismus (Devletçilik): Bestimmende Rolle des Staates in der Wirtschaft;
  • Laizismus (Laiklik): Trennung von Religion und Staat und damit Abkehr von der islamischen Reichsidee, verbunden mit dem Austritt der Türkei aus der islamischen Staatenwelt.
  • Reformismus (İnkılâpçılık): Postulierung einer permanenten dynamischen Umformung von Staat und Gesellschaft.2

Nach Ansicht der Kemalisten wurde durch die neuen Prinzipien und Reformmaßnahmen die Gesellschaft verändert. Der Islam sollte aus dem öffentlichen Leben verdrängt und ausschließlich in die Sphäre der persönlichen Religiosität verbannt werden. Letztlich führte dies zur Entwicklung von drei Hauptrichtungen des Islam, die jedoch nicht scharf voneinander zu trennen sind: Staatsislam (Diyanet), Volksislam und politischer Islam.

Diyanet oder Staatsislam

Bereits im ausgehenden Osmanischen Reich wurde die Institution des Şeyhülislam als höchste religiöse Instanz in die staatliche Verwaltung integriert und damit eine Behörde für Religionsangelegenheiten geschaffen. An ihre Stelle trat 1924 das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı, kurz Diyanet), dem die Verwaltung sämtlicher Bereiche des islamischen Glaubens übertragen wurde. Die Behörde erhielt ihre Sonderstellung erst im Jahre 1961, als Artikel 154 der türkischen Verfassung von 1961, der als Artikel 136 in die Verfassung von 1982 Eingang fand, den verfassungsgemäßen Auftrag des Präsidiums mit folgenden Worten festlegte: „Das Präsidium für Religionsangelegenheiten erfüllt als Bestandteil der allgemeinen Verwaltung im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie mit Ziel auf die nationale Solidarität und Integration die in einem besonderen Gesetz vorgesehenen Aufgaben.“ Artikel 1 des „Gesetzes zu Gründung und Aufgaben des Amtes für Religionsangelegenheiten“ von 1961 bestimmt die Aufgaben der Einrichtung folgendermaßen: „Umsetzung der den Glauben (itikad), den Ritus (ibadet) und die Moral (ahlak) betreffenden Angelegenheiten der islamischen Religion und Aufklärung der Gesellschaft in Sachen Religion sowie die Verwaltung der Gebetsanstalten.“3

Die Diyanet ist heute zu einer komplexen Behörde angewachsen: Sie beschäftigt ca. 90.000 Angestellte, darunter Vorbeter (Imam), Prediger (Hatip), Gebetsrufer (Müezzin) und islamische Religionsgelehrte (Müftü). Außerdem obliegt ihr die Einrichtung und Verwaltung von Moscheen (ca. 85.000), die Ernennung und Besoldung des dafür erforderlichen Personals, die Herausgabe und Zensur religiösen Schrifttums, die Organisation von Korankursen, die Klärung theologischer Fragen durch verbindliche Gutachten, die Durchführung der jährlichen Wallfahrt nach Mekka und vieles mehr. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten ist auch für die religiöse Betreuung der muslimischen Türken im Ausland zuständig. In der Bundesrepublik Deutschland ist seine Außenstelle die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.“ (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, kurz DİTİB) mit Sitz in Köln. Dieser Organisation gehören in Deutschland mehr als 870 Ortsvereine und ca. 500 Imame an.

Innerhalb der staatlichen Verwaltung untersteht die Diyanet dem Ministerpräsidenten und wird von einem Staatsminister betreut. Durch eine Änderung des türkischen Beamtengesetzes von 1970 sind die Bediensteten des Präsidiums für Religionsangelegenheiten Staatsbeamte. Aus diesen strukturellen Gegebenheiten und Arbeitsweisen ergibt sich, dass die Verwaltung religiöser Angelegenheiten innerhalb der laizistischen Staatsordnung der Türkei eine Aufgabe des Staates ist. Da sich die Religionsbehörde nur um islamische, genauer: sunnitische Religionsangelegenheiten kümmert, ist der Islam indirekt wieder zur Staatsreligion der Türkei geworden ist. Außerdem wird der Diyanet laut Verfassung eine integrierende und identitätsstiftende Funktion zugewiesen. Dieses Konzept einer türkisch-islamischen Synthese sucht eine Verbindung von Türkentum und Islam, Staat und Religion herzustellen.4

Volksislam

Diese Ausformung des Islam spricht überwiegend die einfachen Gläubigen an. Er organisiert sich in Bruderschaften und hat zahlreiche Elemente des Heiligenkults übernommen, zugleich aber auch Elemente der Mystik und des Aberglaubens. Nach den Vorstellungen der Bruderschaften kann der Mensch Gott erkennen und zeitweise zu einer Einheit mit ihm gelangen. Der Scheich (mystischer Lehrer an der Spitze der Bruderschaft) führt seine Anhänger auf dem Weg zur Gotteserkenntnis. Im Osmanischen Reich wurden die Orden, vor allem die der Nakşibendi und Bektaşi, zum wichtigsten Instrument der gesellschaftlichen Organisation. Die Orden sind im Islam Männerbünde und gelten als eine Art muslimisches Pendant zu den Freimaurern. Das Kalifat und die Bruderschaften wurden 1924 abgeschafft; dennoch gelang es nicht, die Tätigkeiten der Bruderschaften zu verhindern, da diese sich staatlich unabhängig um einen Scheich organisierten, der oft auch als Wanderprediger im Untergrund tätig war.

Heute wird Fethullah Gülen (geb. 1927) als einer der prominentesten Vertreter des Volksislam angesehen. Der von ihm vertretene „türkische Islam“ zeichnet sich durch eine tolerante Haltung gegenüber den nichtislamischen Religionen aus. Angestrebt wird eine Einheit zwischen den religiösen Traditionen und den Forderungen der Moderne, was sich besonders im Engagement im Privatschul- und Medienbereich zeigt.

Politischer Islam

Eine dritte Facette des Islam in der Türkei ist der politische Islam. Obwohl es von Anfang an religiös motivierte Stimmen gegen das laizistische System in der Türkei gab, waren diese bis in die sechziger Jahren auf der politischen Bühne nicht vertreten. Dies änderte sich mit Mehmed Zâhid Kotku (1897-1980). Er war die dominierende Persönlichkeit unter den Scheichs der Nakşibendi im 20. Jahrhundert und gilt als geistiger Vater des politischen Islam.5

„Der radikale Laizismus ... wurde von einer neuen Ideologie abgelöst, die sich auf eine Neuinterpretation der türkisch-islamischen Geschichte stützte. Im Gegensatz zum heidnischen Nationalismus der Kemalistischen Epoche hoffte die neue Staatsideologie, das islamische Zusammengehörigkeitsgefühl durch Aufnahme des Islam in das nationalistische Credo wiederzubeleben, um die Wiederkehr ideologischer Spaltungen zu verhindern, die in den siebziger Jahren zur Anarchie der Straße geführt hatten.“6 In den sechziger Jahren entwickelten Intellektuelle das entsprechende Konzept einer „türkisch-islamischen Synthese“; in diesem Zusammenhag wird auch gerne von einer Re-Islamisierung der Türkei gesprochen.

Als Schwerpunkte der Re-Islamisierung können folgende Bereiche gesehen werden:

  • Durchsetzung besserer Ausbildungsmöglichkeiten für religiöse Funktionsträger,
  • Ausweitung kultischer Möglichkeiten,
  • personelle Verstärkung der staatlich nur schwer kontrollierbaren, am Rande der Legalität operierenden Orden und neuen islamischen Bewegungen,
  • parteipolitische Organisation islamischer Gruppierungen und Verstärkung ihres Einflusses auf bestehende Parteien.

Die erste islamische Partei in der Türkei wurde 1969 auf Bitten Kotkus von Necmettin Erbakan gegründet. Sie trug den Namen „Partei der Nationalen Ordnung“ (Milli Nizam Partisi, MNP, 1971 verboten); aus dieser ging die „Wohlfahrtspartei“ hervor (Refah Partisi, RP, 1998 verboten). Aus ihr wiederum gründete sich die „Tugendpartei“ (Fazilet Partisi, FP, 2001 verboten). Nach diesem Verbot entstanden zwei neue Parteien, die „Glückseligkeitspartei“ (Saadet Partisi, SP) und die „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), die derzeit zum zweiten Mal mit ihrem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan die türkische Regierung stellt.

Alle erwähnten Parteien haben einen Transformationsprozess durchgemacht, in dessen Folge im Programm und in der praktischen Arbeit Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte zunehmend betont wurden. So rückt die AKP die Demokratisierung der Gesellschaft klar in den Vordergrund,7 wobei allerdings bis heute nicht deutlich wird, in welche Richtung die AKP die Türkei führen will. Einerseits strebt sie eine mutige Politik in Richtung Europa an und hat bereits zahlreiche Reformen durchgeführt, andererseits hat sie kein klares Signal gesetzt, dass sie die Türkei nicht zu einem islamischen Land machen möchte. Zuletzt waren die Präsidentschaftswahlen Anlass dafür, dass die Bevölkerung in mehreren Städten der Türkei gegen die Politik der AKP protestierte. Auch die Tatsache, dass Vertreter des Volksislam sich mit den Zielen der AKP solidarisieren, zeigt, dass die Trennlinie zwischen Askese und Politik von den islamischen Führern nicht immer deutlich markiert und aus pragmatischen Gründen sogar aufgehoben wird. Hierin ist auch das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber den islamischen oder islamisch geprägten Parteien begründet. Wenn die AKP sich als eine demokratische Partei, die die Prinzipien der Demokratie verinnerlicht hat und trotzdem religiöse Werte vertritt, gerne mit der CDU/CSU in Deutschland vergleicht, sollte sie auch eine glaubwürdigere Politik machen, aus der eindeutig hervorgeht, dass sie das bestehende politische System nicht verändern möchte.

Die Aleviten

Die Türkei vereint in sich nicht nur drei Arten von Islam, sondern noch eine vierte Gruppe, die Aleviten.8 Deren Existenz wird von der offiziellen türkischen Seite und der Religionsbehörde jedoch nicht anerkannt. Nach den sunnitischen Muslimen sind die Aleviten zahlenmäßig die größte Religionsgemeinschaft in der Türkei; etwa zwanzig Prozent der türkischen Bevölkerung gehören ihr an. Obwohl die Aleviten sich grundsätzlich zum Islam bekennen, beherzigen sie anders als die Sunniten die „fünf Säulen“, die grundlegenden islamischen Glaubensvorschriften, nicht. Den Koran legen die Aleviten nicht buchstabengemäß aus, sondern heben dessen mystische Bedeutung hervor. Im Zentrum ihrer Frömmigkeit steht der Mensch, der nicht Sklave Gottes sein soll, sondern seine vollkommene Schöpfung. Schon unter den Osmanen galten die Aleviten wegen ihrer unorthodoxen Koranauslegung und religiösen Praktiken als „Häretiker“, die unterdrückt und verfolgt wurden. Anschläge gegen sie hat es auch in jüngster Vergangenheit gegeben, zuletzt 1995.

Die Aleviten finden nur langsam den Mut, sich öffentlich zu ihrer Identität und zu ihrem lange geheim gehaltenen Glauben zu bekennen. Durch das bewusstere Auftreten in der Öffentlichkeit und die Abgrenzung vom sunnitischen Islam fördern die Aleviten ihre rechtliche Anerkennung vom türkischen Staat. Damit gehen konkrete Erwartungen und Anforderungen, die sie an die türkische Regierung stellen, einher, besonders ein Verbot jeglicher Diskriminierung, die endgültige rechtliche Anerkennung und eine angemessene finanzielle und personelle Unterstützung.

Exkurs: Zur Lage der christlichen Minderheiten in der Türkei

Die Zahl der Christen in der Türkei ist in Folge der Ereignisse im letzten Jahrhundert von über 20 Prozent auf weniger als ein Prozent geschrumpft.9 Schätzungsweise leben heute in der Türkei etwa 100.000 Christen. Unabhängig davon, welcher christlichen Konfession sie angehören, ist zunächst festzustellen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Lage der nichtmuslimischen Minderheiten in der Türkei sehr komplex sind.

Vom türkischen Staat werden die nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften in drei Kategorien unterteilt:

Zuerst sind jene Gruppen zu nennen, die im Sinne des Vertrags von Lausanne (1923) zu den anerkannten nichtmuslimischen Minderheiten zählen.10 Das sind nach staatlicher Ansicht ausschließlich Armenier, Bulgaren, Griechen und Juden.

Zur zweiten Kategorie gehören jene nichtmuslimischen Minderheiten, die zum Zeitpunkt des Vertrags von Lausanne zwar in der Türkei präsent waren, aber vom türkischen Staat nicht als Minderheiten im Sinne des Vertrages von Lausanne anerkannt werden. Das sind z. B. die syrisch-orthodoxe Kirche, die katholisch-unierten Kirchen – wie etwa die chaldäische Kirche und die syrisch-katholische Kirche – und die römisch-katholische Kirche.

Die letzte Gruppe bilden jene nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften (Kirchen, Sekten, Gruppierungen), die erst nach dem Abschluss des Vertrags von Lausanne in der Türkei tätig geworden sind. Das sind z. B. evangelische Freikirchen oder Zeugen Jehovas.

Der türkische Staat unterscheidet also drei Gruppen unter den nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften, aber an keiner Stelle des entsprechenden Abschnitts im Vertrag von Lausanne ist nur von einer bestimmten nichtmuslimischen Minderheit die Rede. Insofern stellt die einschränkende Anwendung der entsprechenden Regelungen des Vertrags von Lausanne durch die Türkei einen eindeutigen Verstoß gegen den Vertragstext dar.

Eines der Hauptprobleme der Christen in der Türkei ist die Ausbildung von christlichen Geistlichen. Nur türkische Staatsangehörige dürfen in der Türkei als Geistliche tätig sein und Bischof oder Patriarch werden. Eine Ausnahme bilden diesbezüglich nur die römisch-katholische Kirche und die an diplomatische Vertretungen angekoppelten Gemeinden. Die Priesterausbildungsstätten des Armenischen und des Ökumenischen Patriarchats sind seit mehreren Jahrzehnten geschlossen.

Gesetze, die den Kirchen in einzelnen Fällen Handlungsräume bieten würden, werden wiederholt vom jeweiligen Ausführungsorgan entweder nicht angewandt oder einfach ignoriert. Als Beispiel sei in Erinnerung gerufen, dass die griechisch-orthodoxe Kirche im Jahre 1936 in der Türkei 11.000 Immobilien-Einheiten besaß, wovon 1.734 bereits durch Urkunden nachgewiesen waren. Anerkannt wurden lediglich 392 Immobilien-Einheiten; auf Protest hin wurde die Anerkennungszahl auf 480 erhöht. Seit 1950 hat die griechisch-orthodoxe Kirche 12.000 Prozesse vor Gericht in Immobilienfragen geführt, konnte aber nur in 20 Fällen einen Erfolg verzeichnen.

Vor diesem Hintergrund kann man kaum von einer echten Religionsfreiheit in der Türkei sprechen. Angemessener ist der Begriff „Kultfreiheit“, insofern der Staat religiöse Feiern innerhalb der Kirchengebäude erlaubt, jedoch nicht in der Öffentlichkeit.

Schlussbemerkung

Ziel der Reformen von Mustafa Kemal Atatürk war die Schaffung einer modernen Türkei. Viele Maßnahmen waren jedoch für einen Teil der Bevölkerung nur schwer zu verkraften. Die bis heute andauernden Probleme zwischen dem bestehenden politischen System und den Islamisten bzw. islamisch orientierten Parteien sind ohne den geschichtlichen Kontext nur schwer zu verstehen. Da der Staat gegenüber dem politischen Islam stellenweise machtlos erscheint, übt das Militär das Wächteramt aus und versucht, das Gleichgewicht zwischen Religion und Staat zu halten.

Was die Türkei braucht, ist die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft, die unterschiedliche religiöse und ethnische Kulturen nicht nur duldet, sondern es ermöglicht, dass sie sich zur Verteidigung der laizistischen Verfassung zusammenfinden. Grundsätzlich geht es um die Anerkennung der Tatsache, dass der Rechtsstaat über religiösem und ethnischem Recht steht und deshalb religiöse und kulturelle Freiheit für alle Staatsbürger garantieren muss.


Fußnoten:


  1. Unter „Kemalisten“ sind die nationalen Kräfte zu verstehen, die sich um Mustafa Kemal mit dem Ziel sammelten, das Land nach dem Ersten Weltkrieg vom korrupten Sultan und den Besatzungsmächten zu befreien. ↩︎

  2. Vgl. zu den Prinzipen Genelkurmay Başkanlığı (Hrsg.): Atatürkçülük. Atatürk’ün görüş ve direktifleri (Der Atatürkismus. Atatürks Anschauungen und Richtlinien). 3 Bände. Istanbul 1984. ↩︎

  3. Vgl. dazu die Broschüre Diyanet İşleri Başkanlığı. Ankara 1997; außerdem Christian Rumpf: Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: Zeitschrift für Türkeistudien 1 (1989), S. 21-33. ↩︎

  4. Vgl. Udo Steinbach: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas. Bergisch Gladbach 1996, besonders S. 328 ff. ↩︎

  5. Vgl. Rainer Hermann: Die drei Visionen des politischen Islam in der Türkei. In: Orient 37 (1996), 1, S. 35-57. ↩︎

  6. Dazu Binnaz Toprak: Religion als Staatsideologie in einem laizistischen Staat: Die Türkisch-Islamische Synthese. In: Zeitschrift für Türkeistudien 1 (1989), S. 55-62, hier S. 55. ↩︎

  7. Dazu Wulf Schönbohm: Die neue türkische Regierungspartei AKP – islamistisch oder islamisch-demokratisch? In: KAS (Konrad-Adenauer-Stiftung) – Auslandsinformationen 3 (2003), S. 13.; Adam Szymański: Der islamische Fundamentalismus – stellt er eine Bedrohung für die türkische Demokratie dar? In: Zeitschrift für Türkeistudien Heft 16 (2004), S. 133-146. ↩︎

  8. „Alevi“ bedeutet „Anhänger Alis“. Vgl. Ismail Kaplan: Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland. Köln 2004. ↩︎

  9. Vgl. zum Folgenden auch Ottmar Oehring: Zur Lage der Menschenrechte – Die Türkei auf dem Weg nach Europa – Religionsfreiheit? Missio, Aachen 2004. ↩︎

  10. Zum Vertrag von Lausanne, der die staatsrechtliche und territoriale Struktur der neuen Türkei absicherte, und den darin enthaltenen religiösen Bestimmungen vgl. ausführlich Helmut Wiesmann: Kriterium Religionsfreiheit – zur Lage der religiösen Minderheiten in der Türkei im Kontext eines möglichen EU-Beitritts. In: Ost-West. Europäische Perspektiven 5 (2004), H. 1, S. 42-50 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎