In Ängsten und siehe wir leben

Ukrainische Augenblicke im Sommer 2014. (Reportage)
aus OWEP 4/2014  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist Theologe, Journalist und der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift.

Zusammenfassung

Zahlreiche Gespräche Ende August 2014 gaben Michael Albus die Möglichkeit, ein vielfarbiges Bild zur Situation in der Ukraine zu zeichnen. Menschen kommen zu Wort, die die Kämpfe am Majdan miterlebt haben, ebenso Menschen, die in unterschiedlicher Weise versuchen, den Opfern zu helfen, besonders den Flüchtlingen aus dem Osten der Ukraine, wo trotz eines Waffenstillstandes weiterhin Menschen vertrieben oder sogar getötet werden. Die Stimmung in Kiew schwankt angesichts der ungewissen Zukunft zwischen Hoffnung und Ernüchterung.

Es ist ein heißer Sommertag im August des Jahres 2014. In Kiew geht alles seinen Gang. Die Stadt pulsiert, ist voller Leben. Gelbblaue Fahnen in den Fenstern, an den Autos, Bänder mit den Farben der Ukraine an den Handtaschen der Frauen. Kaum etwas deutet darauf hin, dass das Land sich seit Monaten und Wochen in einem unerklärten Krieg befindet.

Andrij Waskowycz, der Leiter der griechisch-katholischen Caritas in der Ukraine, geht mit mir durch die Stadt. Überall noch die Spuren der Feier des Unabhängigkeitstages, der vorgestern stattgefunden hat. Andrij sagt: „Das Land befindet sich nicht in einem Konflikt. Es befindet sich im Krieg.“

Blick auf den Majdan in Kiew (Fotograf: Sören Runkel)

Auf dem Majdan sitzen am späten Nachmittag die Menschen in den Cafés. Die Spuren der vergangenen Kämpfe sind noch überall deutlich zu sehen. Bilder von Toten, meist junge Menschen, säumen den Straßenrand, mit Blumen geschmückt. Menschen bleiben davor stehen, halten inne. Vor das ausgebrannte Hauptgebäude am Platz ist ein großes Tuch gespannt mit der Aufschrift: „Ruhm den Helden, Ruhm der Ukraine“. Eine Frau verkauft kleine Militärhubschrauber als Kinderspielzeug. Viele Menschen fotografieren die Inschriften an den Hauswänden. Eine fällt mir besonders auf: „Hier wurden wir geprügelt von den Bastarden, unsere Frauen und Kinder wurden geschlagen“. Die tiefen Wunden sind noch lange nicht verheilt. Sie werden vielleicht nie verheilen. In der Mitte des Platzes macht eine Gruppe Jugendlicher Fotos von sich mit der ukrainischen Fahne. Kiew ist zwei Flugstunden von Deutschland entfernt.

Aus der Erstarrung herauskommen

Dzvinka Chajkivska, eine Ärztin, die jetzt für die Caritas arbeitet, schildert ihre Erinnerungen an die Kampftage auf dem Majdan in den Monaten des Aufruhrs während der Jahreswende 2013/2014. Sie will, dass ihr Land weder zur EU noch zu Russland gehört. Unabhängig soll die Ukraine sein, stark und unabhängig. Sie sagt, dass die Menschen Veränderungen wollen, aber oft nicht wüssten welche.

Zuerst hatte sie als Ärztin „humanitäre Interessen“, dann aber wurde sie sensibel für die Politik. Die Nächte der Umkehr auf dem Majdan werden in ihren Erzählungen lebendig. „Ich habe junge Leute mit Gummigeschossen in den Augen vor mir liegen gesehen. Der Majdan brannte. Es war alles im Feuer. Zwei Straßen weiter war alles normal“. Ein Mann mit einer Gewehrkugel im Nasenknochen wurde gebracht. „Hilf mir!“ hat er leise gesagt. Immer mehr Verletzte wurden angeliefert. „In der Nacht rief mich meine Tochter an. Sie teilte mit, dass das Haus, in dem ich arbeitete, brannte. Im Fernsehen hat sie es gesehen. Dann bemerkte ich es auch. Wir flüchteten auf die Straße. Polizeikräfte versuchten dort mit dem Bagger alles wegzuschieben, was ihnen im Weg war. Ein Junge kommt mit Broten für alle, auch für die Polizei. Dann plötzlich bleibt der Bagger stehen und der Fahrer steigt aus“.

Dzvinka beginnt zu weinen. Ich spüre, wie ihr die Ereignisse noch in der Seele, noch in den Knochen sitzen. Angst, tief sitzende Angst ist spürbar. Dzvinka: „Meine Kinder waren auch auf dem Majdan. –Jede Generation muss selbst ihren Weg finden. Aber es verändert sich etwas in den Seelen, in den Herzen der jungen Leute. In jeder schlechten Erfahrung kann man auch eine gute sehen. Am Schlimmsten wäre es, wenn es nach dieser angstvollen Zeit, nach der Zeit der Kämpfe keine Veränderungen gäbe. Auf beiden Seiten! In der Seele bleibe ich optimistisch. Ich habe Poroschenko gewählt in der Hoffnung, dass er die Korruption bei uns bekämpft. Aber im Grunde ist alles eine Frage des Umdenkens. In den Köpfen und Herzen der Menschen muss sich etwas bewegen. Wir müssen aus der Erstarrung der alten Gewohnheiten herauskommen. Auf allen Ebenen.“

Jetzt schon in die Zukunft denken

Im Gespräch mit Nataliya Gumenyuk, einer jungen Journalistin, die mit anderen Journalisten einen Fernsehsender gegründet hat und über die Entwicklung im Osten der Ukraine engagiert berichtet, wird deutlich. wie viele junge Menschen in der Ukraine dabei sind, sich zu politisieren. Sie wollen, dass sich etwas verändert. Reden, schreiben und setzen sich ein dafür, dass ihr Land einen besseren Weg findet. Sie sind kritisch nach allen Seiten, obschon sie wissen, dass Putin andere Ziele verfolgt. Nataliya: „Putins Ziel ist im Grunde, über die Destabilisierung im Osten einen Bürgerkrieg zu entfachen, um dann schließlich zugreifen zu können und ‚alte‘, russische Verhältnisse wiederherzustellen. Was sich bei uns abspielt, ist ein ideologischer Konflikt. Putin will eine Systemänderung – mit allen Mitteln – jetzt vor allem mit Waffen.“

Die Berichterstattung der westlichen Medien sieht Nataliya wie viele der jungen Leute in der Ukraine kritisch. Sie ist ihr zu oberflächlich, zu unwissend, zu uninformiert, vermischt zu vieles, kann nicht trennen zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Und sie ist der Auffassung, dass die Lage, seit Putin Waffen und getarnte Soldaten liefert, nahezu aussichtslos ist. Realistisch stell sie fest: „Eine militärische Lösung wird es nicht geben. Wir müssen jetzt schon über die aktuelle Situation hinausdenken. Zum Beispiel: Die politische Arbeit mit den Binnenflüchtlingen, die später – vielleicht – wieder zurückkehren, ist wichtig“ – Nataliya sieht die Lage nüchtern. Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf, will weiter arbeiten und kämpfen, weiß aber auch, was den Menschen und dem Land noch bevorsteht: „Die Menschen in der Ukraine müssen eine Chemotherapie durchmachen, um sich selber wieder zu finden und ein normales Leben zu führen.“ Während sie das sagt, zeichnet sie auf einer Papierserviette mit dem Kugelschreiber den Verlauf der Frontlinien im Osten des Landes.

Die Ukraine muss sich selber wieder finden

Aleksander Gobartko arbeitet für die „Donbass SOS-Initiative“. Er ist von Beruf Bauingenieur. Die Initiative leistet konkrete Hilfe für Familien von Verletzten und Gefolterten, die aus dem Gebiet im Osten geflüchtet sind. Donbass-SOS leistet auch Hilfe bei der Flucht aus den Städten im Osten des Landes. Die Initiative finanziert sich durch Spenden.

Er zeigt mir einen Flyer, in dem alle wichtigen Hilfsmöglichkeiten verzeichnet sind – mit Telefonnummern und Adressen. Den Flüchtlingen wird an ihrem neuen Aufenthaltsort geholfen, soziale Kontakte aufzubauen. Ich frage Aleksander, ob seine Initiative Unterstützung von der Politik bekommt. Denn eigentlich erfüllt sie die Aufgaben des Sozialstaates: „Es gab einen Kontakt mit dem Staatspräsidenten Poroschenko. Er ist dankbar für die Arbeit, aber finanzielle Unterstützung hat es noch nicht gegeben. Wir hoffen in der Zukunft darauf.“ Das Reizthema „Oligarchenherrschaft“ spricht er ganz offen an. Der Donbass wurde von den reichen Männern ausgebeutet. Vor allem zuletzt durch den gestürzten Staatspräsidenten Janukowitsch: „Die ganze Region gehörte einer Person. Er hat alles Geld, alle Spenden für die Donbassregion mitgenommen.“ Eine militärische Lösung hält auch Aleksander für ausgeschlossen. Nach seiner Meinung müsste man die Grenzen dicht machen und internationalen Beobachtern freien Raum geben. Sein letzter Satz in unserem Gespräch: „Die Ukraine muss sich selber wieder finden. Sie ist dabei, sich zu verlieren.“

Die Europäische Union muss helfen

Maria Ionova treffe ich im Büro der Partei von Vitali Klitschko. Sie trägt ein gelbes Kleid, darüber eine blaue Jacke. Es sind die Farben der ukrainischen Nationalflagge. Maria ist eine enge Mitarbeiterin von Klitschko. Er war in den Tagen des Majdan der „Held“, durch die Medien europaweit bekannt. Dann aber ist er von den Bildschirmen verschwunden. Jetzt ist er Oberbürgermeister von Kiew. Maria: „Wir, das heißt die Mitglieder von UDAR, der Partei, die Klitschko 2010 gegründet hat, arbeiten daran, unsere politische Arbeit immer besser zu organisieren und unsere Basis in der Bevölkerung zu verbreitern. Wir erhalten viel Unterstützung und hoffen auf ein gutes Ergebnis bei den Wahlen im Oktober.“

Maria berichtet von intensiven Hilfen für die Binnenflüchtlinge, von Wohnungs- und Arbeitsvermittlung, von Lebensmittelhilfen für die Soldaten im Osten. Schulen und Kindergärten werden renoviert oder neu gebaut. Die Zusammenarbeit der zahlreichen staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen lässt noch zu wünschen übrig, verbessert sich aber, nach Einschätzung von Maria, zusehends.

Sie ist auch davon überzeugt, dass Waffen nicht die Lösung bringen. Aber sie und ihre Partei bestehen auf weiteren Sanktionen. Maria: „Allein wird die Ukraine es nicht schaffen, diesen Krieg zu gewinnen. Viele Ukrainer haben an Selbstbewusstsein gewonnen, sind bereit, für ihr Land zu sterben. Aber wir stoßen jetzt an die Grenzen der politischen und menschlichen Vernunft. Die Europäische Union muss uns helfen.“

Putin wird von Angst beherrscht

Volodymyr Yermolenko ist freier Journalist und Politologe. Ein klarer, analytischer Kopf. Er arbeitet auch in der Journalistenausbildung. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs stellt er fest: „Es ist Krieg! In Deutschland spricht man von einem Konflikt. Das ist ein Unterschied. Ich habe den Eindruck, dass Politiker im Westen, darunter auch Angela Merkel, vor Putin in die Knie gehen. Die Situation ist und bleibt fragil. Seit Mitte August sind russische Soldaten in unser Land eingedrungen. Dafür gibt es Beweise. Wenn man sie nicht anerkennt, dann spielt man Putin in die Hände. Man muss Position beziehen, auch wenn das wirtschaftliche Nachteile bringen könnte.“

Volodymyr scheut im Blick auf Putin nicht vor klaren Worten zurück. Er personalisiert das Problem: „Putin wird von Angst beherrscht. Ängste treiben ihn an. Er will unbedingt an der Macht bleiben. Diesem Willen ordnet er seine politischen und militärischen Schritte unter. Seine Ängste sitzen sehr tief. Eines seiner Motive heißt: ‚Wenn ich nicht fresse, werde ich gefressen.‘ Er hat in Russland eine fanatisierte Gesellschaft geschaffen, die er bei Laune, in Stimmung halten muss, um seine Machtbasis nicht zu verlieren. Er geht immer nach demselben Muster vor. Siehe Tschetschenien, siehe Georgien, siehe zuletzt die Krim.“

Auch er sagt, dass er militärisch keine Lösung der Probleme sieht. Was ihm vorschwebt, ist eine langfristige und geduldige politische Erklärungs- und Vermittlungsarbeit vor allem im Osten seines Landes. Er spricht von einem Zeitraum von zehn Jahren. Dann sollte ein Referendum stattfinden, in dem die Bürgerinnen und Bürger über ihren politischen und nationalen Status selbst entscheiden können. – Wie lange das Land die gegenwärtige Kriegslage aushalten kann? Er zögert mit einer Antwort: „Vielleicht doch ziemlich lange“. Realismus und Optimismus vermischen sich in seiner Sicht der Dinge, bestimmen seine Überzeugungen und sein Handeln. Er hat einen kühlen Kopf und ein heißes Herz.

Im Osten nichts Neues

Ganz anders die Stimmung am Mittag im Hotel Ukraina am Majdan. Das tägliche Briefing im Krisenzentrum der ukrainischen Militärführung. Zuerst tritt ein verletzter Milizsoldat aus dem Osten vor die Kameras des Fernsehens. Er trägt einen Tarnanzug. Sein Bericht klingt deprimierend. Es fehlen Waffen und Ausrüstung. Es fehlen Panzer. O-Ton: „Die Politik kann uns nicht erklären, warum wir keine schweren Waffen bekommen. Es gibt volle Lager mit schweren Maschinenwaffen, aber sie werden an die Milizionäre nicht ausgeliefert.“ Der Mann berichtet von einer schwerfälligen Militärbürokratie, die die Freiwilligen am Kämpfen hindert. Die Soldaten, sagt er, hätten eine „andere Sicht“ der Lage als die Bürokraten im Innenministerium. „Unsere Armee hat mit dem gegenwärtigen Innenminister keine Zukunft.“ Er berichtet, dass er den Befehl zum Rückzug aus seinem Schutzgraben verweigert habe, weil seine Familie nur acht Kilometer davon entfernt wohnt. Aus diesem Grund wollte er seine Stellung nicht aufgeben. Er will kämpfen. Aber man hindere ihn daran. Er spricht von schwierigen Kommunikationsproblemen zwischen der Front und der politischen Führung im Innenministerium mit einer Offenheit, die für einen Soldaten erstaunlich ist.

Der Sprecher des Sicherheitsrates, auch im Tarnanzug, rattert seinen Lagebericht mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs herunter. Lauter Meldungen, deren Sinn sich für die zahlreich anwesenden Journalisten nur schwer erschließt. Es werden ein paar Rückfragen gestellt. Die Antworten fallen lakonisch aus. Eine seltsam drückende Stimmung lastet im Raum. Die Luft ist stickig. Trister, anonymer Alltag der Militärbürokratie. Die Front ist weit weg. Im Osten nichts Neues. Der Krieg, er zieht sich hin.

Konkrete Hilfen für die Binnenflüchtlinge

Im Gespräch mit Hrihoriy Seleshchuk entfaltet sich ein ganz anderes Bild. Hrihoriy ist Mitarbeiter der griechisch-katholischen Caritas in der Ukraine und seit Langem schon mit der Hilfe für die Binnenflüchtlinge beschäftigt. Eine Arbeit, von der in keinen Schlagzeilen zu lesen ist. Er berichtet im Telegrammstil von der hässlichen Rückseite des Krieges. Aber auch von konkreter Hilfe für die Menschen, die ins Räderwerk der Machtpolitik geraten sind. Drei Beispiele:

  • Eine Familie mit drei Kindern. Der Mann Hausmeister in einem Wohnblock in Luhansk. Er weigert sich, den Separatisten die Schlüssel für die Wohnung oben zu übergeben. Sie wollen dort einen Scharfschützenposten einrichten. Er wird verhaftet. Die Frau mit den Kindern flüchtet auf Umwegen. Bricht sich Kiefer und Rippen. Hilfe ist dringend notwendig und wird von der Caritas geleistet.
  • Drei Brüder aus einer Tatarenfamilie auf der Krim. Sie wollen eine Selbstverteidigungsstelle in ihrem Dorf gründen. Der russische Sicherheitsdienst hindert sie daran. Sie müssen fliehen, um der Verhaftung zu entgehen. Die Caritas hilft.
  • Ein junger Mann, Student, unpolitisch, ukrainefreundlich geht mit seinem Freund, ebenfalls proukrainisch, auf der Straße in einer Stadt im Osten. Er ruft, mehr scherzhaft: „Es lebe die Ukraine!“. Sofort wird er von Sicherheitsleuten, noch auf der Straße, geschlagen, kann aber fliehen. Die Caritas hilft auch ihm.

Scharf kritisiert Hrihoriy die russischen Medien: „Sie lügen professionell. So haben sie zum Beispiel am Tag der Rückkehr der ukrainischen Armee nach Slavjansk die Meldung verbreitet, die Soldaten hätten Kinder gekreuzigt, Frauen mit Haaren an Panzer gefesselt.“ Dazu Hrihorij: „Das Gegenteil war der Fall! Die ukrainischen Soldaten haben Lebensmittel und Wasser gebracht.“ Er zitiert den ehemaligen NS-Propagandaminister Joseph Goebbels: „Je größer die Lüge, desto glaubwürdiger ist sie.“

Konkrete Aufgaben der Caritas für die Flüchtlinge innerhalb des Landes bleiben zum Beispiel: Hilfe bei der Wohnungssuche, die Bezahlung der Miete, wenn das Geld fehlt, Studenten beim Finden einer neuen Universität unterstützen, an der sie weiter studieren können. Wie lange diese Hilfen geleistet werden müssen, ist eine schwierige Frage. Es gilt, die Solidarität der Menschen im Osten und Westen der Ukraine zu stärken und die Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen.

Auf die Frage, wie der Konflikt gelöst werden könne, antwortet mein Gesprächspartner: „Je schneller die Waffenlieferungen gestoppt werden, desto leichter wird die Beendigung des Konfliktes. Wenn das aufhört, dann können die Unterschiede politisch ausgetragen werden. Die russischen Söldner müssen raus. Die Waffenlieferungen müssen aufhören!“ Hrihoriy erzählt einen Witz, der die Lage auf den Punkt bringt: „Zwei Juden, die ihr Leben lang russisch gesprochen haben, treffen sich und beginnen ukrainisch miteinander zu reden. Der eine fragt den anderen: ‚Moische, warum redest du plötzlich ukrainisch? Hast du Angst, dass die Banderasoldaten dich erschießen?‘ Moische antwortet: ‚Nein, ich habe keine Angst. Ich will nur nicht, dass die Russen kommen und mich verteidigen.‘“1

Eine schnelle Lösung gibt es nicht – allen Menschen helfen

Im Abschlussgespräch mit Andrij Waskowycz kommen die Eindrücke der vergangenen konzentrierten Tage noch einmal gebündelt zur Sprache.

Andrij sieht die Lage so: „Unsere, die Aufgabe der Caritas, besteht darin, dass wir alles tun, um einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu verhindern. Die russische Propaganda hat das Ziel, einen Bürgerkrieg zu entfachen. Insofern ist die Arbeit der Caritas Friedensarbeit. Sie braucht und sie hat einen langen Atem.

Was auf dem Majdan geschehen ist, war das Aufbegehren einer Zivilgesellschaft, die mit anderen Werten leben will. Es richtete sich gegen die Übel der alten Gesellschaft, wie sie der gestürzte Präsident Janukowitsch verkörpert hat. Das Aufbegehren war nicht gegen das Regime allein gerichtet. Es ging und geht um andere Werte. Diese anderen Werte sind die Werte der katholischen Soziallehre: Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Sie stehen dem sowjetischen Denken fundamental entgegen. Subsidiarität steht gegen Zentralizität. Solidarität steht gegen das Konzept des Egoismus. Gemeinwohl steht gegen die Cliquenwirtschaft der Oligarchen. Auf dem Majdan ging es um das Modell einer Gesellschaft, wie sie die katholische Soziallehre entwickelt hat. Es geht um die Grundlegung eines neuen Denkens und Lebens. Die Mitarbeiter der Caritas denken so und handeln mit diesem Ziel.

Es gibt viele Anzeichen des Erstarkens eines neuen Bewusstseins. Die Menschen in der Ukraine wollen einen horizontalen Staat, keinen vertikalen. Viele von ihnen sind heute bereit, für ihr Land, für die Durchsetzung der neuen Werte zu sterben. Die neuen Werte sind die Werte der Europäischen Union. Ob die Länder der EU nach ihren Werten leben, ist eine ganz andere Frage. Es könnte sein, dass die Menschen in der Ukraine den Westen beschämen und aufwecken durch ihr neues Denken und Handeln. In der ukrainischen Gesellschaft entsteht etwas Neues. Die Menschen sind skeptisch gegen den Staat ‚an sich‘.

Der Krieg wird lange dauern. Eine schnelle Lösung gibt es nicht. Irrwege sind nicht ausgeschlossen. Die russische Gesellschaft, durch Putin verkörpert, muss begreifen, dass ihr gegenwärtiges Handeln am Ende in die Isolation, zum Zerfall des Imperiums führt.

Wichtig ist festzuhalten, dass die Arbeit der Caritas das Ziel und die Verpflichtung hat, allen Menschen zu helfen, egal welcher politischen oder religiösen Weltanschauung sie sind – im Osten des Landes wie im Westen. Insofern, ich sage es noch einmal, ist die Arbeit der Caritas in der Ukraine eine echte Friedensarbeit. Das mag sich in den Ohren vieler wie eine Utopie anhören. Es ist aber eine Wirklichkeit.“

Bleibt am Ende der Eindruck aus drei ukrainischen Sommertagen des Jahres 2014 von beeindruckenden Menschen, die sich nüchtern, kompetent und leidenschaftlich der gegebenen Situation stellen, die nicht kapitulieren, die nicht nur diskutieren, sondern sich die Hände schmutzig machen, die eine Vorstellung davon haben, was sein soll und was möglich sein könnte. Sie leben in Ängsten. Aber sie leben.


Fußnote:


  1. Anspielung auf die Kämpfer der ukrainischen Nationalbewegung unter Führung von Stepan Bandera, die für zahlreiche antisemitische Übergriffe während des Zweiten Weltkriegs verantwortlich waren. Vgl. dazu auch die Hinweise im Beitrag von Kai Struve, S.280 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎