Die Bosnische Kirche heute – eine pfingstkirchliche Gemeinschaft in Tuzla

aus OWEP 4/2015  •  von Zrinka Štimac

Dr. Zrinka Štimac ist Religionswissenschaftlerin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Arbeitsfeldes „Religion und Diversität“ am Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung in Braunschweig.

Zusammenfassung

In Bosnien und Herzegowina finden sich zahlreiche Religionsgemeinschaften, die teilweise über eine lange Geschichte verfügen, manchmal aber auch erst seit wenigen Jahren existieren. Die nachstehend beschriebene Gemeinschaft beruft sich auf mittelalterliche Vorläufer, ist de facto jedoch anders ausgerichtet.


Bei diesem Beitrag handelt es sich um die stark gekürzte Fassung eines unveröffentlichten Aufsatzes der Autorin mit dem Titel „Die ‚Bosnische Kirche‘ heute. Eine pentekostale Umdeutung des mittelalterlichen Phänomens“.

In Bosnien und Herzegowina (BiH), das gerade einmal 4,5 Milionen Einwohner hat, gibt es viele Religionen und religiöse Institutionen. Hier treffen die so genannten „historischen Religionen“ aufeinander, der Islam, die katholische Kirche, die Serbische Orthodoxe Kirche, die jüdische Religionsgemeinschaft, dazu kleinere Gruppen der Sufis und der Wahabiten und unzählige kleinere Kirchen und religiöse Gruppen wie z. B. die evangelische Kirche, Baptisten, Adventisten, Bahai, Zeugen Jehovas und Hare Krishna. Atheisten und Agnostiker sind ebenso ein Teil der religiösen Gesamtlandschaft.

Seit dem jüngsten Krieg (1992-1995) ist eine religiöse Konkurrenzsituation entstanden, die an den Bestrebungen verschiedener religiöser Institutionen, die eigene gesellschaftliche Rolle über die legale Position der Religion im Staat, durch Verträge zwischen den Kirchen und dem Staat und durch die Präsenz der Religion in der öffentlichen Bildung gesetzlich zu verankern, erkennbar ist. Im Folgenden soll eine religiöse Gemeinschaft vorgestellt werden, die vor einigen Jahren Bosanska krstjanska zajednica, Hiža u Tuzli, also „Bosnische Christliche Gemeinschaft, Haus in Tuzla“ hieß und sich heute Crkva bosanska, krstjanska zajednica u BiH bzw. „Bosnische Kirche, christliche Gemeinschaft in BiH“ nennt. Sie zählt zu den zahlenmäßig kleinsten beim Justizministerium registrierten Religionsgemeinschaften. Ihr Gründer Antti Tepponen und die Mitglieder verstehen sich als ideelle Nachfolger der untergegangenen mittelalterlichen Bosnischen Kirche.

Mittelalterliche Geschichte hautnah

Über das religiöse Phänomen der Bosnischen Kirche, deren Mitglieder sich krstjani („Christen“) nannten, ist in der Forschung viel Material zusammengetragen worden. Die Hauptfragen drehen sich um die religiöse Substanz dieser „Kirche“ wie auch um die geschichtliche Entstehung, das Wirken, die Beziehungen zum Adel, zu den anderen Kirchen, zu den Nachbarstaaten und natürlich um ihren Untergang. Eine der Hauptinterpretationen besagt, die Bosnische Kirche sei ein „rechtgläubiges“ Phänomen gewesen, das im Einklang entweder mit der katholischen oder mit der orthodoxen Kirche gestanden habe. Die andere Interpretation besagt, sie sei ein „häretisches“ Phänomen gewesen, das eine gnostisch-dualistische Lehre vertreten habe. Eine weitere Interpretation besagt, diese Kirche sei die erste reformatorische Kirche auf dem europäischen Boden gewesen. Nach dem jüngsten Krieg ist in BiH die Interpretation hinzugekommen, wonach die Anhänger der Bosnischen Kirche, die innerhalb dieser Interpretation „häretische Bogumilen“ genannt werden, allesamt zum Islam übergetreten seien. Die Frage der bosnischen krstjani ist also bis heute aktuell geblieben.

Die erhaltenen Primärquellen bezeugen die Präsenz der Bosnischen Kirche (crkva bosanska) seit Anfang des 14. bis Ende des 15. Jahrhunderts. Geschichtlich nachzuweisen ist, dass sich die Mitglieder der Bosnischen Kirche krstjani (Christen) nannten und als die „wahre Kirche Christi“ betrachteten. Dass der Glaube der krstjani nicht mit dem römisch-katholischen Glauben gleichzusetzen war, ist Quellen zu entnehmen, welche einen Unterschied zwischen der „römischen Religion“ und dem „bosnischen Glauben“ machen. Auch der bosnische Ban Stjepan Kotromanić als Katholik unterscheidet Schismatiker (Orthodoxe) von den Häretikern. Diesen Unterschied kannte auch die orthodoxe Kirche, die „Lateiner“ (d. h. Katholiken) und „Häretiker“ auseinanderhielt.

Auf Grund der wenigen Überlieferungen ist zu vermuten, dass sich das Leben der krstjani in Doppelklöstern, hižen (pl. von hiža, altslawisch „Haus“), abspielte. In einer Urkunde des Ban Stjepan Kotromanić wurde die „hiža des großen djed Radoslav in Moištra“ nahe Visoko (im heutigen Zentralbosnien) erwähnt, das bis dahin der Sitz des djed gewesen sein soll. In den hižen sollen Männer und Frauen zusammen gelebt haben. Dafür spricht der Wortlaut einer bekannten Abschwörungsformel der „Häretiker“ aus dem Jahr 1203, der besagt, dass die Vertreter der krstjani eine geschlechtliche Trennung zu versprechen hatten.

Der Untergang der Bosnischen Kirche fällt mit dem Einfall der Türken in Bosnien zusammen. Zu dieser Zeit war König Stjepan Tomašević (1461-1463) an der Macht und kämpfte zugleich gegen die innere Zerrissenheit des eigenen Staates und gegen die äußeren Feinde. Die Hypothese der massenhaften Konvertierung der krstjani zum Islam ist nicht aufrechtzuerhalten. Nachdem das Königreich Bosnien im Jahr 1463 in die Hände der Türken gefallen war, gab es kaum noch Spuren der Bosnischen Kirche, allerdings werden die kristiyan noch in türkischen Listen aus den Jahren 1468/69 und 1476/77 erwähnt.1

Die „Bosnische Kirche“ heute

Die krstjani, um die es heute geht, sind nach eigener Aussage evangelikal-baptistisch-pentekostaler Provenienz. Die „Bosnische Kirche, christliche Gemeinschaft in BiH“ ist eine junge Religionsgemeinschaft, die 1997 in der Stadt Tuzla gegründet wurde und auch online – jedoch nur in lokaler Sprache – präsent ist. Seit 2005 ist sie als Religionsgemeinschaft beim Justizministerium registriert. Nach eigenen Aussagen hat die Gemeinschaft ca. 30 - 40 Mitglieder und viele Sympathisanten. In Tuzla verfügt sie über ein Haus, in dem neben dem Raum für Gottesdienste auch ein Raum für Computerkurse vorhanden ist. Außerdem werden die Räumlichkeiten verschiedenen Jugendgruppen zur Verfügung gestellt.

Die Homepage der Gemeinschaft bietet allgemeine Informationen in den Registerkarten wie z. B. „Über uns“, Texte mit lehrhaftem Charakter, die „Deklaration von Tuzla“ (eine Art von Glaubensbekenntnis) und online-Texte. Wichtige Informationen über Ziele, Aufbau, Hierarchie, Funktionsweise und die Einrichtungen der „Christlichen Gemeinschaft“ wie auch das Glaubensbekenntnis finden sich im Statut dieser Gemeinde.2 Der Aufbau und die innere Hierarchie der Gemeinschaft sind in Art. 5 festgelegt. Hier kommen sowohl die Begriffe als auch die Struktur der mittelalterlichen Bosnischen Kirche zum Tragen. Die lokale Gemeinde in Tuzla wird hiža, die Christen und die Christinnen werden krstjani i krstjanice genannt. Weiterhin wird gesagt, dass die lokale Versammlung vom Rat der Ältesten bzw. starci (starješinski odbor) gewählt wird und der Präsident dieses Rates einer lokalen Gemeinde ein gost sei. Das höchste religiöse und administrative Organ (Strojnički odbor) wird vom Präsidenten bzw. djed geleitet. Neben ihm besteht der Odbor aus weiteren zwölf Mitgliedern (strojnici). Das höchste übergreifende Organ ist die Abgeordnetenversammlung. Aus dem Statut wird deutlich, dass die Gemeinschaft darauf hinarbeitet zu wachsen und weitere religiöse und gesellschaftlich relevante Rollen wie z. B. Bildungsaufgaben zu übernehmen.

Das Glaubensbekenntnis ebenso wie die religiösen Bücher, die Zebur (Psalmen), Indzil (Evangelien) und das Tevrat (Pentateuch) sind in die bosnische Sprache übersetzt worden und können von der Homepage heruntergeladen werden. Für die Titel werden sowohl islamische als auch christliche Begriffe verwendet. In einer früheren Homepagevariante konnten viele weitere Beispiele gefunden werden. So wurde die Bibel auch „El-Kitab“ genannt, und es war von „unserem Herrn dem Messias Jesus (Isa Mesih – Jesus Christos)“ die Rede. Eine Parallelität von islamischen und christlichen Begriffen und Personennamen ist sehr oft in den Textversionen aus dem Jahr 2002, etwas seltener in denen von 2006 zu finden. Heute ist dies zwar nicht mehr der Fall, kann aber als eine Strategie verstanden werden, möglichst viele Menschen zu erreichen und möglichst glaubwürdig zu wirken. Unter den lehrhaften Texten – die ebenso die verschiedenen Sprachvarianten pflegen – werden vielfältige Themen wie z. B. „Trau dich, ehrlich zu sein“, „Warum Terrorismus“, „Die Macht der Vergebung“ und „Die Sorge bekämpfen“ angesprochen. Dabei werden immer wieder die gesellschaftliche Aktualität und die Probleme von Toleranz, Versöhnung und Vergebung angesprochen. Insbesondere werden die Jugendlichen aufgerufen, eine eigene Zukunftsvision zu entwickeln und eigene Hoffnungen zu pflegen.3

Der Gründer und Leiter der Gemeinde, Antti Tepponen, ist finnischer Herkunft und nach dem Bosnienkrieg von der Finnischen Pentekostalen Missionsgesellschaft nach BiH entsandt worden. Seine Kirche war nach ihrer Gründung eine zeitlang Teil der Evangelikalen Kirche in BiH. Nachdem die Arbeit in Tuzla immer konkreter wurde und sich immer mehr Menschen um Tepponen sammelten, hat sich die Gemeinde in Tuzla von dieser Kirche getrennt und ein eigenes Statut verfasst.

Die Arbeit dieser pentekostalen Gemeinde war in den ersten fünf Jahren ausschließlich humanitär und wurde von den Menschen vor Ort sehr gut aufgenommen. Es ging dabei um finanzielle und materielle Hilfe beim Wiederaufbau der Häuser. Die Realität, die es zu bewältigen galt und immer noch gilt, ist komplex. Diesen Kontext beschreibt Tepponen im Interview mit der Autorin mit den Worten: „Dies (die Zeit nach dem jüngsten Krieg) ist sehr interessant im soziologischen Sinne … Es ist ein Rückgang in die Zeit der Stämme. Die Menschen haben ihre Identität verloren und statt sich an der Zukunft zu orientieren, haben sie sich an der Vergangenheit orientiert ... Viele junge Menschen sind hinsichtlich der Fragen nach der eigenen Identität unsicher: Wer sind wir?“

Laut Tepponen liegt eines der grundsätzlichen Probleme in BiH in der verfassungsrechtlichen Verbindung der universalen Menschenrechte mit der alten kommunistischen „Völkergleichheit“ und dadurch der Vermischung der individuellen und der kollektiven Rechte. In seiner Gemeinschaft findet er jedoch Personen, die sich nicht in erster Linie an der nationalen Identität orientieren. In der Kirche wirkend, nimmt er keine Rücksicht auf Nationalitäten: „Wir helfen allen und fragen nicht, ob jemand Katholik oder Muslim ist. Manchmal empfinde ich etwas Druck seitens der Pentekostalen, warum wir allen Menschen und nicht nur den Unseren helfen. Aber ich weiß es nicht, es ist schwierig, schlau zu sein, aber noch schwieriger, ein guter Mensch zu sein …“

Weiter sagt er: „Religion ist überall und kann ein Hindernis für Religiosität sein … sodass ich mich nicht so sehr auf die Religiosität der Menschen konzentriere … Die Botschaft des Propheten hat die Wahrheit der Menschen aufgedeckt, sie hat den Unterschied zwischen Gnade und Verdammnis aufgedeckt. Und so hat er gesagt, falls du das machst, hat es diese Folgen, und falls du etwas anderes machst, wirst du Segen empfangen. Hier braucht man nicht über Religiosität zu sprechen. Man soll sich seiner Autorität unterstellen und seine Gerechtigkeit als Ziel erkennen. Das ist das Reich Gottes.

Wir haben regelmäßige Treffen und lesen das Wort Gottes, wir singen, beten und verbringen die Zeit zusammen. Wir arbeiten vor allem mit neutestamentlichen Texten und versuchen, die Bibel so zu lesen, dass dieser Text in Bezug zum Alltag gebracht wird. Jeder der Texte sagt viel aus und reflektiert die Dinge, die wir sehen, und jeder sagt viel über den Alltag aus; darin sehen wir einen Wegweiser.“

Fazit

Abschließend lassen sich mehrere Aspekte und Strategien der Gemeinschaft herausarbeiten. Sowohl die Bild- als auch die Sprachverwendung auf der Homepage deuten auf die ideelle Nähe zur mittelalterlichen Bosnischen Kirche. Die gewählte Ikonographie (wie z. B. die Figuren und die Ornamente von mittelalterlichen Grabsteinen, den so genannten Stećci) hat in BiH einen hohen Wiedererkennungswert. Weiterhin werden in relevanten Dokumenten diejenigen Begriffe benutzt, die aus der Hierarchie der Bosnischen Kirche bekannt sind (krstjani, hiža, gost, starci, djed usw.). Diese Begriffe sind heute in keinem anderen Kontext außer in der Selbstbezeichnung der Gemeinschaft mehr anzutreffen.

Die genannte Kontextualisierung durch die Benennung der eigenen Hierarchie entsprechend der Hierarchie der mittellalterlichen Bosnischen Kirche zeigt, dass sich diese pentekostale Gemeinschaft – ähnlich allen anderen Religionsgemeinschaften in BiH – eine religiöse „Kontinuität“ erschaffen hat. Im religiös traditionalistischen BiH hängt die gesellschaftliche Legitimität mit der religiösen Kontinuität religiöser Institutionen zusammen. Der nachträgliche „Nachweis“ einer religiösen Kontinuität seit dem Mittelalter kann aus der Perspektive der christlichen Gemeinschaft eine überlebenswichtige Rolle in diesem Kontext spielen. Allerdings ist für Tepponnen diese Kontinuität keine konstruierte, sondern eine tatsächliche, und sie soll für eine lange Tradition des reformatorischen Gedankenguts auf dem Balkan sprechen.

Der Umgang mit Begriffen aus verschiedenen Sprachen und verschiedenen Religionen kann so verstanden werden, dass es nur einen Gott gibt, ungeachtet dessen, welchen Religionen und Nationen die Menschen angehören. Dass es dieser religiösen Gemeinschaft jedoch nicht um alle Menschen, sondern nur um bestimmte Christen geht, wird im christlich-pentekostalen „Glaubensbekenntnis“ deutlich. Dennoch ist ein interreligiöser oder zumindest ein integrativer Gedanke dem innovativen Sprachgebrauch immanent, der in der religiösen Landschaft von BiH sonst in keiner anderen religiösen Gemeinschaft anzutreffen ist.

Die implizite Gesellschaftkritik ist schon beim Gebrauch der Sprache deutlich geworden. Die Einführung einer eigenen religiösen Sprache aus allen drei vorhandenen Varianten stellt sich gegen den gesellschaftlichen Trend der Sprachtrennung. Im Interview wird deutlich, dass die Kritik an der Gesellschaft massiv ist. Dabei wird eine Realität abgebildet, in der zwar über Demokratie gesprochen wird, jedoch die nationalen Trennungen untermauert werden. Die Gesellschaftskritk wird mit religiöser Botschaft verflochten: „Dieses Volk ist wie ein verlorenes Kind, das seinen Vater sucht … und wer ist der Vater … das ist Gott“.

Trotz der von Tepponen nachgezeichneten religiösen Kontinuität seiner Gemeinschaft gibt es im Kontext von BiH kaum Entfaltungsraum für noch eine christliche und dazu noch eine „übernationale“ religiöse Gemeinschaft – einerseits, weil es hier zwei große und starke christliche Konfessionen gibt, und andererseits, weil hier Religionen eine Verbindung zur Nation aufweisen. Außerdem sind auch die dialogische Arbeit und die vermeintliche „übernationale“ Wirkung von denselben Religionen, versammelt im Interreligiösen Rat, besetzt. Also gibt es starke Konkurrenz, zu der eine zahlenmäßig kleine pentekostale Gemeinschaft einen religiösen Beitrag leistet.


Fußnoten:


  1. Siehe Zrinka Štimac: Die Bosnische Kirche. Versuch eines religionswissenschaftlichen Zugangs. Münster 2004. ↩︎

  2. http://www.crkvabosanska.org/index.php?option=com_content&view=article&id=59:statut-krstjanske-zajednice-u-bih&catid=34:vlastiti-dokumenti&Itemid=71 (letzter Zugriff: 18.12.2018). Hinsichtlich des Aufbaus hat das Statut große Ähnlichkeit mit dem Statut der Islamischen Gemeinschaft in BiH. ↩︎

  3. http://www.crkvabosanska.org/index.php?option=com_content&view=article&id=60&Itemid=72 (letzter Zugriff: 18.12.2018) ↩︎