Gedanken über die europäische Identität

aus OWEP 2/2008  •  von Viktória Mohácsi

Viktória Mohácsi ist Mitglied des Europäischen Parlaments (Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa).

Die Debatte über die europäische Identität läuft bereits seit vielen Jahren. Zahlreiche Konzepte wurden für und gegen diese „Idee“ entwickelt, wobei historische, kulturelle, wirtschaftliche, geographische und juristische Aspekte eine Rolle spielten, auf die ich aber hier nicht eingehen möchte. Stattdessen habe ich mich entschlossen, für die Leser von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ einige persönliche Erfahrungen zu Papier zu bringen.

Das Wort „europäisch“ illustriert für mich die gemeinsamen europäischen Werte, die wir teilen, an die wir glauben, denen wir verbunden sind und die uns untereinander verbinden. Als ein Mensch, der in Ostmitteleuropa geboren wurde, muss ich zugeben, dass wir auch vor dem Beitritt zur Europäischen Union (2004) daran geglaubt haben, aber natürlich ist der 1. Mai 2004 ein symbolisches Datum und ein historischer Wendepunkt für uns. „Identität“ ist etwas, das uns von anderen unterscheidet. Aber niemand sollte wegen ihrer oder seiner unterschiedlichen Nationalität oder wegen ethnischer Herkunft, Hautfarbe, Rasse, Religion oder politischer Ansichten diskriminiert werden. Diese unterschiedlichen Kategorien müssen meiner Ansicht nach als eigene Werte der in sich sehr unterschiedlichen europäischen Gesellschaft hinzugefügt werden.

Ich wurde in einem kleinen Dorf – Bedő – nahe der rumänischen Grenze geboren, wo Roma, Ungarn und Rumänen friedlich nebeneinander lebten. Ich besuchte die Höhere Schule in Berettyóújfalu 25 Kilometer von meinem Dorf entfernt, wo ich niemals offen wegen meiner ethnischen Herkunft diskriminiert wurde; allerdings merkte ich bereits nach wenigen Monaten, dass ich die einzige Schülerin mit Roma-Herkunft war. Diese indirekte Diskriminierung der Roma schockierte mich ziemlich, denn ich wollte einfach nicht akzeptieren, dass mein Volk gerade in einer Höheren Schule unterrepräsentiert war. Aus diesem Grund bin ich wohl in die Politik gegangen und konzentriere mich auf Erziehungs- und Bildungsprobleme der Roma in der EU.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Recht auf Erziehung nicht allen Menschen gleichermaßen offen steht. Einige von uns genießen dieses Recht mehr, andere weniger, einige besser, andere schlechter. Ebensowenig ist es ein Geheimnis, dass einige unter uns wenig oder – vielleicht weil sie unterschiedlicher Hautfarbe sind oder anders sprechen oder auch anders beten – überhaupt nichts davon haben.

Ich bin davon überzeugt, dass Gleichberechtigung – als ein wahrhaft europäischer Wert – mit gleichen Entwicklungschancen für alle beginnt, und am Beginn stehen die Bildung und Erziehung. Viele Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, unter denen die Gesellschaften in Europa leiden, werden von den Ungleichheiten im Blick auf die Erziehung der Kinder verursacht, besonders hinsichtlich ihrer Rasse, Herkunft und Religion. Hauptursache dafür ist wiederum die mangelnde Achtung der Menschenrechte.

Zwei der schlimmsten Erscheinungsformen dieses Scheiterns sind das Fortdauern getrennter Erziehung und die gesetzeswidrige Behandlung von Roma-Kindern in Erziehungseinrichtungen für geistig behinderte Kinder. Diese Phänomene – ich muss dies noch einmal betonen – betreffen besonders die Volkspruppe, der ich angehöre, nämlich die Roma. In den Ländern, in denen dies praktiziert wird, zeigen sich erschreckende Folgen: hohe Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung der Roma. Alle diese Formen der Trennung der Romakinder von den übrigen Kindern sind nicht nur gefährlich, weil sie Menschen nach ihrer Hautfarbe ausgrenzen, sondern vielmehr noch, weil die Qualität der für die Roma vorgesehenen Einrichtungen vom Lehrkörper über die Lerninhalte bis hin zu den Klassenräumen erheblich geringer ist als die der normalen Schulen.

Wie eine Ironie muss es da erscheinen, wenn wir in der Europäischen Union oft die Alarmglocken läuten wegen der alternden Gesellschaft und der niedrigen Geburtenraten, die die Zukunft der EU gefährden! Um dies zu bekämpfen und darüber hinaus bis zum Jahre 2010 die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft zu erreichen, haben wir im Vertrag von Lissabon ehrgeizige Ziele festgelegt. Gleichzeitig übersehen wir mit Leichtigkeit, dass die Kinder von ungefähr 10 Millionen Roma in der EU diejenigen unter den Kindern anderer Minderheitengruppen sind, denen das Erziehungssystem und damit auch der Arbeitsmarkt weitgehend verschlossen bleiben. Natürlich will ich nicht verschweigen, dass man sich des Problems ganz allmählich bewusst wird und ein Wandel zu erkennen ist. Auch im Sinne der in Lissabon formulierten Ziele ist anzustreben, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben, um auf dem künftigen Arbeitsmarkt zu bestehen und damit auch das Wohlfahrtssystem der immer älter werdenden Gesellschaft aufrecht zu erhalten.

Darüber hinaus leben die Roma in ganz Europa unter extrem schlechten Wohnbedingungen, oft sogar in regelrechten Slums, Ghettos oder verfallenen Wohngegenden. Da sie weitgehend vom Gesundheitssystem abgeschnitten sind, liegt – das ist besonders prekär – ihre Lebenserwartung im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung um 12 bis 15 Jahre niedriger.

Ich erhalte zahlreiche Einladungen zu Konferenzen, die von Roma-Zivilorganisationen in der ganzen Europäischen Union und außerhalb ihrer Grenzen durchgeführt werden, und habe dabei erkannt, wie stark das Vertrauen der Roma in die Institutionen der Europäischen Union ist. Sie erwarten sich eher eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensumstände durch die Maßnahmen der Europäischen Union als durch nationale Maßnahmen, die bisher für sie getroffen wurden. Solche internationalen Konferenzen belegen übrigens auch, dass die Sprache der Roma immer noch von Schweden bis zur Türkei gesprochen wird. Sie verbindet uns und stärkt uns als Nation. Wenn man an der Sprache festhält, lebt auch die Tradition weiter, und das ist sehr wichtig für eine vielfältige Europäische Union.

Wir, Europäer, Roma und Nicht-Roma, müssen uns gemeinsam bemühen, um alle Formen der Diskriminierung, unter denen die Roma auf den Feldern der Erziehung, des Gesundheitswesens, des Wohnens und der Arbeit zu leiden haben, auszurotten. Die Resolution des Europäischen Parlaments zur europäischen Roma-Strategie vom 31. Januar 2008 ist ein guter Startpunkt, um diese Ziele zu erreichen. Das ist unsere Verpflichtung für Europa, für die Roma und für ihre positivere europäische Identität.