„Zwei Schulen unter einem Dach“

Anmerkungen zum Bildungssystem Bosnien und Herzegowinas
aus OWEP 4/2011  •  von Saša Gavrić

Saša Gavrić studierte Politik- und Verwaltungswissenschaft in Konstanz. Seit 2006 lebt er wieder in Sarajevo, wo er die Nichtregierungsorganisation „Sarajevo Open Centre“ leitet.

Zusammenfassung

Im Bildungssystem von Bosnien und Herzegowina finden sich trotz intensiver nationaler und internationaler Reformbemühungen zahlreiche Elemente ethnischer Trennung und Diskriminierung. Zusätzlich hemmend wirken sich die komplexen politischen Strukturen aus. Eine Verbesserung wird, wie der Autor darlegt, nur im Rahmen der Gesamtentwicklung des Landes möglich sein.

1995 entstand mit dem Daytoner Friedensabkommen eines der kompliziertesten politischen Systeme der Welt. Das von der internationalen Gemeinschaft aufgezwungene Dokument zementierte die Kriegsresultate. Auf der einen Seite steht seither die mehrheitlich serbische Republika Srpska, auf der anderen Seite die stark dezentralisierte kroatisch-bosniakische Föderation. 2001 kam noch der Distrikt Brčko als vollkommen autonome Einheit hinzu.1 Der Frieden sollte durch die ethnische und territoriale Balance garantiert werden.

Der stark ausgeprägte Föderalismus ist auch im Bildungsbereich sichtbar. Dem gegenwärtigen Verfassungssystem nach sind Bildung, Erziehung und Wissenschaft eine Aufgabe der Entitäten. Im Falle der Föderation Bosnien und Herzegowina liegt die Zuständigkeit noch eine Ebene tiefer – bei den Kantonen. Folgerichtig gibt es ein Bildungsministerium der Republika Srpska, zehn Bildungsministerien in den zehn Kantonen der Föderation Bosnien und Herzegowina und ein Bildungsamt des Distrikts Brčko. Auf der Ebene der Föderation besteht ebenfalls ein Bildungsministerium zur Koordination der kantonalen Ministerien. Damit gibt es dreizehn Bildungsministerien mit eigenen Zuständigkeiten, Strukturen, Lehrplänen und Budgets. Bei einer Einwohnerzahl von ca. 4 Millionen Einwohnern ist dies eine äußerst hohe Anzahl an Bildungsdezentralität!

Trotz intensiver Bemühungen der internationalen Gemeinschaft ist der Bildungssektor in Bosnien und Herzegowina weiterhin getrennt, d. h. der Unterricht erfolgt nach unterschiedlichen nationalen Lehrplänen und Sprachen. Gemäß der Vorstellung dreier ethnischer Gruppen in Bosnien und Herzegowina gibt es auch drei entsprechende Curricula: ein serbisches in der Republika Srpska, eines in bosnischer Sprache in den fünf mehrheitlich bosniakischen Kantonen und eines in kroatischer Sprache in den drei kroatisch dominierten Kantonen. In den Kantonen Herzegowina-Neretva und Mittelbosnien herrscht ethnische Parität, sodass dort der kroatische und bosniakische Lehrplan gleichermaßen zur Anwendung kommen. Außerdem gibt es in diesen Kantonen die so genannten „zwei Schulen unter einem Dach“, die weiter unten vorgestellt werden. Aus dem einheitlichen und zentralisierten Bildungssystem Anfang der neunziger Jahre haben sich drei unabhängige Bildungssysteme mit jeweils eigenen Curricula, Sprachen und Schulbüchern herausgebildet und inzwischen fest etabliert.

Die Struktur des Bildungssystems

Das Bildungssystem Bosnien und Herzegowinas wurde in seiner Grundstruktur vom kommunistischen Jugoslawien übernommen. In ganz Bosnien und Herzegowina gibt es weniger als 200 Kindergärten, sodass nur 4,5 Prozent der Kinder einen Kindergarten besuchen. Kinder aus ländlichen Regionen oder kleinen Gemeinden und Kinder aus ärmeren Familien sind meist von der Vorschulerziehung ausgeschlossen.

Seit 2003 ist für die Primarbildung (osnovna škola) die neunjährige (vorher achtjährige) Grundschule verpflichtend und umfasst damit alle Kinder zwischen sechs und fünfzehn Lebensjahren. Die Schulbesuchsquote für die Grundschule liegt zwischen 93 Prozent und 98 Prozent, denn die Einbeziehung von Kindern aus Gruppen wie Roma, Flüchtlingen oder auch Mädchen in ländlichen Regionen ist leider noch immer sehr problematisch. Nach einer OECD-Studie von 2006 müssen außerdem folgende Schwierigkeiten berücksichtigt werden: zu geringe Größe der Schulen, ungünstige Lehrer-Schüler-Relationen, veraltete Unterrichtsmethoden sowie unzureichende Weiterbildungschancen für Lehrer.

Die allgemeine oder berufliche Sekundarbildung (srednja škola, Mittelschule) dauert, abhängig vom Schultyp, drei beziehungsweise vier Jahre. Etwa 90 Prozent aller Schüler besuchen eine Sekundarschule, vier Fünftel davon eine Art Berufsschule, die übrigen die allgemeinbildenden Sekundarschulen.

Im Hochschulbereich bestehen mittlerweile acht staatliche und über zwanzig Privatuniversitäten. Die Anzahl der Studenten an den staatlichen Universitäten wird auf mehr als 100.000 geschätzt. 2007 wurden mit einem neuen Hochschulrahmengesetz Bologna-Strukturen eingericht, d. h. die Universitäten bieten Bachelor-, Master- und PhD-Studiengänge an. Zu einigen Studienrichtungen herrscht ein starker Zulauf, besonders zu den rechtswissenschaftlichen Fakultäten an den öffentlichen und Privatuniversitäten, was leider eine hohe Akademikerarbeitslosigkeit zur Folge hat. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass jeder Kanton selbstständig über die Errichtung von Universitäten entscheiden kann, ohne dass die kleinen Kantonalbildungsministerien überhaupt in der Lage sind, deren Tätigkeit angemessen zu beurteilen. Regelmäßig wird in den Medien über Korruptionsfälle berichtet, zumal insbesondere viele private Hochschulen nicht einmal einen minimalen akademischen Standard gewährleisten: Oft wird der Unterricht von Gastdozenten angeboten, die Bibliotheken sind völlig unzureichend ausgestattet, wissenschaftliche Forschungsprojekte gibt es nicht. Viele Absolventen erlangen einen Hochschulabschluss ohne Basiswissen.

Apartheid oder Menschenrechte: das Phänomen der „zwei Schulen unter einem Dach“

Eine der vielen negativen Folgen des Krieges in Bosnien und Herzegowina ist die Existenz der so genannten dvije škole pod jednim krovom („zwei Schulen unter einem Dach“). Durch ethnische Säuberungen und Bevölkerungsverschiebungen während des Krieges entstanden in Bosnien und Herzegowina ethnisch reine Territorien. Der bis dahin bestehende ethnische Fleckenteppich wurde zerstört, fast alle Städte und Gemeinden haben ihre multiethnische Struktur verloren. Besonders deutlich ist dies in der Republika Srpska: In der heute serbisch dominierten Entität umfasste der serbische Bevölkerungsanteil bis 1991 nur 55 Prozent – heute sind es 90 Prozent. Von den 140.000 Kroaten vor dem Krieg sind nur noch 10.000 Kroaten (1 Prozent der Gesamtbevölkerung) geblieben; ähnlich hat sich auch die Anzahl der Bosniaken reduziert. In der Föderation Bosnien und Herzegowina ist die Lage nicht besser; dort ist der serbische Bevölkerungsanteil von 400.000 auf ca. 40.000 zurückgegangen.

Diese klare ethnische Struktur ist auch im Bildungssystem sichtbar. Abhängig davon, welche ethnische Gruppe wo dominant ist, wird ausschließlich nach dem Lehrplan der dominanten ethnischen Gruppe unterrichtet. In den ethnisch-gemischten Kantonen entstanden so in den Nachkriegszeiten durch die Rückkehr von Flüchtlingen doppelte Strukturen: Neben den bestehenden Schulen, in denen z. B. die Kinder der kroatischen Mehrheit in dieser Gemeinde zur Schule gehen, gründeten die Rückkehrer, z. B. die Bosniaken, ihre eigenen, sodass sehr bald doppelte Grund- oder Sekundarschulen vorhanden waren. Das Problem betrifft nur die ethnisch gemischten Gemeinden in der Föderation, wo jeweils in einem Teil der Gemeinde Kroaten und im anderen Bosniaken leben. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wollte im Rahmen ihrer Bildungsarbeit in Bosnien und Herzegowina das Problem lösen und hat als vorübergehende Lösung die Institution der „zwei Schulen unter einem Dach“ eingeführt. Die bis dahin bestehenden Schulen in einer Gemeinde wurden unter ein Dach gebracht, in allen Fällen die doppelte Schulverwaltung und die Trennung von Schülern nach ethnischer Herkunft jedoch beibehalten.

Was bedeutet das? Schüler, die vor dieser „Vereinheitlichung“ in unterschiedliche Schulen an zwei unterschiedlichen Orten gegangen sind, werden nun in eine Schule geschickt. Trotz der an sich guten Idee einer gemeinsamen Schule werden sie aufgrund der Entscheidung der Eltern weiterhin in zwei völlig voneinander getrennten Schulsystemen unterrichtet. So gibt es in diesen 54 „zwei Schulen unter einem Dach“ zwei Schuldirektoren, zwei Sportlehrer, zwei zeitlich nicht übereinstimmende „große Pausen“, zwei Schulbibliotheken und teilweise sogar zwei unterschiedliche Schulhöfe. Selbst wenn zwei Schulklassen eines Jahrgangs, von denen die eine nach dem kroatischen und die andere die nach dem bosniakischen Curriculum unterrichtet wird, gleichzeitig Kunst- oder Landeskundeunterricht haben, besuchen sie diesen in getrennten Klassenräumen und bei unterschiedlichen Lehrern.

Auf die mit der Segregation (Trennung) verbundenen Probleme haben unterschiedliche Organisationen hingewiesen, jedoch haben die Politiker im Land bisher noch keine Lösung gefunden. Sehr oft wird in den liberal-bürgerlichen Medien diese Trennung als „Apartheid des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. In der Diskussion wird dabei sehr oft vergessen, dass viele Kinder aus einer ethnisch gemischten Familie stammen (z. B. der Vater Kroate, die Mutter Serbin), die aufgrund der elterlichen Entscheidung in eines der bestehenden Systeme hineingezwungen werden. Liberal gesinnte Familien, die das Konzept der ethnischen Aufteilung ablehnen, haben keine Möglichkeit, ihm zu entgehen.

Rückkehrer und Schulabbrecher

Rückkehrerschüler und -lehrer stellen im Bildungssystem Bosnien und Herzegowinas im Vergleich zu anderen europäischen Staaten eine Besonderheit dar. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen gab es 2005 immer noch 200.000 Flüchtlinge und Rückkehrer, darunter ca. 20 Prozent unter 18 Jahren. Die Beschäftigung von Rückkehrerlehrern, Unterricht in den „nationalen Fächern“, Anpassung der Schulausschüsse an die nationale Zusammensetzung der Schüler, Verbannung von beleidigenden Inhalten aus Schulbüchern – diese Ziele aus einem Abkommen der Bildungsminister von 2002 wurden nur bedingt realisiert.

Ein weiteres Problem, das zum Teil mit der Lage der Rückkehrerkinder zusammenhängt, ist der hohe Anteil von Kindern mit einem niedrigen Bildungsniveau oder sogar ohne jede Schulbildung. Die Erfassung von Schulabbrechern stellt sich zudem als schwierig dar, da es hierzu keine Zahlen gibt und auch kein System zur Erfassung und Kontrolle des Schulbesuchs existiert. Gründe für den Abbruch des Schulbesuchs sind die hohen Kosten für Schulbücher, der lange Schulweg sowie insgesamt unzumutbare Lebensbedingungen. Eine weitere Schwierigkeit für die Rückkehrerkinder ist ferner die Verwendung so genannter „nationaler Curricula“ in den jeweiligen Schulen, die nicht dem ethnischen Hintergrund des Rückkehrerkindes entsprechen. Betroffen sind vor allem Kinder aus armen Verhältnissen, Mädchen eher als Jungen (17 Prozent gegenüber 6 Prozent), Kinder aus ländlichen Regionen sowie Romakinder – nach zuverlässigen Schätzungen besuchen 70-80 Prozent der Romakinder keine Schule. Die Schulbesuchsquote in höheren Klassen der Grundschule sowie in Sekundarschulen liegt noch niedriger als in den ersten Klassen. So gehen z. B. im Kanton Tuzla mit der vermutlich höchsten Schülerquote von Romakindern nur etwa 20 Prozent dieser Kinder regelmäßig zur Schule.

Entwicklungsperspektiven

Leider finden sich im Bildungssystem von Bosnien und Herzegowina trotz intensiver Reformbemühungen immer noch zahlreiche Elemente ethnischer Trennung und Diskriminierung. Erwähnt seien auch die Namen und Symbole von Primar- und Sekundarschulen; oft sind es Militärbefehlshaber, Politiker aus dem jüngsten Krieg oder historische Persönlichkeiten, die eng mit einer bestimmten ethnischen Gruppe verbunden sind. Im April 2004 beschlossen die Minister für Bildung ein Abkommen über die Kriterien für solche Namen und Symbole. Ein Koordinierungsausschuss bereiste 2006 verschiedene Schulen landesweit. Dieser stellte große Probleme bei der Umsetzung der Beschlüsse im ganzen Land fest.

Als bedeutender Fortschritt sind Bemühungen zu bewerten, die im Zuge der Reformen in das Bildungssystem Einzug gefunden haben. Hierzu zählen die Einführung von Schulfächern wie „Demokratie und Menschenrechte“, das das Fach „Zivilverteidigung“ ersetzt hat, aber auch „Kultur der Religionen“, sowie Reformmaßnahmen in den nationalen Schulfächern. Wichtigste Voraussetzung für die Realisierung einer weiteren Demokratisierung des Bildungssystems bleibt allerdings die politische Stabilität des Gesamtstaates.


Fußnote:


  1. Vgl. dazu auch den Beitrag von Saša Gavrić zur Verfassungsreform in diesem Heft. ↩︎