„Pontos Axeinos“ und „Pontos Euxeinos“: Das Schwarze Meer

aus OWEP 1/2019  •  von Stefan Albrecht

Priv.-Doz. Dr. Stefan Albrecht schloss sein Studium in Mainz und Wien (Osteuropäische Geschichte, Byzantinistik, Mittlere und Neuere Geschichte und Rechtswissenschaften) 2001 mit einer Dissertation zum Thema „Die Großmährenforschung in der Tschechoslowakei“ ab. 2018 folgte die kumulative Habilitation über die byzantinische und frühneuzeitliche Krim. Seit 2006 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz.

Zusammenfassung

Das Schwarze Meer wird im westlichen Europa, das von der antiken griechisch-römischen Tradition geprägt ist, ambivalent betrachtet. Seine Bedeutung changiert wie sein antiker Name zwischen einem Pontos Axeinos, dem „unwirtbaren Meer“, und einem Pontos Euxeinos, dem gastfreundlichen Meer. Dem umfangreichen und meist friedlichen Austausch zwischen den vielen Anrainervölkern und den anderen Ländern Europas zum Trotz blieb es weitgehend unbekannt und fremd.

Pontos Axeinos

„Mich halten die kalten Gestade des Pontus Euxinus, der bei den Alten der Unwirthbare (axeinos) hieß. Denn hier wird das Meer nicht von mäßigen Winden beweget, und kein fremdes Schiff besuchet einen ruhigen Hafen. Völker sind umher, die Beute durch Blut suchen, und das Land wird nicht minder gefürchtet, als das treulose Wasser... Nicht fern von mir ist der Ort, wo der Taurische Altar der Köcher tragenden Göttin des schrecklichen Mordes sich erfreut ... Hier war, wie man erzählt, des Thoas Reich, nicht beneidet von den Bösen, nicht begehrt von den Guten.“ (Ovid Tristia 4. el. 4 57f.)

Ovids Klage verhallte nicht ungehört. Sie prägte die Gattung Exilliteratur, ist das Erstlingswerk der Verbannten, noch nie zuvor hatte jemand sein Exil in so wundervoll klagende Worte gefasst wie er – er machte die Exilerfahrung überhaupt erst beschreibbar. Ovids „Tristia“ und genauso seine späteren „Epistulae ex ponto“ formten aber auch mächtig mit an dem Bild, das die lateinische Welt vom Schwarzen Meer hatte.1

Ovid wurde aus seinem Rom, dem Mittelpunkt der Welt, nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt. Nach einer langen Reise durch das wilde Schwarze Meer, das sich hier den Namen Pontos Axeinos, „unwirtbares Meer“, wahrhaft verdient hat, in Tomis, dem Ende der Welt, angekommen, fühlt er sich umgeben von wilden Völkern. Hier siedeln Geten, Sarmaten und Skythen in frostiger Umgebung. Seine Eindrücke aus dem winterlichen Tomis gibt er in grotesk übertriebener Weise wieder: Der Wein sei zu Blöcken erstarrt, die Fische in der Eisdecke des Meeres festgefroren und die Delphine werden durch die Eisdecke am Springen gehindert. Diese eiskalte Trostlosigkeit des Exils diente Ovid dazu, Tomis als einen Ort zu zeichnen, der geradezu in einer Rom entgegengesetzten Welt liegt. Für Ovid ist das Schwarze Meer das Ende der zivilisierten Welt, oder besser, der Übergang von der griechischen-römischen Zivilisation hin zu den wilden Völkerschaften der Steppe und des Kaukasus.

Ovid hatte dieses Bild nicht erfunden und deswegen konnte er, wohl an Bekanntes anknüpfend, darauf hoffen, mit seiner Klage verstanden zu werden. Dass das Schwarze Meer, bevor es Pontos Euxeinos genannt wurde, Pontos Axeinos geheißen habe, weil die Anwohner so wild seien und weil die Taurer die Fremden zu töten pflegten, kolportierte auch Ovids Zeitgenosse Strabo, selbst in Amaseia am Schwarzen Meer geboren (Strabo VII, 13). Ovid und Strabo erinnern dabei an die Geschichte von Iphigenie, die in den Norden des Schwarzen Meeres zu den Taurern entrückt worden war und dort als Priesterin der Artemis die Fremden, die es wagten, das Land zu betreten, opferte.

Und auch Iason, der seinem Onkel Pelias das Goldene Vlies herbeibringen soll, das im Hain des Ares in Kolchis hängt, wo heute die Küste Georgiens liegt, kommt auf seinem Weg dorthin mit seinen Argonauten über ein feindliches Meer an wenig freundlichen Völkern und Fabelwesen wie den Harpyien2 vorbei, um in Kolchis auf ein wunderbar reiches Land zu treffen. Doch auch diese Kolchis ist trotz allen Reichtums ein Barbarenland. Später zerfiel sie in kleinere Einheiten und das Gebiet wurde von den Lazikoi und Alanen besiedelt.

Später nahmen diese Völkerschaften teilweise den christlichen Glauben an, wovon zahlreiche Basiliken zeugen, die in die Spätantike datieren. Unter dem Druck der Araber zerfielen ihre Reiche und es bildeten sich neue kleine Staaten, die teilweise wiederum unter georgischen Einfluss gerieten. Sie blieben im Spannungsfeld von Byzanz und Persern, später von Osmanischem und Perserreich. Unterwerfen ließen sie sich die längste Zeit nicht, bis das Russische Reich im 19. Jahrhundert einen langen und für beide Seiten blutigen Eroberungskrieg in den unzugänglichen Schluchten des Kaukasus begann, dessen Folgen in der Region noch heute zu spüren sind. Die Stadt Sotschi, in der 2014 die Olympischen Winterspiele stattfanden und die zu einem äußerst beliebten Ziel für Sommerurlauber geworden ist, hat ihren Ursprung in diesem Krieg. Sie wurde 1838 als eine militärische Befestigung der russischen Armee gegründet. Als der Krieg gegen die Kaukasusvölker gewonnen war, siedelten von dort insbesondere die Tscherkessen mehr oder weniger freiwillig ins Osmanische Reich um und machten Platz für russische Siedler.

Was Ovid so kunstvoll beklagte und was die griechische Mythologie besang, formte das Bild vom Schwarzen Meer im griechisch-römisch geprägten Europa über Jahrhunderte. Gerade der Iphigenie-Stoff war und ist in das kollektive Gedächtnis eingedrungen und macht vorzüglich den Norden des Schwarzen Meeres zu einer fremden und feindlichen, einer nicht europäischen, sondern asiatischen Gegend.

Auch die Literatur des Mittelalters ließ das Schwarze Meer zum Verbannungsort werden. Papst Clemens‘ I. Verbannung bei Chersonesos (heute Sewastopol) und sein Martyrium in den Fluten des Pontos war allgemein bekannt, es findet sich in den Weltchroniken und Legendaren der Zeit und nicht wenige Kirchen von Frankreich bis Norwegen erinnern daran. Papst Martins I. Briefe klagten nicht anders als die Ovids die Unwirtlichkeit und Widerwärtigkeit der Krim an. Und auch das Massaker, das Kaiser Justinian II. angeblich an den Chersoniten hatte verüben lassen, und der Untergang der byzantinischen Flotte auf dem Schwarzen Meer war in jeder guten Weltgeschichte zu lesen.

Zweifellos haben diese klassischen und hagiographischen Texte das Schwarze Meer, zu dessen Ufern schon hunderte Jahre vor Ovid griechische Kolonisten mediterrane Kultur gebracht hatten, in literarischen Verruf gebracht. In dieser Perspektive wurde es zu einem Meer, das eher trennt als verbindet, ganz anders als das Binnenmeer der Romanitas, das Mittelmeer, aber auch anders als etwa die nur um Weniges kleinere Ostsee.

„Axeinos“, ungastlich, war das Meer aber nicht nur für die Literaten in ihren mehr oder weniger fiktionalen Texten. Axeinos war es für alle, die von den Nomaden des Nordens als Sklaven in den Süden gebracht wurden, und nur selten hatten sie die Chance, in der Sklaverei zu höchsten Würden aufzusteigen wie Roxelane. Roxelane – so wurde sie später erst genannt – stammte aus dem polnischen Ruthenien und war wohl um 1500 geboren worden. Noch ein halbes Kind, wurde sie bei einem Raubzug der Krimtataren entführt und an den Serail in Konstantinopel verkauft. Hier gelang ihr ein märchenhafter Aufstieg, der sie zur Hürrem Sultan, der Gattin Sultan Süleymans I., machte. Ihr anfängliches Schicksal teilte sie jedoch mit abertausenden Menschen beiderlei Geschlechts, die über Hunderte von Jahren zumeist im Hafen von Kaffa, dem heutigen Feodosija auf der Krim, verkauft und verschifft wurden. Noch zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Sklavenhandel über das Schwarze Meer hinweg von großer wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung. Gerade aus Tscherkessien und Abchasien gelangten zu jener Zeit Sklaven auf den Markt. Wenn der Baron von Münchhausen in einer seiner Lügengeschichten nach seiner Gefangennahme bei Otschakow als Sklave ins Osmanische Reich kam, war das zwar gewiss genauso Ergebnis seiner blühenden Phantasie wie der Rest seiner Abenteuergeschichten, zeigte aber letztlich die Präsenz von Sklavenhandel und Sklaverei im Schwarzmeerraum genauso, wie es Mozarts „Entführung aus dem Serail“ für das Mediterraneum tat.

Gleichwohl war das Schwarze Meer in Europa lange Zeit nicht sehr bekannt, man wusste von ihm nur aus den oben beschriebenen Quellen, zuweilen auch aus Berichten freigekaufter oder geflohener Sklaven. Die Hohe Pforte, wie man die osmanische Regierung nannte, verwehrte nämlich allen Handel und Verkehr, sofern er nicht von den Untertanen der Osmanischen Reiches betrieben wurde. Das Schwarze Meer war, wie es Fernand Braudel einmal sagte, ein „türkischer See“ geworden.

Mit der Ausdehnung des Russischen Reiches nach Süden und seinem Ausgreifen erst nach dem Asowschen Meer und dann nach der Krim rückte der Schwarzmeerraum als Kriegsschauplatz vermehrt in das Bewusstsein einer europäischen Öffentlichkeit, die davon in den gerade entstandenen Zeitungen lesen konnte.

Unter dem Eindruck der Kriege und der sich verschiebenden Machtverhältnisse wurden Nachrichten über den Schwarzmeerraum und besonders über die Krim begierig aufgenommen. Reiseberichte von Handlungsreisenden wurden noch kurz vor dem Ende des Krimkhanats in verschiedene Sprachen übersetzt und bildeten noch Anfang des 19. Jahrhunderts die Basis für das Wissen über diese Region. Besonders die Reisen des Claude-Charles de Peyssonnel (1727-1790), eines französischen Konsuls auf der Krim, und Nikolaus Ernst Kleemanns (1736-ca.1800), der ursprünglich im Tabakgeschäft in Prag tätig war, stießen auf große Resonanz. Noch aber blieb das Schwarze Meer den Autoren ein fremdes, orientalisches Gebiet, in dem man zwar auf Handel hoffte, in dem man aber genauso unbehaust war wie am Roten Meer. Und Kleemann schloss sich dem althergebrachten Diskurs über den Pontos Axeinos an, wenn er in seinem „Tagebuch der Reisen von Wien auf der Donau bis an das schwarze Meer, dann zu Land durch die Butschiak- und Nogemtartarey in die Krim, von da über das schwarze Meer nach Constantinopel und Smyrna und durch den Archipelagum, den Golf di Venezia über Triest nach Wien zurück. In den Jahren 1768, 1769 und 1770 …“ über sein eiskaltes Quartier in Otschakow schrieb: „Ist dies der Aufenthalt des guten Ovids in diesen schrecklichen Gegenden gewesen, o so hat er immer noch zu wenig geklaget! so rührend auch diese Klagen sind. Ich fühlte alles, was er nur in seinem Elende empfunden haben kann.“

Doch erst der Krimkrieg brachte dann nicht nur die Halbinsel im Norden mit ihren Schlachtfeldern in Sewastopol, an der Alma, in Balaklawa und Inkerman, sondern vielmehr den ganzen Schwarzmeerraum in die Gazetten des Westens und ins moderne kollektive Bewusstsein. Eine der ersten Schlachten dieses Krieges war zwischen der russischen und der osmanischen Flotte im November 1853 vor Sinope geschlagen worden, als die Schiffe unter dem Andreaskreuz fast die ganze Flotte des Sultans vernichtet hatten. Gleichzeitig kämpften russische und osmanische Soldaten in Georgien von Osurgeti bis Kars miteinander, wobei die Truppen des Zaren die Oberhand behielten. Von der Krim kamen die ersten Fotoreportagen, in den Großstädten entstanden Panoramen, die sich die Massen anschauten. Leid und Heldentum der Soldaten auf der Krim und auf den Schiffen waren täglich präsent, Florence Nightingale, die Begründerin des modernen Krankenpflegewesen, pflegte insbesondere die englischen Verwundeten und wurde dafür zu einer Ikone der englischen Zivilgesellschaft.

Zwar wurde nie direkt darauf angespielt – aber Ovids Klage über die wilden Völker am Nordrand des Schwarzen Meeres hätte sich noch Mitte des 19. Jahrhunderts wohl auch ein beliebiger lateineuropäischer Dichter angeschlossen. Denn man sah in England, Frankreich und auch in Italien dort wieder eine grausame Macht unzivilisierter halbwilder Menschen einer mediterranen Zivilisation gegenüber, zu der auch das Osmanische Reich gezählt wurde, das man irrigerweise für irgendwie liberal hielt.

Der Friedensvertrag von Paris von 1856 erklärte das Schwarze Meer für neutral. Während die Handelsschifffahrt frei war, durften Kriegsschiffe das Meer nicht befahren, was freilich schon zwanzig Jahre später von Russland im Schatten des Deutsch-Französischen Krieges einseitig aufgekündigt wurde.

Im Ersten Weltkrieg gab es im Schwarzen Meer keine größeren Gefechte. Jedoch nach dem Krieg drangen die Truppen der westlichen Alliierten in das Randmeer ein, um die zaristische Weiße Armee unter Denikin und Wrangel auf der Krim gegen den „asiatischen Bolschewismus“ zu unterstützen. Wieder konnte man sich, wenn auch unausgesprochen, auf das alte Urteil Ovids berufen, dass das Schwarze Meer die zivilisierte Welt von der der Barbaren trennt.

Pontos Euxeinos

Mit der Eroberung der Krim und eines Teils des Schwarzmeerufers durch Russland begann auch eine Zeit, in der die antike und mittelalterliche Geschichte der Region mit Begeisterung neu entdeckt wurde. Viele russische und westeuropäische Forschungsreisende machten sich auf den Weg, um „die Perle des Russischen Imperiums“ zu besichtigen. Der Botaniker und Geograph Peter Simon Pallas (1741-1811) und die britische Schriftstellerin Lady Elizabeth Craven (1750-1828) waren dort und machten ihre Leserschaft mit Landschaft, Ethnologie und Fauna und Flora der Gegend bekannt.

Andere wie der Schweizer Archäologe Frédéric Dubois de Montpéreux (1798-1850) bereisten in den 1830er Jahren im Auftrag des Zaren die gesamte Ostküste des Schwarzen Meeres, um dort nach Altertümern zu suchen. Karl Eduard Zachariae von Lingenthal (1812-1894), einer der herausragenden Rechtshistoriker seiner Zeit und Kenner auch der byzantinischen juristischen Texte, unternahm 1837/38 eine wissenschaftliche Reise, die ihn nicht nur nach Athen, Thessaloniki, auf den Berg Athos und Konstantinopel, sondern auch nach Trapezunt führte.

Am 25. März 1839 wurde in Odessa schließlich eine der ersten historischen Gesellschaften in Russland unter dem Namen der „Kaiserlichen Gesellschaft für die Geschichte und Antike“ unter der Schirmherrschaft von Michail S. Worontsow, dem Gouverneur von Neu-Russland und Bessarabien, gegründet. Innerhalb kürzester Zeit organisierte sie Ausgrabungen und sammelte Antiquitäten, wobei sie zahlreiche Unterstützer aus dem Adel und dem Bürgertum fand. Die Gesellschaft konnte archäologisches Material aus der Gegend des nördlichen Schwarzen Meeres sammeln, wodurch das Museum Odessas weit über Russlands Grenzen hinaus berühmt wurde.

Die Tätigkeit dieser Forscher machte Europa mit dem Meer bekannt, das die Antike Pontos Euxeinos, gastfreundliches Meer, genannt hatte. Durch die griechische Kolonisation war das Meer ringsum fest in Handel und Wandel der griechisch-römischen Welt eingeschrieben. Nicht nur, aber vor allem von Milet aus sind die Kolonien Odessos, Histria, Harpis, Tyras, Borysthenes, Olbia, Kerkiniteis, Chersonesos, Theodosia, Nymphaion, Panticapaion, Phanagoria, Hermonassa, Gorippa, Sinope, Trapezous und natürlich Ovids Tomis gegründet worden, wo in der Tat Griechen und Römer auf Skythen und Sarmaten, auf Hunnen und auf Goten trafen. Diese Kolonien waren Teil eines großen Netzwerks, das bis zum Ende des Oströmischen Reiches Bestand hatte.

In den Ausgrabungen der griechischen Siedlungen findet man afrikanische Terra Sigillata genauso wie Keramik aus Sinope, Pilgerampullen aus Ägypten und byzantinische Bleisiegel in großer Zahl. Aus dem byzantinischen Cherson auf der Krim wurde das Oströmische Reich mit Garum, der berühmten fermentierten Fischsauce, versorgt.

Ruinen von Cherson auf der Krim (Foto: Römisch-Germanisches Zentralmuseum)

Durch diese Funde wurde der Schwarzmeerraum zum Mediterraneum der Anrainer, hier fand gerade Russland seine eigene Antike und hier konnten seine Archäologen auf Augenhöhe mit den übrigen Europäern treten.

Im Herbst 2018 haben Forscher der Universität Southampton in gut 2.000 m Tiefe vor der bulgarischen Küste das Wrack eines zweieinhalbtausend Jahre alten Schiffes gefunden, das wohl älteste Zeugnis der Schwarzmeerschifffahrt.3 Vielleicht noch eindrucksvoller sind die mehr als 60 anderen Wracks von Handelsschiffen aus römischer bis osmanischer Zeit, die dort ebenfalls gefunden wurden. Alle sind erstaunlich gut erhalten, weil unterhalb von etwa 140 m Tiefe im Schwarzen Meer eine sauerstofffreie Todeszone beginnt, in der organisches Material wie das Holz der antiken Schiffe hervorragend konserviert wird. Grund dafür ist die Tatsache, dass das verhältnismäßig kleine, aber tiefe Schwarze Meer von einer Vielzahl gewaltiger Ströme mit nährstoffreichem Süßwasser geflutet wird, das sich über das dichte, salzige Tiefenwasser legt und mangels größerer Strömungen und Gezeiten nicht gemischt wird. Die bulgarischen Funde ergänzen damit zahlreiche andere Entdeckungen, die seit der Mitte der 1970er Jahre und seit der Intensivierung der Unterwasserarchäologie um die Jahrtausendwende fast jährlich vor allem vor Sinope und auf der Krim gemacht wurden und werden und die das Wissen über Schiffbau und Handel auf dem Schwarzen Meer wesentlich erweitern.

Aber nicht nur die Antike wurde im 19. und 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Denn auf der Krim war die mittelalterliche Rus mit Byzanz in Kontakt getreten, hier soll Fürst Wladimir I., der Heilige, die Taufe erhalten haben. Dieses Ereignis sollte noch in jüngster Vergangenheit neue Bedeutung erhalten, als Wladimir Putin erklärte, die Krim sei für die Russen „wie der Tempelberg in Jerusalem“ für Muslime und Juden. Folglich schenkte und schenkt man den byzantinischen Ruinen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und auch die italienische Vergangenheit des 13. bis 15. Jahrhunderts wurde sorgsam restauriert, so etwa die gewaltige genuesische Festung Soldaia (Sudak).

Über Soldaia stießen die venezianischen Brüder und Juwelenhändler Niccolò und Maffeo Polo um 1260 in das Innere Asiens vor. Der berühmte Sohn Niccolòs, Marco, hatte später in der Stadt ein Haus, das er in seinem Testament den Franziskanern überschrieb. Der Rivale Venedigs, Genua, schloss zur gleichen Zeit ein Bündnis mit Byzanz und erhielt damit Zugang zum Schwarzen Meer und weitreichende Handelsprivilegien. In Kaffa auf der Krim, dem heutigen Feodosija, errichteten die Genuesen ihre erste und bald bedeutendste Niederlassung. Ihr waren bald sämtliche genuesischen Kontore im weiteren Schwarzmeerraum unterstellt, die nach und nach entstanden, so Ende des 13. Jahrhunderts in Trapezunt, wo die Genuesen zwar gebraucht, aber nicht geliebt, eine höchst ambivalente Stellung einnahmen; um 1302 entstand dann am Südufer der Posten in Samsun, zehn Jahre früher in Moncastrum, dem heutigen Bilhorod-Dnistrowskyj. Die Venezianer setzten sich außer in Soldaia vor allen in Tana (Asow) fest, einem der Endpunkte der via mongolica. Die Beziehungen der Italiener zu den Anrainern waren wohl zumeist freundlich und wirtschaftlich nützlich, Konflikte blieben aber nicht aus. Als besonders folgenschwer erwies sich die Belagerung Kaffas durch die Tataren, denn von hier aus brachten flüchtende Italiener Mitte des 14. Jahrhunderts die Große Pest nach Europa.

Die Zeiten, in denen Genuesen und Venezianer um die Vorherrschaft im Schwarzen Meer rangen und den Fernhandel pflegten, waren mit dem Fall Konstantinopels für fast ein halbes Jahrhundert vorbei. Dennoch war und blieb es ein wichtiger Handelsweg. In osmanischer Zeit war es der Weg, auf dem von Norden kommend Pelze, Wolle, Leinwand, Honig und Korn nach Konstantinopel gingen, von Süden gelangte Kaffee aus Westindien und von der Donaumündung Fensterglas aus Deutschland auf die Krim.

Schon Mitte des 18. Jahrhunderts forderte Kaiserin Elisabeth die russische Kaufmannschaft dazu auf, eine eigene Kompanie für den Schwarzmeerhandel in Rostow am Don zu gründen. Da es Russland im Frieden von Belgrad 1739 untersagt worden war, eine eigene Schwarzmeerflotte zu unterhalten, mussten die vorwiegend armenischen Kaufleute der Kompanie mit der Pforte kooperieren und von dort Schiffe und Mannschaften besorgen.

Nachdem der Nordrand des Schwarzen Meeres weitgehend an Russland gefallen war, und insbesondere nach der Gründung von Odessa, aber auch von anderen neuen Häfen wie Mariupol oder Cherson (nicht zu verwechseln mit der byzantinischen Stadt auf der Krim), also in der Zeit der napoleonischen Kriege, wuchs der Schwarzmeerhandel rasant und ein großer Teil des russischen Getreideexportes wurde so abgewickelt, der zu einem nicht geringen Teil nach Großbritannien ging. Schon damals hatte wie auch heute der Ölexport einen großen Anteil am Handelsvolumen auf dem Schwarzen Meer. Auch für Österreich-Ungarn erhielt der Schwarzmeerhandel zunehmend Βedeutung als Handelsweg, wo unter anderem der Österreichische Lloyd operierte und Waren, die über die seit den 1890er Jahren regulierte Donau kamen, übernahm. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Freiheit des Handels auf dem Schwarzen Meer Gegenstand mehrerer Verträge. 1936 wurde die Freiheit der friedlichen Durchfahrt von Handelsschiffen durch die Meerengen im Vertrag von Montreux geregelt, der bis heute gilt, aber aufgrund des zunehmenden Schiffverkehrs in jüngerer Zeit in Frage gestellt wird. Heute wird die Kooperation der Schwarzmeeranrainer in der internationalen Organisation der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (BSCE) koordiniert.

Fazit und Ausblick

Das Schwarze Meer war in seiner Bedeutung für Europa immer ambivalent: Es war Europas Fenster nach Asien und zugleich das Asiens nach Europa. Von hier blickten die Steppenvölker ins Mediterraneum. Manchmal war es gewiss auch Surrogat für das nicht Erreichbare der Mittelmeerwelt – nicht nur in Zeiten, in denen Urlauber etwa aus der DDR nicht nach Italien, dem Land deutscher Sehnsucht, reisen konnten, sondern „nur“ an den bulgarischen Goldstrand oder vielleicht auch auf die Krim, wo in der Sowjetunion riesige Ferienresorts entstanden waren.

Von hier schaute jedoch auch die griechisch-römisch geprägte Welt (West-)Europas nach Norden und Osten in eine unbekannte und ihr oftmals unfreundlich erscheinende Welt, die nicht zuletzt dadurch verschlossen blieb, dass das Meer über lange Zeiträume wenn nicht abgeschottet, so doch durch die Umarmung feindlicher Mächte dem Zugriff entzogen blieb.

Das Schwarze Meer, ein Binnenmeer in Südosteuropa, umfasst ca. 430.000 km²; Anrainerstaaten sind die Ukraine, Russland, Georgien, die Türkei, Bulgarien und Rumänien. Über den Bosporus steht es mit dem Mittelmeer in Verbindung, die Straße von Kertsch stellt die Verbindung zum Asowschen Meer (kleineres Nebenmeer) her. Historisch wie kulturell gesehen liegt das Schwarze Meer an der Grenze zwischen Europa und Asien; die ambivalenten Bezeichnungen als „unwirtbares/unwirtliches“ und „gastfreundliches“ Meer spiegeln die wechselhafte Rolle dieses Meeres in der Geschichte wider.
Die Redaktion


Fußnoten:


  1. Auch der heute gebräuchliche Name „Schwarzes Meer“ ist bereits in der Antike nachweisbar (griechisch „Pontos melas“) und spielt auf die häufig zu beobachtende dunkle Verfärbung des Wasser durch Bakterien an. Der Name hat sich nach und nach in Europa durchgesetzt. (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎

  2. Mischwesen in Gestalt eines Vogels mit Frauenkopf. ↩︎

  3. Bericht z. B. unter https://www.welt.de/geschichte/article182624106/Schwarzes-Meer-Forscher-entdecken-aeltestes-intaktes-Schiffswrack.html (letzter Zugriff: 07.12.2022). ↩︎