Unter der Oberfläche

Erfahrungen und Überlegungen aus der europäischen Zusammenarbeit
aus OWEP 2/2008  •  von Jörg Lüer

Jörg Lüer ist Generalsekretär der Europäischen Konferenz Justitia et Pax.

2005 war die Deutsche Kommission Justitia et Pax gebeten worden, die Präsidentschaft der Europäischen Konferenz Justitia et Pax bis September 2008 zu übernehmen. Die Deutsche Kommission ist dieser Bitte gerne nachgekommen, da die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt hatte, dass das europäische Moment von zunehmender Bedeutung war und daher eine bewusste Stärkung der Europäischen Konferenz in unserem Interesse lag. Im Rahmen dieser Präsidentschaft wurde mit der Unterstützung von Renovabis eine Neuordnung der europäischen Arbeit von Justitia et Pax in Angriff genommen, die darauf zielte, die gemeinsamen Handlungspotenziale der 31 Kommissionen besser auszuschöpfen und gemeinsame Beiträge zum europäischen Projekt zu leisten. Pars pro toto lassen sich aus diesem europäischen Zusammenhang einige grundlegende Erfahrungen formulieren.

Die Bereitschaft der Kommissionen, den Prozess zur Stärkung der europäischen Zusammenarbeit zu tragen, war und ist beachtlich. Es gibt wenige politische Ideen, die derart mit Hoffnungen, Projektionen und Sinnerwartung aufgeladen sind, wie die Europaidee. An großer Rede wird nicht gespart. In der Tat ist die Europaidee eine der produktivsten und inspirierendsten politischen Leitideen. Die Erfahrung, dass die Europaidee und ihre konkreten Ausflüsse die europäischen Institutionen wesentlich zu einer menschengerechteren Gestaltung und nicht zuletzt zum wirtschaftlichen Erfolg Europas beigetragen haben, unterstreicht die tiefe Vernunft der Idee. Dies gilt in besonderer Weise für die Funktion der Europaidee bei der Schaffung eines stabilen Friedens in Europa. Zugleich wächst das Bewusstsein, dass den Herausforderungen der Globalisierung in einem europäischen Rahmen begegnet werden kann.

Dem großen Horizont steht jedoch die kleine Münze der alltäglichen Problembewältigung gegenüber, an der sich die Wirkmächtigkeit der Europaidee zu erweisen hat. In den Ebenen des Alltags sehen wir uns häufig Störungen und Ungeschmeidigkeiten gegenüber, die in bisweilen erheblicher Spannung zur europäischen Idee stehen. Eine der zentralen Herausforderungen bestand und besteht nach wie vor in der klugen und umsichtigen Räumung historisch durch Gewalterfahrungen verminten Geländes. Dies ist nicht selten eine Voraussetzung für die Lösung anderer politischer Probleme. Kirchliche Akteure begegnen diesen Fragen nicht zuletzt im Rahmen ihrer Versöhnungsarbeit. Dabei sind die Prägungen und offenen Gerechtigkeitsfragen, die die Geschichte in unserer Gegenwart hinterlassen hat, verständlich und soweit wie möglich handhabbar zu machen. Dies ist unabdingbar, wollen wir mit dem bleibend Fragilen, das sich hinter unserem relativ friedvollen europäischen Alltag verbirgt, angemessen umgehen lernen. Das europäische Feld soll bestellbar bleiben und fruchtbarer werden, die Gefährdungen, die dem Politischen immer innewohnen, sollen eingehegt und der Raum sowohl in seinen Innen- als auch Außenbeziehungen gestaltet werden. Nicht direkt ein bescheidenes Programm. So nimmt es nicht Wunder, wenn die Erwartungen an das Projekt und die konkrete Realität bisweilen in einer prekären Spannung stehen. Zum einen gehört es zu den fundamentalen Erfahrungen, dass der europäische Alltag von all den menschlichen und allzumenschlichen Versuchungen des Politischen geprägt ist. Zum anderen sind die Erwartungen an das Projekt vielfältig. Was wir uns unter der europäischen Idee vorstellen, was die einzelnen Gesellschaften jenseits von Frieden, Sicherheit und Wohlstand mit dieser Idee verbinden, ist durchaus heterogen; nicht unbedingt widersprüchlich, aber durchaus vielfältig. Europäische Kooperation ist neben handfesten Interessensunterschieden im Alltag von dieser Vielfalt in einer Weise geprägt, dass eine aufmerksame Auseinandersetzung mit ihr geboten ist. Allein die beliebte normative Rede von den „European Values“ hilft an dieser Stelle leider nur begrenzt weiter. Sie leistet vielmehr häufig einer Verdrängung der Vielfalt und der mit ihr verbundenen Spannungen Vorschub, ohne dass diese sinnvoll integriert würden. Der bewusste oder unbewusste Versuch, die Vielfalt der Zugänge zum europäischen Projekt unter Verweis auf geteilte Werte still zu stellen, läuft am Ende auf ein Ausweichen vor der kulturellen Herausforderung, vor der wir stehen, hinaus und behindert das Projekt. Damit sei nicht die wesentliche Bedeutung der Werte für die europäische Idee in Abrede gestellt. Nur ist mit allgemeinen Prinzipien allein eben kein Europa zu machen. Der Kompass ersetzt nicht den Weg.

Es ist eine Erfahrung in der europäischen Zusammenarbeit, dass „Europa“, die europäische Idee neben den oben angesprochenen Dimensionen, eine Projektionsfläche für viele positive Selbstbilder und -entwürfe in den verschiedenen Nationalgesellschaften, aber durchaus auch bei kirchlichen Akteuren ist. „Europa“ wird dabei in der Regel mit der Erwartung verbunden, dass es die eigenen gesellschaftlichen Dämonen überwinden helfe bzw. diese in „Europa“ zum Verschwinden gebracht werden könnten. Bemerkenswerterweise wird „Europa“ zumeist als ein geschlossenes Gegenüber, als homogene Vorstellung imaginiert. Die vielfältigen Spannungen, die unseren Alltag bestimmen, werden im Idealbild aufgehoben. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Denn das solcherart imaginierte „Europa“ antwortet keineswegs immer im gewünschten Sinne. Aus dieser Irritation erwachsen politische Herausforderungen, auf die Antwort zu geben ist.

Am ukrainischen Fall lässt sich diese Beziehungsstruktur verdeutlichen. Es gibt in der Ukraine eine traditions- und einflussreiche politische Europaidee. Dabei kommt der Abgrenzung von Russland eine zentrale Rolle zu. „Europa“ wird in vielerlei Hinsicht zum Gegenbild von Russland stilisiert. Entsprechend wird die Erwartung an „Europa“ gerichtet, die eigenständige Identität der Ukraine anzuerkennen und praktisch gegen Russland zu stärken. Die Gegner der „europäischen“ Option in der Ukraine verbinden kongenial mit „Europa“ oftmals die Infragestellung der traditionellen Verbundenheiten mit Russland. Diese Auseinandersetzung ist im Kern eine innerukrainische Debatte über Identität und damit verbunden über die Perspektiven der ukrainischen Entwicklung. Sie ist eine Auseinandersetzung mit Selbstbildern, aber nur sehr eingeschränkt eine Befassung mit gesamteuropäischer Wirklichkeit. Die Heftigkeit dieser Projektionen ist beachtlich und beeinflusst die Wahrnehmung des Verhaltens der europäischen Nachbarn erheblich. Dies liegt sicherlich nicht unwesentlich in einer identitätsmäßigen Verunsicherung bzw. in der spezifischen Phase der ukrainischen Nationsbildung begründet. Diese Verunsicherung wird durch das differenzierte Verhalten der europäischen Länder bestärkt, denn am Ende tritt nicht „Europa“ auf, sondern ein vielstimmiger, bisweilen disharmonischer Chor. Das imaginierte Gegenüber erweist sich dabei gelegentlich als sperrig, besonders wenn mehr Verständnis für russische Interessen aufgebracht wird, als von den ukrainischen „Europäern“ gewünscht. Nicht selten wird mit einem mehr oder minder offenen Verratsvorwurf auf diese Erfahrung reagiert. Enttäuschte Liebe und Verrat werden empfunden, wo eigentlich nur Selbstliebe und ein gewisses Maß an Illusion enttäuscht wurden. Das grundlegende Missverständnis besteht darin zu glauben, mit der „Rückkehr nach Europa“ wären die grundlegenden Fragen gelöst. Vielmehr geht es um das verbindliche Eintreten in ein Spannungsfeld, was erhebliche Anforderungen an alle Beteiligten stellt.

Nun läge der Irrtum nahe zu glauben, dass diese Art Missverständnis nur ein Phänomen mittel- und osteuropäischer Gesellschaften wäre. Sicherlich sind durch den besonderen Druck der Transformationsprozesse auch die Reaktionen in diesen Gesellschaften auf die europäische Idee von anderer Intensität, insbesondere vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der jungen Demokratien, sich selbst zu definieren. Nichts desto minder spielt das projektive Moment, in dem historisch begründeten Sehnsüchten und Ängsten eine erhebliche Bedeutung zukommt, auch bei alteingesessenen Mitgliedern der EU eine Rolle. Die Europavorstellungen in Frankreich, Deutschland, England oder Portugal sind bei allen Überschneidungen durchaus unterschiedlich. Dabei kann man die Vorstellungen der Anderen bisweilen als störend erleben, vorausgesetzt, man stellt sich der Tatsache, dass wir nicht selten dasselbe sagen und dennoch etwas Verschiedenes meinen. Die Unterschiede sind meist nicht besonders groß, genügen aber, um Störpotenzial zu entfalten. Insbesondere in den oftmals identitätsmäßig aufgeladenen Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt dies nicht selten zum Tragen. Die Unterschiede in der bewussten und unbewussten Anwesenheit der Geschichte in den östlichen und westlichen Ländern Europas erfordern die Entwicklung einer gemeinsamen Sprachfähigkeit. Diese wird aber nicht unter Umgehung der Geschichte und der in ihr gründenden Erfahrungen, Mentalitäten und Mythen zu gewinnen sein.

Was heißt vor diesem Hintergrund „europäisch“? Europäisches Bewusstsein ist vor allem dadurch ausgezeichnet, dass man die Notwendigkeit des Gegenübers für das Verständnis des Eigenen erkennt. Keine der europäischen Gesellschaften – oder wenn man diesen Begriff bevorzugt: „Nationen“ – kann sich sinnvollerweise aus sich selbst heraus deuten und verstehen. Dort, wo es versucht wurde und wird, kommt es zu einer geistigen und kulturellen Enge, die man nicht selten durch eine anmaßende Aufladung der eigenen nationalen historischen Mission auszugleichen versucht, in der Regel ohne Erfolg. Die Anerkennung des Aufeinanderbezogenseins ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Eigenen. Dies wird evident, wenn man die „großen nationalen Erzählungen“ der europäischen Nationen vergleicht. Das Konfliktpotenzial mancher dieser „Erzählungen“ lässt sich nur in gemeinsamer Bearbeitung, im gemeinsamen Weiterschreiben und in einer gewissen Konvergenz der Erzählungen einhegen. Die Verwobenheit der eigenen Partikularität in eine umfassende Geschichte der Prägungen und Kontexte gilt es zu erkennen. Auf diesem Wege kann die Partikularität zu sich selber kommen und zugleich wieder einen konstruktiven Beitrag zum andauernden europäischen Gespräch formulieren. Dieses zielt nicht auf Gleichschaltung und Homogenisierung von Kultur, sondern auf Schaffung eines Kontexts, der durch Setzung, Widerspruch, Ergänzung und Kommentar gekennzeichnet ist und in einem umfassenden Sinne erfolgreiche Entwicklung fördert. Europäisches Denken beinhaltet die Frage nach dem Eigenen im Gemeinsamen sowie dem Gemeinsamen im Eigenen. Beide Fragen sind sinnvoll nur im Gespräch mit den Anderen zu beantworten.

Diese dialogische Haltung trägt zu einer gemeinschaftlichen, wenngleich bisweilen durchaus ungleichzeitigen Bewegung der gegenseitigen Veränderung bei. Die gefühlte Notwendigkeit zur Veränderung bzw. die gewünschten Veränderungen werden dabei nicht selten auf die Idee Europa projiziert und damit sinnhaft aufgeladen. Die andere Seite derselben Medaille ist, dass der aus der dialogischen Verwobenheit entstehende Druck die jeweiligen Identitäten permanent herausfordert. Bisweilen führt dies dazu, dass dieser Druck als überfordernd und bedrohlich erlebt wird, was letztlich euroskeptische Abwehrreaktionen hervorruft, wie wir sie in den letzten Jahren zur Genüge, bisweilen zum Überdruss, beobachten konnten.

Im Alltag der europäischen Zusammenarbeit treten die angesprochenen Fragen selten in Reinform auf. Es ist eher so, dass sie bei der praktischen Bewältigung der täglichen Herausforderungen durchscheinen. Der Grad zwischen dem heiter gelassenen Umgehen mit der Andersartigkeit der Partner und dem genervten Rückzug auf stereotype Zuschreibungen ist schmal. Dies trifft auch auf kirchliche Zusammenhänge zu. Es gilt, die Balance zu wahren, die Unterschiede nicht zu ernst zu nehmen, um nicht am Ende nur noch um diese zu kreisen, anstatt die gemeinsame Arbeit zu machen, und die Verschiedenheit ernst genug zu nehmen, um wirklich eine gemeinsame Arbeit zu entwickeln. So charmant die kulturellen Handschriften einzelner Akteure eine Zeitlang sein können, so kontraproduktiv werden sie, wenn sie zur dominierenden Form werden.

Schwierig wird es, wenn der je eigene Anteil am europäischen Projekt nicht mehr greifbar wird. Dies führt oft zu einer problematischen Anspruchshaltung „Europa solle dies, Europa müsse jenes …“ Dabei wird Europa als Gegenüber und nicht als Teil des Eigenen betrachtet. Die Versuchung, Europa vor allem unter dem Blick der Durchsetzung der eigenen Interessen zu sehen, gewinnt dann an Raum. Gelingt es dabei nicht, die eigenen Interessen in ausreichendem Maß durchzusetzen, wird die europäische Idee unter Hinweis, dass es sich zwar um eine schöne aber doch wirklichkeitsferne Vorstellung handele, schnell relativiert. Die Versuchung, sich hinter der scheinbaren Ferne Europas zu verstecken, ist real. Sie dient im Wesentlichen dazu, den schwierigen Konflikten, die durch einen konstruktiven und verbindlichen Eintritt ins europäische Spannungsfeld notwendig werden, auszuweichen. Diese Passivität, gefolgt von mangelndem Verantwortungsbewusstsein für den eigenen europäischen Kontext, trägt durchaus zur Ermüdung und zur Erosion der europäischen Idee bei. Kaum jemand wird die europäische Idee heute ernsthaft offen in Frage stellen. Dennoch soll man sich keinen Täuschungen bezüglich ihrer Stabilität hingeben. Die Überzeugungskraft der Idee steht und fällt mit der Erfahrung, dass sich Verhältnisse zum Besseren wandeln oder man zumindest gravierende Probleme im europäischen Zusammenhang besser bewältigt als ohne. Wie weit man auf diesem Weg kommt, hängt nicht unwesentlich davon ab, ob die Erwartungen an den Prozess und die Bereitschaft, sich darin einzubringen, in einem balancierten Verhältnis stehen. Man möchte daher gelegentlich mit angewandtem Kennedy ausrufen: „Frage nicht zuerst danach, was Europa für dich tun kann, sondern vielmehr, was du für Europa tun kannst.“ Der Mut zur Veränderung wird dabei ebenso erforderlich sein wie die Tugend, am Bewährten festzuhalten.