Vier Stimmen zum Thema „Bleibende Verantwortung der Kirchen“

(Umfrage)
aus OWEP 2/2011  •  von Michael Albus

In den meisten Beiträgen dieser Ausgabe wird die Rolle der Kirchen angesprochen. Für die Zeit des Kommunismus lässt sich kein einheitliches Urteil fällen, da die Situation von Land zu Land verschieden war. In einigen Ländern waren die Kirchen massiven Repressionen ausgesetzt oder sogar in den Untergrund gedrängt, in anderen Ländern entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte ein Modus vivendi, der allerdings auch Grenzüberschreitungen bis hin zu freiwilliger oder erzwungener Mitarbeit Einzelner im kommunistischen System führte.1 Vieles davon ist bis heute nicht aufgearbeitet, was dazu beiträgt, dass die Kirchen sich heute bei der Bewältigung der traumatischen Folgen des Kommunismus oft schwer tun.

Die folgenden vier Stellungnahmen sind sicher nicht repräsentativ, bieten jedoch ein Stimmungsbild zur Einschätzung der Kirchen damals und heute. Ernüchterung, Verdrossenheit, selbst Verbitterung klingen an, aber auch der Appell an die Kirchen, zu ihrer Verantwortung zu stehen und aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken.

Die Fragen stellte Michael Albus.

Hellmut Puschmann

Prälat Hellmut Puschmann (Foto: privat).

Prälat Hellmut Puschmann (geb. 1938) wurde nach dem Studium der Theologie 1964 zum Priester geweiht. 1971 wurde er Caritasrektor in Berlin, 1973 Diözesan-Caritasdirektor des Bistums Dresden-Meißen, 1982 Leiter der Zentralstelle Berlin des Deutschen Caritasverbandes und 1991 Präsident des Deutschen Caritasverbandes Freiburg. Seit 2003 ist er Vorsitzender des Diözesancaritasverbandes Dresden-Meißen und Diözesanpräses des Kolpingwerkes.

Für viele Menschen in Ost und West ist nach über 20 Jahren die Zeit des Kommunismus aus und vorbei. Die meisten sind mit Fragen einer neuen Wirtschaftsordnung oder mit finanziellen Krisen beschäftigt. Wie sehen Sie die Situation des Einzelnen?

Die Beantwortung dieser Frage kann nur sehr differenziert erfolgen. Generell hat sich die wirtschaftliche Situation der meisten Menschen seit 1990 gebessert. Wer tariflich bezahlte Arbeit hat, kann mit seinem Lohn wesentlich mehr anfangen als früher. Kreative und leistungsstarke Menschen erhielten Chancen und haben viel auf die Beine gestellt. Sehr hart traf es aber jene, die dabei scheiterten, weil sie in der Regel nur über geringe Eigenmittel verfügen und sich sehr verschulden mussten.

Der Kommunismus ist kein erstrebenswertes Ziel mehr. Er war es auch früher für viele nicht, weil er aufgrund des real existierenden Sozialismus als unerfüllbare Utopie erschien, wenn nicht sogar als Täuschung der Menschen. Allerdings vergleichen auch heute die Menschen einzelne Momente der Wirklichkeit mit den Zielen der sozialen Marktwirtschaft und insgesamt auch mit den Zuständen vor 1990. Und da zeigt sich, dass vor allem das Problemfeld „Gerechtigkeit“ wahrgenommen wird. Wie wird Arbeit im Zusammenhang mit der mit ihr verbundenen Verantwortung bewertet? Dies trifft vor allem zu in der Vergütung (untertarifliche Bezahlung contra Managergehälter und -abfindungen). Können die Unterschiede bei Einkommen und Vermögen (riesiger Reichtum gegenüber permanentem Mangel) gutgeheißen werden? Weshalb ist die Entlastung von Familien in Problemsituationen nach wie vor unzureichend? Die Dominanz des Geldes gegenüber menschlicher Solidarität hat kaum jemand vorhergesehen. Sie sorgt für Fragen und Unzufriedenheit, zumal das Gefühl besteht, dass die Politik viele dieser Fragen nicht erkennt, nicht angeht oder regelrecht hilflos ist.

Welche grundlegenden Fragen sind für die Menschen geblieben?

Die Angst vor der persönlichen Zukunft und vor der Zukunft der Menschheit wurde früher reduziert auf die Frage Krieg-Frieden und die Bedeutung des sozialistischen Lagers, das den Friedenskampf für sich reklamiert hat. Heute werden viele von der allgemeinen Unsicherheit zermürbt: Werde ich Arbeit haben? Wird die Rente einmal ausreichen? Bleiben die lebensnotwendigen Dinge bezahlbar? Damit bleiben die existenziellen Probleme der Zukunft bestehen, werden jedoch differenzierter wahrgenommen. Sie erhalten eine andere Perspektive, denn dank der Medien werden die unterschiedlichen Bedrohungen sichtbarer. Verantwortungsloser Egoismus und verbrecherische Gier, Machtmissbrauch und Korruption derer, die eigentlich Führungseliten sein sollen, wird als allgemeine Systemschwäche wahrgenommen, der gegenüber der Einzelne hilflos ist. Die ökologischen Fragen werden zwar viel mehr als früher als Herausforderung gesehen, ihre Missachtung durch Großunternehmer macht wütend. Und damit ist auf ganz andere Weise, aber im Ergebnis ebenso wie früher die Haltung die Folge: Man kann sowieso nichts machen. So ziehen sich viele zurück ins Private oder in eine Haltung innerer Verweigerung: Die Großen machen ohnehin, was sie wollen. Politikverdrossenheit und Resignation in Bezug auf die Steuerungsfähigkeit der genannten Prozesse werden bei vielen nicht geringer. Deutlich wird dies wohl auch in vielen zustimmenden Reaktionen zu den Thesen Sarrazins2: Obwohl in Sachsen nur ca. 2 Prozent Ausländer leben, besteht bei vielen eine unreflektierte ablehnende Haltung ihnen gegenüber.

Welche Rolle spielen nach Ihrer Meinung die Religion oder die Religionen bei der Suche nach Antworten?

Der Verlust an Reflexionsfähigkeit und das leichte Angebot billiger Ablenkungen machen es vielen Menschen sehr schwer, über solche Fragen nachzudenken. Ich erhielt neulich in einem intensiven Gespräch mit einem jungen Erwachsenen auf die Frage, ob er schon einmal über Sinn und Ziele seines Lebens nachgedacht habe, eine völlig negative Antwort: Nein, das habe er noch nie. Der Gesamtentwurf des Lebens und damit die Suche nach Antworten aus der Religion sind scheinbar für viele als Herausforderung verblasst und stellen sich eher den dafür „Begabteren“. Hier haben christliche Schulen eine herausragende Aufgabe. Bei den Menschen, die eine neue Nachdenklichkeit erfasst, beispielsweise nach traumatisierenden Erfahrungen, entstehen häufig Fragen nach der Religion. Dann ist für manche der Weg zu esoterischen Formen nicht weit. Aber in der Masse ist Religion kein Thema. Übrigens wird dies auch sichtbar in der veränderten Bestattungskultur.

Welche vordringlichen Aufgaben stellen sich der kirchlichen Seelsorge?

Wir können in der Seelsorge nicht einmal mehr bei aktiven Christen generell auf eine funktionierende Erziehung und auf traditionelle Formen bauen, sondern müssen uns intensiv und ehrlich mit den neuen Lebenswirklichkeiten heutiger Menschen auseinandersetzen. Das hat die Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erkannt, aber noch lange nicht wirklich gelernt oder gar umgesetzt. Erst wenn wir wirklich Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen ungefiltert wahrnehmen, sind wir fähig, Menschen dort abzuholen, wo und wie sie sind. Dann besteht die Chance, dass sie Glaube als Befreiung und nicht als neues Pflichtenheft erleben, das sie abarbeiten müssen. Viel zu selten habe ich zukunftsträchtige Ansätze gefunden, die ermöglichen, dass suchende Menschen den Glauben als herausfordernde Alternative erleben, gleichzeitig sich jedoch verstanden fühlen und nicht zuerst ein Normensystem kennenlernen. Solche Ansätze habe ich bisher leider nur bei wenigen Orden, Gemeinschaften und einzelnen Menschen gefunden. Diese Ansätze aufzuspüren und dann eine solche Dynamik in die Seelsorge zu bringen, sollte vor allen strukturbetonenden Änderungen stehen. Dies bedeutet jedoch eine grundlegende Erneuerung und Verbreiterung dessen, was heute unter Seelsorge verstanden wird.


Friedrich Schorlemmer

Friedrich Schorlemmer (Foto: privat).

Friedrich Schorlemmer (geb. 1944) war nach dem Studium der Theologie Studieninspektor in den Franckeschen Stiftungen, 1971-1978 Jugend- und Studentenpfarrer in Merseburg. Zwischen 1978 und 1992 wirkte er als Prediger an der Schlosskirche in Wittenberg und als Dozent am Evangelischen Predigerseminar. Er zählt zu den Mitbegründern des „Demokratischen Aufbruchs“ in Dresden.

Für viele Menschen in Ost und West ist nach über 20 Jahren die Zeit des Kommunismus aus und vorbei. Die meisten sind mit Fragen einer neuen Wirtschaftsordnung oder mit finanziellen Krisen beschäftigt. Wie sehen Sie die Situation des Einzelnen?

Die Neuvereinigung 1990 war von der Mehrheit mit Euphorie begleitet worden – zumal großsprecherischen Versprechen geglaubt wurde, niemandem würde es schlechter, aber vielen besser gehen. Ersteres bezweifeln alle, die von der doppelt so hohen Arbeitslosigkeit im Osten betroffen sind, die demütigenden Dauerabsagen bei Bewerbungen resignierend ertragen, die Etablierung einer ganzen Hartz IV-„Kultur“ mit ansehen. Vor allem ist es die als Würde- und Selbstwertverlust empfundene Arbeitslosigkeit, bei jahrzehntelang hoher Wertschätzung der Arbeit in der DDR (auch wenn sie vielfach nur Beschäftigung war), die so sehr schmerzt, dass mancher die DDR wieder in mildem Licht sieht („Es war nicht alles schlecht.“). Viele gehen auf Distanz zu unserem freiheitlich-demokratischen System, was sich in genereller Politikabstinenz, ja in Verachtung ausdrückt. Andererseits wissen viele noch sehr gut, wie jammervoll die DDR in jeder Hinsicht zugrunde gegangen ist und dass es so nicht weiterging. Und andererseits gibt es viele, die sich als Gewinner erleben und die Vorzüge des heutigen Lebens genießen.

Zugleich fragt sich beinahe jeder, der in der DDR erzogen worden ist, ob die analytischen Aussagen von Karl Marx über das kapitalistische System nicht weiterhin völlig zutreffen; wo eine „gewissenlose Handelsfreiheit“ gilt und nichts mehr gilt als die „gefühllose bare Zahlung“.

Die Verankerung von demokratischen Parteien in der Gesellschaft ist noch nicht so gelungen, dass die Parteien wirklich das Spektrum der verschiedenen Auffassungen und Interessen widerspiegeln. Kommunismus, unter Führung einer Kaderpartei und unter Herrschaft einer Ideologie, wünscht sich hier keiner zurück. Auch die Linke ist meines Erachtens keine Gefahr für unsere Demokratie. Bemerkenswert ist der reflexhafte Antikommunismus im Westen, der geradezu fiebrig wird, wenn Frau Wagenknecht im Fernsehen vorgezeigt wird oder wenn Frau Lötzsch es – fahrlässig – unterlässt, nochmalig ihre Distanz zum Sowjet-Modell vom Kommunismus und von SED-Machenschaften auszusprechen. Der Begriff ist in der Tat nie mehr unschuldig, aber die Ideale, die die Menschen beflügelt haben, sind nicht erledigt.

Für die heute Zwanzigjährigen sieht die Welt ganz anders aus, und sie wissen kaum noch wie es war, als Deutschland durch eine Mauer getrennt wurde und 450.000 Sowjetsoldaten das Land besetzt hatten.

Welche grundlegenden Fragen sind für die Menschen geblieben?

Warum geht die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auf?

Warum ist der Primat von Politik über Ökonomie verloren gegangen und warum herrschen weltweit die Gewinnmaximierungsprinzipien des Neoliberalismus? Warum werden die öffentlichen Güter weiter privatisiert? Wo soll das hinführen? Warum werden so wenige Kinder geboren?

Warum werden deutsche Soldaten wieder in Kriege geschickt? Warum gibt es keinen garantierten Mindestlohn?

Welche Rolle spielen nach Ihrer Meinung die Religion oder die Religionen bei der Suche nach Antworten?

Die christliche Religion ist numerisch wieder auf dem Stand von vor 1989. Evangelische Kirchen hatten 1989/90 eine vom Volk getragene emanzipatorische, in die Demokratie auf einem gewaltlosen Wege führende Aufgabe wahrgenommen.

Der größte Erfolg der DDR-Propaganda besteht darin, dass es wohl nachhaltig gelungen ist, eine Kirchendistanz bis zur Kirchenfeindschaft und eine Ablehnung des religiösen Bewusstseins als falsches Bewusstsein erreicht zu haben. Die Kirchen finden heute wohl gesellschaftliche Anerkennung und die Kirchengebäude sind weithin saniert. Sie werden vor allem von den Verlierern dort als wichtig empfunden, wo sie eine Stimme der Verlierer sind, wo sie sich um die sozial Schwachen auf eine uneigennützige Weise kümmern. Insbesondere die soziale Rolle von Kirchen ist gefragt, wohl aber auch die Herausbildung einer tragfähigen Wertebildung, die nicht bloß für Sonntagsreden taugt.

Welche vordringlichen Aufgaben stellen sich der kirchlichen Seelsorge?

Die kirchliche Seelsorge ist herausgefordert, sich wieder viel mehr um den Einzelnen zu kümmern, statt nur Veranstaltungen anzubieten oder gar Events zu organisieren. Auch bei schwindender Zahl kirchlich angestellter kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das Sich-Kümmern und Bekümmern, das Zeit-Haben und Zuhören eine der wichtigen Aufgaben der Kirche – nicht nur dann, wenn Menschen mit ihren Sorgen selber kommen, sondern wenn die kirchlichen Vertreter mindestens zu ihren Mitgliedern persönlichen Kontakt aufnehmen. Die Kirche kann und muss (nach einer Formulierung von Ernst Lange) immer auch „der Sammelplatz der Beunruhigten“ sein, die in der Kirche Stärkung erfahren, um in der Welt wieder aktiv zu werden – als Menschen, die eine Hoffnung behalten und gleichzeitig ein realistisches Bild vom Menschen.

Die Kirche wird von denen, die ihr näher oder ferner stehen, gebraucht als Helferin an den Schnittstellen des Lebens mit den so genannten Passage-Riten. Taufe, Konfirmation und Hochzeit werden wieder mehr und mehr zu einem bloßen bürgerlichen Ritual, das nicht auf einem Bekenntnis basiert. Dazu müsste allerdings viel theologischer Ballast aus der Vergangenheit abgeworfen werden, z. B. die Perpetuierung eines längst obsolet gewordenen Weltbildes, wie es sich im sogenannten Apostolischen Glaubensbekenntnis ausdrückt.

Die Kirchen können in ihrer pädagogischen Arbeit sprach- und lebensstilbildend wirken, weshalb insbesondere die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien wieder stärker in den Blick kommen muss.

Das Wichtigste bleibt, dass die Kirche weiß, dass sie nicht aus sich selbst und für sich selbst lebt, sondern für andere und in der Kraft dessen lebt, der ihr zuspricht, dass er alle Tage bei ihr sein wird.

Nur eine getragene Kirche kann ihren Auftrag mit langem Atem, mit Freude und getrostem Niederlagetraining wahrnehmen.


Pero Sudar

Weihbischof Dr. Pero Sudar (Foto: privat).

Weihbischof Dr. Pero Sudar (geb. 1951) empfing 1979 die Priesterweihe; danach studierte er in Rom (Promotion 1985) und lehrte mehrere Jahre Kirchenrecht an der Universität Sarajevo. 1994 wurde er zum Bischof geweiht. Er ist Generalsekretär der Bischofskonferenz von Bosnien und Herzegowina; zu seinen Arbeitschwerpunkten zählt besonders das Schulwesen.

Für viele Menschen in Ost und West ist nach über 20 Jahren die Zeit des Kommunismus aus und vorbei. Die meisten sind mit Fragen einer neuen Wirtschaftsordnung oder mit finanziellen Krisen beschäftigt. Wie sehen Sie die Situation der Einzelnen?

Ich fürchte, dass viele Menschen tief enttäuscht und resigniert sind. Dies gilt sicher auch für die Menschen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Nachdem sich die Menschen und die Völker lange Zeit nach der Freiheit gesehnt und dafür auch gekämpft haben, müssen sie sich jetzt mit einer neuen Abhängigkeit und Sklaverei abfinden. Die neue Wirtschaftsordnung hat nicht nur große Armut, sondern auch brutale Ausbeutung gebracht. Die ehemaligen so genannten „Staatsgüter“ sind, in vielen Fällen auf korrupte Weise, in die Hände von wenigen Reichen gelangt. Dadurch stehen viele Arbeiter ohne Arbeitsplatz und viele Familien ohne das Nötigste für das Leben und ohne Perspektive da.

Welche grundlegenden Fragen sind für die Menschen geblieben?

Die neuen, im Kommunismus unbekannten sozialen Spannungen haben viele grundlegende Fragen aufkommen lassen. Bei uns glaubten die Menschen an die westliche Welt und ihre humanistischen und sozialen Werte. Wegen dieses neuen, wilden Kapitalismus fragen sich die Menschen, ob soziale Ethik und Solidarität überhaupt noch möglich sind. In einer Welt ohne Gerechtigkeit stellen sich zwangsläufig auch die Fragen nach dem Sinn der Menschenwürde, der Ehre, der Arbeit. Besonders bei den jungen Menschen!

Welche Rolle spielen nach Ihrer Meinung die Religion oder die Religionen bei der Suche nach Antworten?

Die Religion überhaupt und die Kirchen und Religionsgemeinschaften spielten in der Zeit des Kommunismus, aber auch bei seinem Untergang eine wichtige Rolle. Sie haben bei den Leuten den Durst nach Freiheit und den Mut zur Wende unterstützt. Heute sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der großen Gefahr, dass die Menschen sie als Komplizen verstehen und ablehnen. Es wird immer deutlicher, dass viele einfache und arme Menschen mit Nostalgie zurückschauen und den Kommunismus beweinen. Ich bin mir nicht sicher, ob die offiziellen Kirchen und Religionsgemeinschaften diese Menschen richtig sehen und gut verstehen. Um diesen verzweifelten Menschen bei der Suche nach Antworten helfen zu können, müssen wir sie zuerst ernst nehmen und gut zu verstehen versuchen.

Den Kirchen und Religionsgemeinschaften geht es heute viel besser als im Kommunismus. Sie haben mehr Einfluss, mehr Freiheit, aber sie haben auch Vermögen und dies ist für sie eine große Gefahr! Es ist unmöglich, die befreiende Kraft des Glaubens glaubwürdig zu verkünden und an der Seite der Armen und Schwachen zu sein, ohne einen angemessenen Abstand zu den neuen wirtschaftlichen Magnaten oder auch zu den politischen Eliten zu halten.

Welche vordringlichen Aufgaben stellen sich der kirchlichen Seelsorge?

In unserer Umgebung wird das Vertrauen zu den Menschen und Achtung zwischen den Menschen und Völkern immer geringer. Die Seelsorge muss sich bemühen, den Menschen in spirituellen, aber auch in materiellen Nöten nahe zu sein. Nur dann ist sie in der Lage, ihnen einen Gott zu verkünden, der den Menschen immer und überall nahe ist. Wir müssen den Mut haben, immer wieder die Wahrheit auszusprechen, dass der echte Weg zu Gott immer über den Menschen geht. Der wahre Glaube an Gott wird durch das Verhältnis zu den Menschen und unter den Menschen beglaubigt.

Neuevangelisierung kann nur durch eine neue Erziehung zu den ethischen Grundwerten geschehen. Es ist notwendig, bei den Menschen den Durst und Geschmack nach spirituellen Wirklichkeiten zu wecken und ihren Blick auf die transzendentalen Wahrheiten zu richten. Nur so werden die Menschen fähiger und williger, die so dringend nötigen Brücken über die sozialen, ethnischen und kulturellen Abgründe zwischen den Menschen und Völkern zu schlagen. All dies ist nicht möglich ohne enge und echte Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften.


Ágnes Tímár

Schwester Dr. Ágnes Tímár OCist (Foto: privat).

Dr. Ágnes Tímár OCist (geb. 1928) studierte Architektur, arbeitete als Bauingenieurin und schloss sich Mitte der fünfziger Jahre einer Gruppe junger Frauen in Budapest an, die nach den Regeln des hl. Benedikt leben wollten. Sie trat als Priorin an die Spitze der kleinen Gemeinschaft, wurde in den sechziger Jahren wiederholt verhaftet und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. In Kismaros konnten die Schwestern dann zunächst noch heimlich ein Haus errichten, das zur Keimzelle eines Zisterzienserinnenklosters wurde.

Für viele Menschen in Ost und West ist nach über 20 Jahren die Zeit des Kommunismus aus und vorbei. Die meisten sind mit Fragen einer neuen Wirtschaftsordnung oder mit finanziellen Krisen beschäftigt. Wie sehen Sie die Situation des Einzelnen?

In Ungarn hat weder innerhalb noch außerhalb der Kirche eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattgefunden. Daraus resultiert auch eine Fortsetzung der Kirchenspaltung, die die Kommunisten betrieben haben. Die Getreuen werden beiseite gedrängt und totgeschwiegen. Die anderen hingegen verdrängen und kümmern sich – oft mit Bitterkeit und Nostalgie – um das Tagesgeschäft, ihre Beförderung sowohl im kirchlichen als auch im außerkirchlichen Bereich. Pater Lénárd Ödön hat die Folgen so beschrieben: „Der christliche Jugendliche hat sein Vertrauen in die Kirche verloren, seine Suche schränkt sich ein auf ein humanes Zur-Geltung-Kommen, oder er sucht verlegen das Evangelium unter denen, über deren Person, Vergangenheit und gegenwärtiges formalistisches Verhalten, ihre Leere und oft auch menschliche Niveaulosigkeit er sich nur empören kann.“3

Welche grundlegenden Fragen sind für die Menschen geblieben?

Grundlegende Fragen sind beispielsweise: Warum gibt der Mensch so leicht seine Würde für diesseitige Vorteile preis? Warum tut die ungarische Kirche zur Zeit so wenig dafür, dass wenigstens von der Religion her aufscheint, welche Köstlichkeit es ist, für seine Überzeugung einzustehen, und dass die Religion auch die Kraft dazu gibt, sich als Mensch menschenwürdig, – was nicht heißt lebensfremd – zu verhalten? Warum zeigt die Kirche viel zu wenig, dass der Glaube – und damit verbunden Erkennen, Bekennen, Bereuen, Buße Tun –auch Trost bietet und Gelassenheit in hektischer Zeit?

Welche Rolle spielen nach Ihrer Meinung die Religion oder die Religionen bei der Suche nach Antworten?

Die Religionen spielen keine Rolle, weil sie mit ihrem Pfund nicht wuchern. Sie könnten der Sinnsuche ein Ziel geben, verpassen diese Chance jedoch permanent, weil sie leider nicht glaubwürdig sind.

Welche vordringlichen Aufgaben stellen sich der kirchlichen Seelsorge?

Vordringlich sind meiner Ansicht nach ein ehrliches Bekenntnis der Verfehlungen, sowohl im Einzelnen als auch im Gesamten, die Aufklärung darüber, wie es dazu kam, letztlich die öffentliche Bitte um Vergebung. Stattdessen wird so geschwiegen, als habe es weder eine Kirchenverfolgung noch Opfer derselben noch Verfolgung aufrechter Verteidiger von Menschenwürde und Wahrheit, auf die ja nicht allein eine Glaubensrichtung Anspruch erheben darf, je gegeben!


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu ausführlich die Beiträge in OST-WEST. Europäische Perspektiven 8 (2007), H. 3 „Schatten der Vergangenheit“↩︎

  2. Gemeint ist die Diskussion um das Buch von Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München 2010. ↩︎

  3. Lénard Ödön (u. a.): Wege und Irrwege der katholischen Kirche Ungarns in der Zeit der Verfolgung durch die Kommunisten. Hrsg. v. Ágnes Tímár. Berlin 2009, S. 53. ↩︎