Neuheidentum in Ungarn

Prof. Dr. Dr. András Máté-Tóth ist Theologe und Religionswissenschaftler und hat den Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Universität Szeged (Ungarn) inne. Frau Dr. Réka Szilárdi ist Religionswissenschaftlerin und Assistentin an diesem Lehrstuhl.

Zusammenfassung

Männer in altmodischen Filzmützen, Sportvereine für Bogenschießen, Wandertouren zu Naturheiligtümern, Trommeln für Gesundheit und ruhiges Schlafen – eine verwirrende Vielfalt von Praktiken, Initiativen und Erklärungen in einem modernen Land Mitteleuropas. Diese Phänomene zu verstehen und eine angemessene und kontextgerechte Einstellung auszuarbeiten, dazu braucht man, wie der folgende Beitrag zeigt, sorgfältige Forschung, fundierte Theorie und pastorales Feingefühl.

Das Religionskonzept des zeitgenössischen Neuheidentums

In den letzten 50 bis 60 Jahren etablierte sich in den religionswissenschaftlichen Forschungsparadigmen für das zeitgenössische Szenarium der diversen heidnischen Bewegungen der Sammelbegriff „Neuheidentum“ („Neopaganismus“). Der Begriff bezeichnet in der Fachliteratur soziale Phänomene, die Restaurationsversuche von typischerweise vorchristlichen Religionskulten darstellen, wie etwa das Religionssystem der keltischen Druiden, die germanische Mythologie, den Mithras-Kult sowie altägyptische Religionsrichtungen – alle jedoch auf zeitgenössische Bedürfnisse zugeschnitten.1

Hinter dem Begriff „Neuheidentum“ ist also ein sehr breites und beinahe undurchschaubar buntes Spektrum von verschiedenen Religionstraditionen zu finden, die durch einige gemeinsame Merkmale verbunden sind, die ihrerseits mehr oder weniger alle solche Phänomene kennzeichnen. Zu nennen sind:

  • Versuche einer Remythologisierung,
  • Umweltbewusstsein,
  • Betonung der Geschlechtergleichheit,
  • liberale Einstellung zur Sexualität.

Diese liberale, sehr offene Haltung zeigt sich auch hinsichtlich der Homosexualität. Neopagane Gruppen werden unter anderem deshalb von homosexuell orientierten Personen gerne gesehen, da sie sich dort voll angenommen fühlen. Darüber hinaus werden der ethische Grundsatz „Tue alles, aber verletze niemanden“ und die Toleranz, bezogen vor allem auf religiöse Toleranz, stark betont, es mangelt allerdings an dogmatischen Denkweisen.2

Neopagane Bewegungen betonen oft die Kontinuität ihrer langen Geschichte. So wird beispielsweise bei den Mitgliedern der Wicca-Bewegung die Mitgliedschaft nicht selten durch Generationen von Müttern an die Töchter weitergegeben. In ihren Kreisen ist ein poly- bzw. duotheistisches Religionssystem typisch. Sie erscheinen in kleinen separaten Gruppen, verfügen über kein kirchenartiges Zentralsystem und sind daher nur auf einem sehr niedrigen Niveau hierarchisiert.3 Bestimmte Richtungen des Neuheidentums sind von den USA bis Ostmitteleuropa vorzufinden. In Westeuropa und in den USA sind die Wicca, die keltische Urtraditionen pflegenden modernen Druiden und Anhänger einer Rekonstruktion der germanischen Urreligion, die so genannten Ásatrú („an die Asen Glaubenden“), verbreitet.

Beispiele in Ungarn

Das zeitgenössische Neuheidentum erschien in Ungarn wie in ganz Ostmitteleuropa bereits in den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Mit dem Fall von Mauer und Stacheldraht folgte auf die Periode der Religionsverfolgung seitens der kommunistischen Diktaturen eine neue Zeit der Gewissens- und Religionsfreiheit, die ein breites Feld religiöser Selbstorganisation eröffnete. Obwohl die Wicca, die Ásatrú und die keltischen Traditionen in der Gesellschaft keine tieferen Wurzeln schlagen konnten, wurden die neopaganen Gruppen durch Anlehnung an lokale Religionstraditionen recht populär.

Durch den Vergleich der Geschichte und Glaubenssysteme dieser neugegründeten Gruppen lassen sich zahlreiche Ähnlichkeiten entdecken. Die Mehrzahl der Gruppen entstand in der Nachfolge ähnlicher Gruppen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, alle wurden während des Sowjetregimes gnadenlos verfolgt – manche von ihnen haben die kommunistischen Jahre im Exil in den USA und in Kanada überstanden – und alle lebten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder auf. Alle diese Bewegungen arbeiten an die Wiederbelebung von archaischen Religionstraditionen im Anschluss an westeuropäische Grundmuster, wobei es allerdings einen wesentlichen Unterschied gibt: In Ostmitteleuropa wird der nationalen Identität eine deutliche größere Rolle beigemessen als im Westen, umgekehrt spielen magische Praktiken eine geringere Bedeutung. So verfechten diese Gruppen die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf Stammestraditionen; auch finden sich unter ihnen viele Mitglieder, die politisch rechtsradikal aktiv sind, wobei diese Haltung oft stärker sichtbar ist als die religiöse Einstellung.4

Die heutige neopagane Szene in Ungarn wie in anderen Gesellschaften der Region unterscheidet sich also deutlich von ihren westlichen Verwandten; gleichzeitig weisen die dazugehörigen Gruppen klar analoge Züge auf. Einerseits fehlen bei ihnen die wichtigen Akzente „Gleichberechtigung der Geschlechter“ und „Toleranz“, andererseits wird die Wichtigkeit der nationalen Identität sehr stark betont.5 Die Nation wird „religiös” verstanden und verehrt, wobei die charakteristischen Ereignisse und Mythen der nationalen Urgeschichte eine bedeutende Rolle spielen.

Unter den heterogenen Begriff „Neuheidentum“ können nach einer Studie von 2013 fünfzehn Gruppen gerechnet werden, die auch über einen Internetauftritt verfügen; acht Richtungen haben sich die Rekonstruierung der nationalen Urreligion als erklärtes Ziel gesetzt. Über die Mitgliederzahl dieser Gruppen konnten bis jetzt keine genaue Zahlen ermittelt werden, jedoch ist auch nicht die Anzahl der Mitglieder ausschlaggebend – viel wichtiger ist die öffentliche Wirkung der verschiedenen Glaubensgrundsätze. Es lässt sich nämlich feststellen, dass bestimmte religionsartige Vorstellungen in der allgemeinen Öffentlichkeit ebenso wie bei manchen rechtslastigen politischen Veranstaltungen eine Rolle spielen.6

Im Hinblick auf die recht lockeren Glaubenssysteme lassen sich in Ungarn drei verschiedene zeitgenössische neopagane Richtungen erkennen:

  • Eine erste Gruppe bemüht sich um Adaptation westlicher religiöser Muster. Dazu gehören z. B. die Gruppe der Kelta Wicca Hagyományőrzők (Traditionsbewusste keltische Wicca) oder die Sodalitas Mithraica.
  • Die zweite bedeutende Richtung arbeitet, wie oben bereits angedeutet, hin auf eine Wiederbelebung der (angeblichen) ungarischen Urreligion.7
  • Die dritte Richtung verfügt über einen speziellen ungarischen Charakter, da bestimmte Gruppen Motive der ungarischen Urreligion mit christlichen Glaubensmotiven vermischen. Dieser Synkretismus ist vor allem deshalb von Interesse, da die Befreiung der vorchristlichen Religion von der Übermacht und Verfolgung durch das Christentum eigentlich zu den Grundsätzen des Neuheidentums gehört.

In den religiösen Narrativen dieser Bewegungen setzt sich eine eigenständige Logik durch: Sie wollen eine national-religiöse Identität konstruieren, die einerseits die verschütteten und unterdrückten Weisheiten über die Größe der Nation ans Licht bringt, andererseits diese Inhalte als eine zivilisatorische Größe herausstellt. Letztlich behaupten sie sogar, dass das ganze Christentum einen ungarischen Ursprung habe.8

Die neopaganen Narrative, die eine nationale Altreligion rekonstruieren wollen, gruppieren sich um drei thematische Knotenpunkte herum: die Verkündigung des Glaubens an einen schamanenartigen ungarischen Medizinmann (táltos), eine eigenwillige Auffassung über Ursprung und Geschichte der ungarischen Sprache sowie die Hervorhebung der sakralen Volkstraditionen und ihrer geschichtlichen Kontinuität.9

Neuheidnische ungarische Gruppen in traditioneller Kleidung.10

Nicht die Mitgliederzahl der Bewegungen, sondern die Kraft ihrer Ideen ist es, die den öffentlichen Diskurs in der ungarischen Gesellschaft durchaus beeinflussen. Ihre Öffentlichkeitswirkung zeigte sich deutlich daran, dass die Ungarische Bischofskonferenz 2009 einen Hirtenbrief zur Verteidigung des katholischen Glaubens gegen den neopaganen Geist veröffentlicht hat, der am 20. September 2009 in allen Messen verlesen wurde.11 Gegenerklärungen erfolgten interessanterweise vor allem von antiklerikalen Gruppen. In ihrem Schreiben berufen sich die Bischöfe auf die Wichtigkeit der Pflege der tausendjährigen ungarischen Kultur, der echten christlichen Werte und auf die Notwendigkeit der Verstärkung des Glaubensbewusstseins. Die allgemeine Welle der religiösen Erneuerung führe aber auch zu Fehlentwicklungen und Wildwuchs, darunter zum so genannten „altungarischen Synkretismus“: „Dieses Phänomen ist darum sehr gefährlich, da es sich einer als christlich erscheinenden Wortwahl bedient und damit auch die ihre Religion praktizierenden Gläubigen leicht blenden kann.“ Die Bischöfe heben aus der vielfältigen und bunten Szene der neopaganen Mythen zwei besondere Elemente hervor. Eines bezieht sich auf die Gottesmutter, die in der neopaganen Mythologie mit einer altungarischen Urmutter (Babba-Maria)12 identifiziert wird, das zweite auf die Vorstellung, Jesus sei ein Herzog des Partherreiches (pártus herceg) gewesen.

Einige Bemerkungen zur Einschätzung

Für eine angemessene Beurteilung dieser Phänomene ist vor allem auf den geschichtlichen und kulturellen Kontext Ostmitteleuropas hinzuweisen. Die neuheidnischen Bewegungen können in der heutigen Öffentlichkeit deshalb so wirkungsvoll agieren, weil sie vorgeben, eines der zentralen Probleme dieser Gesellschaften lösen zu können, nämlich die Folgen europäischer Kleinstaaterei mit dem Ringen um nationale Identität zwischen westlicher und östlicher Hegemonie. Die Bedeutung der nationalen Geschichte und der ethnischen Identität gehört in dieser Region zu den zentralen Fragen. Die Botschaft der neopaganen Bewegungen bietet kulturelle Prothesen für die Versuche der Etablierung von stabiler gesellschaftlicher und kultureller Identität.

Bei den Bemühungen um Restabilisierung kollektiver Identitäten ist die Unterscheidung zwischen „echt“ und „unecht“, „wir“ und „die „Anderen“ von enormer Bedeutung. Die neopaganen Gruppen und Bewegungen bieten sehr vereinfachte und sehr nützliche Orientierungsmittel zur Identifikation des Einzelnen und der Gruppen. Sie helfen mit ihren religiösen und religionsartigen Motiven, ihren Mythen und ihrer Sprache bei der Bildung von sicheren Bezugsgruppen, die den „Gläubigen“ persönliche Stabilität in der komplexen Zeit der (Post)Moderne versprechen.

Schließlich ist es noch wichtig hervorzuheben, dass nach den Zeiten der strengen Zensur die entfesselten Medien den Anschein eines totalen Chaos vermitteln, was leicht zu einer gesellschaftlichen Hysterie verleiten kann. Die neopagane Verkündigung der uralten Weisheiten bietet den verunsicherten Menschen in dieser Situation Halt und Stütze. Unter ihren Vertretern findet man viele und auch durchaus erfolgreiche Naturheiler mit alternativen Methoden, was zur Stärkung ihres Einflusses beiträgt.

Durch das vielfältige Phänomen des Neuheidentums werden die tiefen Dimensionen der kulturellen und religiösen Transformation sichtbar. Das Neuheidentum bietet den Menschen Orientierungshilfen in einer hochkomplexen Welt. Will die Kirche dem erfolgreich begegnen, so muss sie die Klarheit des Glaubensgutes inmitten dieser Entwicklungen bewahren und sich zugleich mit diesen Trends auseinandersetzen, damit ihre Botschaft umso klarer zum Tragen kommt.


Fußnoten:


  1. Michael York: Pagan Theology: Paganism as a World Religion. New York, NY, 2005; Christopher McIntosh: The Pagan Revival and its Prospects. In: Futures of Religions 36 (2004), Bd. 9, S. 1037-1041. ↩︎

  2. Dies hat sich aufgrund unserer Recherchen ergeben. Bei der Untersuchung der Gruppen dienten die öffentlichen Selbstdarstellungen als Grundlage. Die dabei gewonnenen Ergebnisse wurden durch fokussierte Interviews kontrolliert und vertieft. ↩︎

  3. York (wie Anm. 1, oben S. 277). ↩︎

  4. Ergo-Hart Västrik: The Heathens in Tartu in 1987-1994: Heritage Protection Club Tőlet. In: Contemporary Folklore Changing World View and Tradition, 1996 (online: http://www.vinland.org/heathen/pagancee/taara.html; Link mittlerweile inaktiv!); Piotr Wiench: Neo-paganism in Central Eastern European Countries. In: Irena Borowik, Grzegorz Babiński (Hrsg.): New religious phenomena in Central and Eastern Europe. Krakau 1997, S. 283-292; Tamás Szilágyi, Réka Szilárdi: Istenek ébredése. A neopogányság vallástudományi vizsgálata. (Die Erweckung der Götter. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung des Neuheidentums). Szeged 2006; Réka Szilárdi: Magyarországi újpogány vallások nemzeti identitáskonstrukciójának narratív mintázatai. (Die narrativen Motive der Nationenkonstruktion in den ungarischen neopaganen Religionen) Diss. phil. Pécs 2013. (online: http://pszichologia.pte.hu/sites/pszichologia.pte.hu/files/files/files/dok/disszert/szilardi_reka-d-2013.pdf; letzter Zugriff: 18.12.2018) ↩︎

  5. Beispiele für solche Gruppen sind die polnische Zadruga, Romuva in Litauen, Dievturi in Lettland und Rodnover in der Slowakei. ↩︎

  6. Vgl. Szilágyi/Szilárdi (wie. Anm. 4, oben - S. 279 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  7. Diese „Kirchen“ sind: Árpád Rendjének Tradicionális Egyháza (Traditionelle Kirche des Árpád-Ordens), Magyar Vallás Közössége (Gemeinschaft der ungarischen Religion), Napkereszt Mozgalom (Bewegung des Sonnenkreuzes), Pannon Wicca, Ősmagyar Egyház (Altungarische Kirche), Tengri Közösség (Tengri-Gemeinschaft), Tűzmadár Táltos Dobkör (Táltos-Trommelkreis des Feuervogels), Yotengrit Egyház (Yotengrit-Kirche). ↩︎

  8. Zu den bekanntesten Ideologen dieser Bewegung zählen Ferenc Badiny Jós, Ida Bobula, Tibor Baráth und Viktor Padányi. ↩︎

  9. Szilárdi (wie Anm. 4, - S. 279 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  10. Auf der Abbildung, die die Autoren zur Verfügung gestellt haben, halten die Personen Schamanentrommeln und traditionelle ungarische Waffen (Pfeil und Bogen). Die Flaggen zeigen Motive aus dem 13. Jahrhundert (Ära der Árpáden) und stehen für eine deutliche politische Aussage: Diejenigen, die sie halten, wollen an diese Epoche anknüpfen, deren Traditionen wiederbeleben und die damaligen Grenzen Ungarns wiederherstellen. ↩︎

  11. Quelle: http://uj.katolikus.hu/cikk.php?h=1386 (letzter Zugriff: 18.12.2018). ↩︎

  12. Die Bezeichnung geht auf die Form zurück, mit der die Gottesmutter in Siebenbürgen benannt wird, hat aber eine andere Bedeutung. ↩︎