Wer kontrollliert das Asowsche Meer?

Hintergründe zum Russland-Ukraine-Konflikt
aus OWEP 1/2019  •  von Wilfried Jilge

Wilfried Jilge ist Osteuropahistoriker und war zuletzt mehrere Jahre für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u. a. Zeitgeschichte und Politik der Ukraine und Russlands, die Probleme im Zusammenhang mit der Integration der Ukraine in die EU sowie innen- und außenpolitische Aspekte der Ukraine-Russland-Krise.

Zusammenfassung

Im November 2018 ist das bis dahin kaum bekannte Asowsche Meer, ein Nebenmeer des Schwarzen Meeres, in die internationalen Schlagzeilen geraten. Der nachfolgende Beitrag analysiert die Vorgänge im Rahmen des Russland-Ukraine-Konflikts, dessen Ende noch nicht absehbar ist.

Ein Zwischenfall und seine Vorgeschichte

Am 25. November 2018 wurde das Asowsche Meer Schauplatz einer von Russland ausgehenden militärischen Konfrontation zwischen der Küstenwache der Russischen Föderation (RF) und der ukrainischen Marine. Russische Boote der dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB unterstellten russischen Küstenwache verweigerten mit Unterstützung der russischen Schwarzmeerflotte drei Booten der ukrainischen Marine (die Artillerieboote „Nikopol‘“ und „Berdjansk“ und der Schlepper „Jany Kapu“) die Durchfahrt durch die Meerenge von Kertsch. Die ukrainischen Boote sollten von Odessa in den Hafen von Mariupol verlegt werden.

Blick aus dem Weltraum auf das Asowsche Meer (Foto: NASA)1

Die Ukraine hatte im Sommer 2018 damit begonnen, im Asowschen einen Marinestützpunkt aufzubauen. Marineboote sollten die Durchfahrt auf dem Asowschen Meer der die ukrainischen Häfen ansteuernden Handelsschiffe sichern, nachdem Russland mit langwierigen einseitigen Kontrollen seit Juni/Juli 2018 eine de-facto-Blockade für ukrainische Häfen ansteuernde Schiffe errichtet hatte. Die Lage eskaliert schließlich am Abend, als die ukrainischen Schiffe versuchen, aus der Blockade südlich der Krimbrücke auszubrechen, um dann wieder in den Heimathafen Odessa zurückzukehren. Dabei werden sie von der russischen Küstenwache verfolgt, wobei auch russische Kampfjets und Helikopter zum Einsatz kommen. Bei der Verfolgung eröffnen die russischen Schiffe das Feuer auf die ukrainischen Boote, die nicht zurückschießen.2 Laut FSB werden drei, nach ukrainischen Angaben sechs ukrainische Matrosen verletzt. Die Besatzungen (24 Seeleute) kamen in Haft. Ihnen droht mehrjährige Haft wegen illegalen Grenzübertritts. Ihre Gefangenschaft dauert mittlerweile fast 90 Tage, eine Freilassung ist nicht absehbar.

Mit der Sperrung der Straße von Kertsch und dem Beschuss der ukrainischen Boote in internationalen Gewässern hat Russland eindeutig Völkerrecht gebrochen. Damit erreichte der seit 2014 andauernde Russland-Ukraine-Konflikt eine neue Qualität: Erstmals seit der Annexion der Krim hat Russland offen und nicht durch hybride Kriegsführung verdeckt militärische Gewalt gegen die Ukraine angewendet. Als Antwort auf die Aggression verhängte das ukrainische Parlament für 30 Tage das Kriegsrecht, das aber auf die an Russland, die nicht von der Ukraine kontrollierten Gebiete im Donbass und die an die Schwarzmeerküste grenzenden Gebiete des Landes begrenzt ist. Inzwischen ist es wieder aufgehoben, die Abhaltung der Präsidentenwahlen im März ist nicht gefährdet und Einschränkungen der Demokratie hat es nicht gegeben.

Russische Ziele

Die militärische Aktion Russlands war kein isoliertes Ereignis, sondern eine geplante Aktion des Kremls, die bereits am Tag des 24. November 2018 ihren Anfang nimmt, als die Russen den Ukrainern mitteilen, dass ein Teil der Gewässer unter Moskauer Kontrolle „temporär geschlossen“ sei. Auffallend ist zudem, dass russische Regierungsvertreter bereits unmittelbar vor dem Ereignis Stellung zur Kritik der EU und der Ukraine nehmen, die in mancher Hinsicht die Grundlinien der auf das Ereignis dann folgenden Propaganda vorwegnehmen. Dabei wurden Argumente aktualisiert, mit denen bereits 2014 die Annexion der Krim und die militärische Aggression in der Ostukraine als Schutz der Landsleute durch Russland vor einer nationalistischen, dem Westen hörigen Regierung gerechtfertigt wurden. Die Aussagen des stellvertretenden russischen Außenministers Grigorij Karasin, die nur einen Tag vor dem militärischen Zwischenfall in einem Interview der Tageszeitung „Kommersant“ zur Kritik am russischen Verhalten im Asowschen Meer erschienen, lesen sich im Rückblick wie eine unverhohlene Drohung an die ukrainische Staatsführung und propagandistische Vorbereitung der Geschehnisse am Folgetag. Im Interview betonte Karasin, dass das „Asowsche Thema absichtlich in den Informationsraum“ geworfen worden sei, und zwar vom „heutigen Kiewer Regime in Koordination mit seinen ausländischen Staathaltern und Beschützern“. Karasins weitere Aussagen nahmen damit bereits Inhalte der staatlichen Medienkampagne vorweg, die der Ukraine unterstellte, mit zahlreichen Aktionen den Konflikt militärisch zu eskalieren.3

Die umstrittene Krimbrücke am Tag ihrer Eröffnung (16. Mai 2018)4

Nach dem gegen den ausdrücklichen Willen der Ukraine erfolgten Bau der Krimbrücke errichtete die RF eine defacto-Teilblockade für die ukrainische Häfen ansteuernde internationale und ukrainische Schiffe, während russische Schiffe stets problemlos passieren können. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB kontrollierte immer häufiger ukrainische und ausländische Schiffe und hat ihre Weiterfahrt bisweilen tagelang blockiert. Darüber hinaus wurden Schiffe manchmal mehrmals durchsucht und die Besatzungen verhört. Der Bau der Krimbrücke führte zu einer zusätzlichen empfindlichen Beeinträchtigung des Schiffsverkehrs.5

Die Brücke wurde so niedrig gebaut, dass Schiffe die höher als 33 Meter sind, die Straße von Kertsch nicht passieren können. Großen Frachtschiffen der Panamax-Klasse (z. B. aus den USA) ist die Durchfahrt verwehrt. Brückenbau und Blockade haben die Zahl der Schiffe, die nunmehr die ukrainischen Häfen Berdjansk und Mariupol anlaufen, massiv zurückgehen lassen. Die Blockade verstärkt die negativen Effekte, die seit dem Beginn des Russland-Ukraine Konfliktes zur Einbuße von Millionen Tonnen an Fracht – insbesondere den wichtigsten Ausführgütern Metall, Weizen und Kohle – geführt haben. Arbeitsplätze in den Häfen von Mariupol und Berdjansk sind eminent gefährdet. Beobachter vermuten daher, dass die Blockade dem Schüren von Unzufriedenheit in der Bevölkerung des Donbass und so der Destabilisierung der größten Handelsmetropole Mariupol und damit der gesamten Donbass-Region dient.

Die Destabilisierungspolitik Russlands dient nicht nur als Druckmittel gegenüber der Ukraine, sondern steht auch im Zusammenhang mit weitergehenden geostrategischen Zielen Russlands. Russland hat die militärische Präsenz im Asowschen Meer im Kontext der Blockadepolitik kontinuierlich erhöht. Die militärische Dominanz wird außerdem von einer seit 2014 fortschreitenden Militarisierung der Halbinsel Krim gestützt. Dabei werden auch Kriegsschiffe der kaspischen Flottille über den Wolga-Don-Kanal verlegt, zumal viele Boote der Schwarzmeerflotte in den flachen Gewässern des Asowschen Meeres nicht schiffbar sind. Insgesamt zielt die russische Politik auf eine Stärkung ihrer militärischen Dominanz in der gesamten Schwarzmeerregion und damit der innenpolitischen nutzbaren Stärkung militärisch-politischer Machtdemonstration gegenüber dem Westen.

Das Asowsche Meer: Geographischer Überblick

Zum besseren Verständnis nun einige Eckdaten zum Asowschen Meer: Das Asowsche Meer (ukrainisch: Azovs’ke More, russisch: Azovskoe More; lat. Palus Maeotis; altgriechisch: Maiotis Limen) ist ein Nebenmeer des Schwarzen Meeres in den Grenzen Russlands und der Ukraine. Die Straße von Kertsch im Süden des Asowschen Meeres bildet dabei die einzige Verbindung zum Schwarzen Meer. Die Meerenge liegt zwischen der Halbinsel Kertsch auf der Halbinsel Krim im Westen, die Teil der Ukraine ist (seit 2014 von Russland besetzt) und der Taman-Halbinsel im Osten, die zu der im Kaukasusvorland gelegenen Region Krasnodar gehört und damit Teil der Russischen Föderation ist. Die Meerenge von Kertsch ist eine flache Wasserstraße von etwa 40-45 km Länge und einer Breite von 3-5 km an ihrem engsten Punkt. Der 1877 erbaute Kertsch-Jenikale-Kanal (KJK) bildet dabei eine Fahrrinne für große Schiffe mit vier Biegungen, einer Länge von 30 km, einer Breite von 120 Metern und einer Tiefe von 8 Metern am flachsten Punkt. Die Fläche des Meeres ist mit etwa 39.000 km² etwas kleiner als die Schweiz. Am Asowschen Meer liegen die ukrainischen Hafenstädte Berdjansk sowie die russischen Hafenstädte Taganrog, Jejsk, Rostow am Don sowie Asow, nach dem das Meer benannt ist. Das Asowsche Meer ist ein ausgesprochen flaches Gewässer: Die durchschnittliche Tiefe beträgt 8 Meter, die tiefste Stelle nur 13,5 Meter. Aufgrund der geringen Wassertiefe ist die Befahrung des Meeres mit Schiffen mit mehr als 7 Meter Tiefgang bereits riskant.

Nach dem Zerfall der UdSSR: Das Asowsche Meer als Zankapfel im russisch-ukrainischen Verhältnis

In sowjetischer Zeit war das Asowsche Meer samt der Meerenge von Kertsch ein inneres Gewässer der Sowjetunion und international als solches anerkannt. Nach dem Ende der Sowjetunion waren mit der Russischen Föderation und der nun unabhängigen Ukraine zwei Küstenstaaten entstanden, die sich das Asowsche Meer teilten. Beide Seiten erhoben dabei divergierende Ansprüche über die Meerenge von Kertsch, der einzigen Verbindung zwischen dem Asowschen und Schwarzen Meer, die nicht in Einklang gebracht werden konnten. Die mit der Demarkation der Seegrenze im Asowschen Meer und in der Wasserstraße von Kertsch verbundenen Probleme konnten trotz jahrelanger zwischenstaatlicher Verhandlungen bis zur Annexion der Krim 2014 nie gelöst werden und blieb Gegenstand wiederholter zwischenstaatlicher Spannungen. Insbesondere die Demarkation der Meerenge war mit gewichtigen geopolitischen und strategischen Fragen verbunden: Es ging um die Kontrolle des Schifffahrtsweges ins Asowsche Meer und die aus der Kontrolle entspringenden Einnahmen, um Fischereirechte, aber auch um Schürfrechte für Öl- und Gasvorkommen auf dem Meeresboden in diesem Raum.

Die russisch-ukrainischen Streitigkeiten um das Asowsche Meer entwickelten sich in der Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit der in der Straße von Kertsch gelegenen kleinen Insel Tusla zu einer ernsthaften Krise, die von September bis November 2003 andauerte.6 Die Position Kiews ist verständlich: Die Insel hat eine hohe strategische Bedeutung nicht zuletzt mit Blick auf die Souveränität des Landes. Von ihrem Besitz hängt eine potentielle Seegrenzziehung zwischen beiden Staaten ab. Wer die Insel besitzt, kann außerdem den KJK kontrollieren, von passierenden Schiffen Gebühren verlangen und somit hohe Einnahmen generieren. Russland seinerseits hegte angesichts der ukrainischen NATO-Beitrittsbestrebungen schon damals den Verdacht, die Ukraine könnte im Falle ihrer Kontrolle der Meerenge NATO-Truppen ungehinderten Zugang zum Asowschen Meer verschaffen.

Im Jahre 1999 hat die Ukraine eine Grenzlinie in der Straße von Kertsch gezogen, die Tusla als Teil des ukrainischen Territoriums markiert. Russland kündigte daraufhin an, diese Grenze nicht anzuerkennen. Im Sommer 2003 begann die russische Seite einen Damm aufzuschütten, der die Taman-Halbinsel mit der Insel Tusla verbinden sollte. Der Chef der russischen Grenztruppen erklärte die Absicht, eine Einheit der Grenztruppen auf Tusla zu postieren, sobald diese das Territorium der Taman-Halbinsel erreiche. Die Ukraine sah dies als Angriff auf ihre Souveränität an und befürchtete eine Westverschiebung der russischen Grenze in der Meerenge. Als Antwort etablierte die ukrainische Seite innerhalb kürzester Zeit eine Grenztruppeneinheit auf der Insel. Die gefährliche Situation wurde schließlich von den beiden Präsidenten per Telefongespräch entschärft.

Völkerrechtliches Unikat: Das Asowsche Meer als inneres Gewässer Russlands und der Ukraine

Am 24. Dezember 2003 unterzeichneten Russland und die Ukraine den „Vertrag zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine über die Zusammenarbeit bei der Nutzung des Asowschen Meers und der Meerenge von Kertsch“ (kurz: Kooperationsabkommen). Er bestimmte in Artikel 1, dass das „Asowsche Meer und die Meerenge von Kertsch historisch innere Gewässer der Russischen Föderation“ bilden und legte in Artikel 2 fest, dass zivile und militärische Schiffe der beiden Vertragsstaaten „im Asowschen Meer und der Meerenge von Kertsch die Freiheit der Schifffahrt“ genießen, ohne dass es einer Zustimmung der anderen Seite bedarf. Mit der Vereinbarung beruhigte sich zwar die Situation im Asowschen Meer; einen nachhaltigen Beitrag zur Lösung sämtlicher Streitfragen konnte sie jedoch nicht leisten.

Dennoch hat der Schiffsverkehr im Asowschen Meer auf der Basis des Kooperationsabkommens von 2003 zunächst gut funktioniert. Der Kertsch-Jenikale-Kanal (KJK) – die Fahrrinne für große Schiffe – wurde bis zur Annexion der Krim durch Russland 2014 von der Ukraine bedient. Vor 2014 passierten durchschnittlich 8000 vorwiegend, aber nicht ausschließlich russische und ukrainische Schiffe den Kanal. Dies sicherte den Anbieter von Lotsendiensten, die im Seehafen von Kertsch besorgt wurden, jährliche Erlöse in Höhe von 80 Millionen Dollar. Nach der Krim-Annexion musste die Ukraine der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, jedoch mitteilen, dass sie die Sicherheit der Schifffahrt in Richtung der Häfen der Krim und der benachbarten Gewässer nicht mehr garantieren könne. Das Ministerium für Infrastruktur der Ukraine ordnete an, alle Häfen der Krim einschließlich der Häfen der Meerenge von Kertsch zu schließen, was die Anzahl der in den Häfen der Krim anlegenden Häfen spürbar minderte. Die EU untersagte Schiffen unter der Flagge ihrer Mitgliedsstaaten, den Behörden der Häfen von Kertsch und Sewastopol irgendwelche Zahlungen zu leisten.

Die fehlenden rechtlichen Grundlagen im Kooperationsabkommen von 2003 hängen auch damit zusammen, dass Russland und die Ukraine mit der Erklärung des Asowschen Meeres samt seiner Meerenge zu einem (nunmehr gemeinsamen) inneren Gewässer seerechtlich Neuland betraten. Das Seerechtsabkommen der Vereinten Nationen von 1982 (SRÜ) sieht vor, dass nur Buchten von einzelnen zu inneren Gewässern erklärt werden können. Mehrstaatenbuchten sind grundsätzlich unzulässig, nicht zuletzt um zu vermeiden, dass zu viele Gewässer in innere Gewässer umgewandelt werden, in denen keine internationalen Durchfahrtsrechte gelten. So sollen Sonderregelungen vermieden werden, die die Freiheit der internationalen Schifffahrt einschränken. Eine Ausnahme bilden historische Buchten, deren besonderer Status durch langjährige Staatenpraxis geprägt und international anerkannt ist. Bezüglich des Asowschen Meeres schließt das SRÜ aber nicht ausdrücklich aus, dass die Nachfolgestaaten der UdSSR „Russland und Ukraine die inneren Gewässer des Asowschen Meeres gewissermaßen von der UdSSR ‚geerbt‘ haben“.7 Dies würde nach Meinung von Rechtsexperten bedeuten, dass Russland und die Ukraine die Souveränität im Asowschen Meer gemeinsam wie in einem Kondominium ausüben. Damit würden aber auch Küstengewässer mit 12-Meilen Zonen, mit denen Russland heute sein Handeln im Konflikt gerechtfertigt hat, ebenso wegfallen wie die Anwendung des SRÜ zu Durchfahrtsrechten. Dies ist allerdings umstritten: Andere Völkerrechtler halten die Einstufung von Mehrstaatenbuchten als innere Gewässer in jedem Fall für unzulässig mit der Folge, dass die allgemeinen Bestimmungen zu Durchfahrtsrechten Anwendung finden.

Die Frage, ob die Einstufung des Asowschen Meeres samt der Wasserstraße von Kertsch den Regeln des internationalen Seerechts entspricht, ist für das Verständnis des Konflikts im Asowschen Meer von großer Bedeutung. So hat die Ukraine bereits im September 2016 bei einem auf Grundlage des SRÜ eingerichteten Schiedsgericht ein Verfahren gegen die Russische Föderation angestrengt. Die Ukraine behauptet hier, dass durch Aktivitäten Russlands Rechte der Ukraine nach dem SRÜ verletzt wurden, u. a. hinsichtlich der Besetzung und Ausbeutung von Ölfeldern auf dem Festlandssockel der Ukraine im Schwarzen Meer, der freien Schifffahrt oder hinsichtlich der von Russland illegal errichteten und im Mai 2018 eröffneten Krimbrücke durch die Meerenge von Kertsch und das Asowsche Meer. Es ist jedoch noch nicht geklärt, ob das Schiedsgericht überhaupt zuständig ist. Dabei ist die Frage entscheidend, ob die Richter die Definition des Asowschen Meeres als inneres Gewässer akzeptieren oder ablehnen. Wenn sie diese Einstufung für zulässig halten, dann kommt das SRÜ in diesen Fragen nach mehrheitlicher Auffassung der Rechtsexperten nicht zur Anwendung und die Zuständigkeit des Schiedsgerichts entfällt. Es ist daher nicht überraschend, dass insbesondere Russland auf der Gültigkeit des Kooperationsabkommens von 2003 und dem Status des Asowschen Meeres als inneren Gewässers beharrt. So ist der Konflikt dem SRÜ entzogen in wichtigen Punkten entzogen und Russland kann aufgrund der zahlreichen ungeklärten Rechtsfragen bezüglich einer Mehrstaatenbucht als innerem Gewässer gegenüber der Ukraine eigen Argumentationen aufbauen und ggf. im Bewusstsein seiner militärischen Stärke gegenüber der Ukraine als dem schwächeren Partner durchsetzen.

Russland bricht Völkerrecht: Seerechtliche Hintergründe des Zwischenfalls

Russland geht davon aus, dass die Inkorporation der Krim rechtmäßig war und die Ukraine damit seit 2014 nicht mehr Küstenstaat ist. In dieser Optik kontrolliert nach 2014 nur noch Russland die Meerenge von Kertsch. Es behauptet zudem, dass die Ukraine die Durchfahrt der Marineboote durch die Meerenge von Kertsch vor dem Zwischenfall im November nicht angemeldet habe. Es rechtfertigt sein Vorgehen außerdem mit einem Gesetz der Russischen Föderation aus dem Jahre 2015, das im Falle einer Durchfahrt die Nutzung des russischen Lotsendienstes im Kertsch-Jenikale-Kanal (KJK) vorschreibt.

Hingegen behauptet die Ukraine, die Durchfahrt der Boote angemeldet zu haben. Zudem wird der rechtliche Standpunkt Russlands sowohl von der Ukraine als auch der Mehrheit der Seerechtsexperten nicht geteilt. Demnach ist das von Russland deklarierte Küstenmeer Zone westlich der Meerenge von Kertsch international nicht anerkannt, da die Einverleibung der Krim eine völkerrechtswidrige Annexion war. Damit ist auch der Ausgangsvorwurf der Russischen Föderation völkerrechtlich hinfällig, wonach die sich vom Heimathafen Odessa der Meerenge nähernden ukrainischen Boote rechtswidrig in russische Hoheitsgewässer eingedrungen seien, selbst wenn die ukrainischen Boote eine russische Reaktion durch Fahren in Küstennähe provoziert haben sollten.

Trotz der Annexion der Krim und der illegalen Übernahme der Nutzung des KJK durch Russland ist es plausibel anzunehmen, dass die Sicherheit der Navigation in der engen Straße von Kertsch eine Notifikation von ukrainischen Kriegsschiffen bei den zuständigen russischen Behörden erfordert und zwar unabhängig davon, ob die Übernahme der Kontrollen durch Russland legal war. Offensichtlich akzeptierte die Ukraine nach 2014 und vor der Blockade 2018 stillschweigend bereits vor 2014 praktizierte, aber nun von Russland durchgeführte Verfahren, die eine sichere Navigation gewährleisten. Doch selbst wenn man unterstellt, dass die ukrainischen Marineboote bei der Durchfahrt sämtliche Verfahren und Vorschriften für eine sichere Durchfahrt ignoriert haben sollten und es sich bei ihrem Verhalten um eine Provokation handelte, bleibt das russische Vorgehen illegal. Das beharrliche Verfolgen der ukrainischen Boote durch die russische Küstenwache mit dem Ziel der Ergreifung entsprach schon deswegen nicht dem Geist der SRÜ, da die ukrainischen Boote die Durchfahrt bereits aufgegeben hatten und Richtung Heimathafen abdrehen wollten. Im Falle des Beschusses handelt es sich sowieso um einen eindeutigen Rechtsbruch, da dieser bereits in internationalen Gewässern erfolgte.

Literaturempfehlung:

  • Sergei R. Grinevetsky (u. a.): The Black Sea Encyclopedia. Heidelberg (u. a.) 2015.

Das Asowsche Meer (ukrainisch: Azovs’ke More, russisch: Azovskoe More) ist ein Nebenmeer des Schwarzen Meeres in den Grenzen Russlands und der Ukraine. Im Süden bildet die Straße von Kertsch die einzige Verbindung zum Schwarzen Meer. Mit einer Fläche von ca. 39.000 km² ist es etwas kleiner als die Schweiz. Das Asowsche Meer ist ein ausgesprochen flaches Gewässer: Die durchschnittliche Tiefe beträgt 8 Meter, die tiefste Stelle nur 13,5 Meter, was für die Schifffahrt große Probleme birgt.
Die Redaktion


Fußnoten:


  1. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SeaofAzov.jpg↩︎

  2. Ivo Mijnssen: Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine im Schwarzen Meer: eine Rekonstruktion in Karten. In: Neue Zürcher Zeitung, 04.12.2018 (https://www.nzz.ch/international/konfrontation-zwischen-russland-und-der-ukraine-im-schwarzen-meer-eine-rekonstruktion-in-karten-ld.1441656?reduced=true). ↩︎

  3. Vgl. das Interview in: Kommersant‘, Nr. 216. 23.11.2018, S. 5. ↩︎

  4. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Opening_of_the_Crimean_bridge_(2018-05-15)_16.jpg_16.jpg). ↩︎

  5. Vgl. mit weiteren Verweisen Markus Ackeret: Russland zermürbt die Ukraine vom Meer her. In: Neue Zürcher Zeitung, 12.07.2018 (https://www.nzz.ch/international/russland-zermuerbt-die-ukraine-vom-meer-her-ld.1402016). ↩︎

  6. Dazu ausführlicher Winfried Schneider-Deters: Die Ukraine: Machtvakuum zwischen Russland und der Europäischen Union. Berlin 2012, S. 64. ↩︎

  7. Vgl. das Zitat sowie zu den folgenden seerechtlichen Fragen Valentin Schatz: Streit um Meerenge zwischen Russland und Ukraine: Wer darf ins Asowsche Meer? In: Legal Tribune Online, 28.11.2018 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/schwarzes-meer-enge-russland-ukraine-seehandel-strasse-voelkerrrecht/; letzter Zugriff: 08.12.2022) sowie: Dmytro Koval/Valentin J. Schatz: Ukraine v. Russia: Passage through Kerch Strait and the Sea of Azov. Part I: The Legal Status of Kerch Strait and the Sea of Azov. In: Völkerrechtsblog, 10.01.2018, doi: 10.17176/20180110-131019 (https://voelkerrechtsblog.org/ukraine-v-russia-passage-through-kerch-strait-and-the-sea-of-azov/↩︎