Anmerkungen von Irina Scherbakowa

(Interview)
aus OWEP 2/2009  •  von  OWEP-Redaktion

Dr. Irina Scherbakowa (geb. 1949) studierte Germanistik in Moskau (Staatsexamen 1971) und war bis 1987 als Germanistin und Übersetzerin tätig. Seit Ende der siebziger Jahre beschäftigte sie sich mit dem Schicksal von Opfern des Stalinismus (Sammeln von Tonbandaufzeichnungen und schriftlichen Nachlässen), die sie auch publizistisch verwertete (Mitarbeit in verschiedenen Zeitschriften). Von 1992 bis 2006 war sie Dozentin an der Russischen Staatlichen Universität für Humanwissenschaften in Moskau (Bereich „Oral History“) und ist seit 1999 bis heute Leiterin des Projekts „Allrussischer historischer Schülerwettbewerb“ der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. – Frau Dr. Scherbakowa antwortete schriftlich auf die Fragen der Redaktion.

Wie haben Sie die Wende vor zwanzig Jahren persönlich erlebt? Welche Gefühle beherrschten Sie damals?

Irina Scherbakowa (Foto: Renovabis-Archiv).

Erstens muss ich sagen, dass für mich die Wende, der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands untrennbar von meinen Erinnerungen an die damaligen Ereignisse in Russland sind. Das war die bewegendste Zeit meines Lebens, zumal sich die Veränderungen so schnell und so rapide vollzogen, so unerwartet und unprognostiziert – niemand konnte noch Mitte der achtziger Jahre ernsthaft glauben, dass die Sowjetmacht samt der kommunistischen Partei und das ganze System so morsch sind. Jeder Tag brachte etwas Neues – neue Veröffentlichungen, neue Schritte in die Freiheit. Was sich aber noch 1988 in der DDR abspielte, schien um so makabrer zu sein. Von der DDR kam ja Gegenwind. Die Zeitung „Prawda“ wurde dort fast zur verbotenen Lektüre. Der Moskauer Witz von 1988 – zum zwanzigsten Jahrestag des Einmarsches in Prag – lautete: „Jetzt sind wir schon soweit, dass die Warschauerpakt-Truppen bei uns einmarschieren können.“ Ich war noch im Mai 1989 in Ostberlin und hatte ein ganz peinliches Gefühl, die ewig gestrige Zeit dort noch zu erleben. Die wirkliche Bewegung sah ich erst, als Gorbatschow zum 40. Jahrestag der DDR kam und von der Menschenmenge umjubelt wurde – da dachte ich: Endlich kommt auch hier Bewegung in die Stagnation.

Natürlich waren wir damals in Russland sehr mit der eigenen Situation beschäftigt, haben aber trotzdem die Entwicklung in den „Bruderländern“ verfolgt. Die DDR war wirklich die letzte Bastion, und die Mauer – ein absolutes Symbol des Kalten Krieges. Ich kann mich gut erinnern, was in mir vorging, als Gorbatschow sagte: „Die Mauer ist von Menschen gebaut worden“ – das bedeutete, dass sie auch von Menschen zerstört werden kann ... Interessant war es, über die eigenen Gefühle nachzudenken, denn diese eigentlich kleine Mauer, die in einer Nacht gebaut worden war, schien all die Jahre etwas für immer und ewig Gebautes zu sein ... wie das ganze kommunistische System. Mitte der achtziger Jahre konnten wir nicht hoffen, dessen Ende zu erleben.

Bis heute ist es für mich fast schmerzhaft, dass ich damals, in diesen Novembertagen 1989, gerade zum ersten Mal in meinem Leben in Westdeutschland war, sehr tief im Westen, nämlich in München, auf Einladung des Kulturreferats, und nicht in Ostberlin. Es war unglaublich bewegend, was sich dort abspielte, ich saß mit meinen Bekannten aus Westdeutschland, Journalisten und Literaten, vor dem Fernseher, und wir waren alle absolut euphorisch. Der Unterschied zwischen ihnen und mir bestand aber darin, dass ich die DDR, vor allem durch meine Übersetzerarbeit ostdeutscher Autoren, viel besser kannte und auch damals schon ahnte, dass der Weg in die wirkliche Wiedervereinigung ein sehr schwieriger werden würde.

Was war Ihre Zukunftsperspektive? Was sollte anders werden?

Für mich war schon sehr lange klar, dass die Zukunftsperspektive nur der Weg zu einem freien demokratischen Staat sein konnte. Ich hatte unglaubliches Glück, in einer Familie aufgewachsen zu sein, in der meine Eltern schon sehr früh systemkritisch waren, spätestens beim Aufstand in Budapest 1956 ihren Glauben an den Kommunismus verloren und ganz enge Kontakte zu Dissidenten pflegten. Prag 1968 war dann der Abschied von letzten Hoffnungen an die Möglichkeit, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ aufzubauen. Da mein Hauptinteresse der Geschichte galt, vor allem der verbotenen Geschichte der politischen Repressalien in der Sowjetunion, und ich ab Anfang der achtziger Jahre angefangen hatte, Gespräche mit ehemaligen Opfern zu führen, so glaubte ich fest, dass man Abschied von der Vergangenheit nehmen müsse, indem man die Wahrheit über sie ganz laut sagt. Das schien mir eine der wichtigsten Aufgaben zu sein, und Ende der achtziger Jahre hatte ich das Gefühl, dass es soweit war, weil sehr viele Menschen diese Einsichten teilten. Damals habe ich angefangen, Gespräche mit den Opfern der wirklich bleiernen Breschnewzeiten zu führen, wo vieles sehr hoffnungslos aussah. Aber diese Gespräche, meistens mit Frauen, deren Männer erschossen und deren kleine Kinder vom Geheimdienst in Heime gesteckt worden waren, haben mir damals sehr geholfen, den Glauben an die Menschen nicht zu verlieren.

Welche Rolle spielte Ihr Glaube in der Zeit der Unterdrückung?

Mein Glaube war damals ein sehr starker Glaube an die Macht der Wahrheit und an die Macht des Wortes. Ich war fest davon überzeugt, dass wenn die Wahrheit über die Verbrechen des totalitären Regimes ans Licht käme, wenn es zur Öffnung des Zugangs zu Informationsquellen (Archiven, Bibliotheken und Museen), zur Bewahrung und Verewigung des Andenkens an die Opfer des Totalitarismus, zu ihrer vollen und öffentlichen Rehabilitierung käme, sich alles ändern würde.

Wie sehen Sie heute, nach zwanzig Jahren, die Gesamtlage? Hat die Wende zu echten gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Veränderungen geführt?

Ich glaube, dass im wiedervereinigten Deutschland in diesen zwanzig Jahren sehr viel passiert ist, nicht nur in marktwirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Werke aus Kunst, Literatur und Film wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, auch die Stasiarchive öffneten sich. Schließlich war auch die papierene Seite der bürokratischen Maschinerie ein Schlüsselelement des kommunistischen Gesamtprojekts.

Es hat sich sehr viel auch in der Kulturpolitik getan – mit der Eröffnung der neuen Gedenkstätten, mit Tafeln und Denkmälern, die an die Opfer der SED-Diktatur erinnern sollten. Ich selbst konnte an einigen gemeinsamen deutsch-russischen Projekten teilnehmen, z. B. an dem Projekt über die Sonderlager des sowjetischen Innenministeriums, die zwischen 1945-1949 in Buchenwald, Sachsenhausen und anderen Orten des Terrors errichtet worden waren. Diese neue Öffnung von beiden Seiten brachte in den neunziger Jahren neue Aufarbeitung und schuf neue moralische Zugänge auch zu den Opfern des Nationalsozialismus; ich meine damit die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter in den osteuropäischen Ländern, vor allem in den postsowjetischen, in Russland, Weißrussland und der Ukraine. Das war umso wichtiger, weil diese Menschen nach der Rückkehr aus Deutschland in der damaligen UdSSR erneut zu Opfern des stalinistischen Regimes wurden und erst nach der Perestroika wenigstens moralisch rehabilitiert wurden. Das alles bildete die Grundlage einer neuen Vertrauensbasis zwischen unseren Ländern nach der Wende.

Was ist noch nicht geleistet? Was ist vergessen?

Obwohl ich auch im wiedervereinigten Deutschland große nicht überwundene Schwierigkeiten sehe, die ihren Ursprung in politischen und wirtschaftlichen Fehlern der neunziger Jahre haben, glaube ich, dass die grundsätzlichen Veränderungen in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit und Glaubensfreiheit vollzogen und unumkehrbar sind.

Ganz anders sehe ich leider die heutige russische Situation. Bis zu den Jahren 1993/1994 blieb das angestrebte gesellschaftliche Ideal eine auf die russischen Gegebenheiten zugeschnittene Form der Demokratie. Bald jedoch schon, nach zwei oder drei Jahren, haben Enttäuschung über die Marktreform, die schwere wirtschaftliche Krise und die psychologischen Schwierigkeiten, mit dem Zerfall der Sowjetunion umzugehen, die russische Gesellschaft dazu gebracht, sich von den liberal-demokratischen Idealen zu lösen. In dem Maße, wie viele in ihren Erwartungen enttäuscht wurden, verlor auch die Demokratie an Anziehungskraft. Nach zwanzig Jahren stellt sich nun heraus, dass viele Eigenschaften, die man bei dem so genannten „sowjetischen Menschen“ für typisch hielt, erhalten geblieben sind, nämlich die Unmündigkeit, das Erwarten von staatlichen Almosen, der Glaube an das russische Wunder und an schnelle Bereicherung.

Die Angst vor Armut, vor den Schwierigkeiten des Alltags und vor der um vieles gewachsenen Kriminalität führte dazu, dass man wieder Feindbilder aufbaut und die Schuldigen sucht. Schuld sind nun die „Demokraten“, die Marktreformen angestoßen haben. Zunehmend geraten auch die so genannten Oligarchen in die Schusslinie, die in den Augen vieler enorme Macht besitzen und das ganze Land privatisierten. Weitere Schuldige sind die Kaukasier, in denen man seit dem Zerfall der Sowjetunion die Hauptfeinde sieht. Die zwischennationalen Konflikte in den kaukasischen Republiken, die schwere wirtschaftliche Situation, die Arbeitslosigkeit haben viele Menschen nach Russland gebracht. Das führte natürlich zu Spannungen. Und dann die Zuwanderer aus den postsowjetischen asiatischen Republiken, die oft unter fast sklavenartigen Verhältnissen die schwerste Arbeit in den russischen Großstädten leisten und zunehmend zu den Opfern der Rechtsradikalen werden!

Auch in Bezug auf Zukunftsvisionen und Vergangenheitsbilder gibt es in meinen Augen sehr gefährliche Entwicklungen. Zuerst kam die Nostalgie nach der wunderbaren Monarchie und dem wunderschönen Zarenreich, das von den Bolschewiken zerstört worden war. Aber schon sehr bald folgte auch die Verklärung des Stalinismus, die Sehnsucht nach dem imperialen Stil, nach dem „schönen Schein des Stalinismus“ und vor allem nach der so genannten „starken Hand“. Die sowjetische und später auch konkret die stalinistische Tradition wurden wieder mit Leben erfüllt. Bereits ab Mitte der neunziger Jahre wurde die Nostalgie in Bezug auf die Sowjetära zu einem prägenden Phänomen im gesellschaftlichen Bewusstsein. Auch die Obrigkeit, die sich völlig vom westlichen Demokratiemodell abgewandt hat und auf der Suche nach einem „eigenen“ Weg und vor allem einer nationalen Idee ist, wendet sich immer mehr alten sowjetischen Mythen und früheren Propagandaidealen zu. Sie hat eine Machtvertikale aufgebaut, in der kaum mehr Platz für Freiheiten und Menschenrechte vorhanden ist.

Wenn Sie einem jungen Menschen heute, der die Zeit nicht miterlebt hat und kaum etwas davon weiß, etwas sagen wollen – worauf kommt es angesichts Ihrer Erfahrungen an?

Ich arbeite seit zehn Jahren mit Jugendlichen und mit Lehrern aus ganz Russland und erlebe ständig, dass man mit Begriffen wie „Freiheit“, „Demokratie“ oder „Menschenrechten“ nicht weiter kommt. Sobald diese Worte fallen, reagieren die jungen Menschen in Russland oft verständnislos. In Bezug auf die Vergangenheitsaufarbeitung gibt es in Russland eine Kluft zwischen der historischen Forschung und der öffentlichen Meinung bzw. Akzeptanz. Nach der Wende bearbeitete man die geheimen Akten in den Archiven, zu denen man Zugang bekommen hatte; man schrieb Bücher; man erfasste sehr aktiv die Regionalgeschichte. Aber nach unserer Erfahrung ist die Aufklärungsarbeit nur dann effektiv, wenn sie konkret wird, d. h. wenn es um Gedenktafeln geht oder wenn eine ganze kleine Stadt mitmacht, irgend ein Schicksal oder einige Schicksale von Landsleuten zu erforschen.

Es ist gar nicht so einfach, heute an russische Jugendliche heranzukommen. Der historische Wettbewerb, den „Memorial“ organisiert hat, hat sich aber als sehr produktiv erwiesen. Wir haben insgesamt über 30.000 Arbeiten erhalten, auch aus den entlegensten Regionen Russlands, aus ganz kleinen Dörfern und Siedlungen. Diese konkrete Arbeit mit den Jugendlichen, bei der sie sich wirklich in die eigene Familiengeschichte vertiefen, wo der Urgroßvater erst als „Kulake“ – als „ausbeuterischer Großbauer“ – verbannt, dann ein Kriegsgefangener wurde und danach in ein Straflager kam – das macht für sie Einiges sehr deutlich.

Leider ist gerade in Russland die Bereitschaft der Gesellschaft, die Wahrheit über ihre Geschichte zu erfahren und zu akzeptieren, die Ende der achtziger Jahre ziemlich groß schien, seit Mitte der neunziger der Gleichgültigkeit, der Apathie und dem Unwillen gewichen, „in der Vergangenheit zu graben“. Es gibt auch Kräfte, die direkt daran interessiert sind, dass es zu diesem Thema keine Diskussionen mehr gibt. Diese Tendenzen finden Ausdruck in der offiziellen, immer deutlicher formulierten Konzeption der vaterländischen Geschichte ausschließlich im Sinne „unserer ruhmreichen Vergangenheit“. Besonders die junge Generation wird jetzt ganz stark zu einem Manipulierungsobjekt von Seiten der heutigen Macht. Das führt einerseits zur Verbreitung von Zynismus und Konsumismus, anderseits zur Verstärkung von fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Stimmungen. Die Zeit der Wende wird als Zeit des Chaos dargestellt, manipuliert aus dem „bösen Westen“.

Jetzt steht Russland an der Schwelle einer enormen Krise, die nicht nur eine Finanzkrise ist – und die Opfer dieser moralischen Krise sind vor allem die jungen Menschen. Ihnen zu helfen, die Werte von Demokratie und Achtung der Menschenrechte zu erschließen, ist, glaube ich, die entscheidende Aufgabe dieser Zeit.