Politisches und soziales Engagement der orthodoxen Kirche in Russland

aus OWEP 1/2010  •  von Jennifer Wasmuth

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchen- und Konfessionskunde der Humboldt-Universität Berlin.

Vorbemerkung

Unterschiedliche Ebenen sind zu unterscheiden, um die Rolle der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) in sozio-politischer Hinsicht zu bestimmen: zum einen die Ebene der theologischen Programmatik, wie sie sich in der Sozialverkündigung der Kirche niederschlägt; zum anderen die Ebene der Relevanz, die der Kirche in staatlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht tatsächlich zukommt. Im folgenden Beitrag sollen beide Ebenen berücksichtigt werden, d. h. es geht um die Frage nach dem Verhältnis zwischen den zentralen Anliegen der Sozialverkündigung der ROK und ihrer Realisierung unter den gegenwärtigen Bedingungen in Russland.

„Die Grundlagen der Sozialkonzeption“

Seit die Bischofssynode der ROK im Jahre 2000 die so genannten „Grundlagen der Sozialkonzeption“ (GS) verabschiedet hat, liegt erstmals ein offizielles kirchliches Dokument zu den wichtigsten sozialethischen Themen vor.1 Dem Dokument wurde von der Bischofssynode ein hoher Grad an Verbindlichkeit zugewiesen. Ohne den Anspruch zu erheben, eine Glaubenslehre zu formulieren – deshalb ist auch die Übersetzung „Sozialdoktrin“ irreführend – sollte das Dokument doch die bis auf weiteres geltenden sozialethischen Leitlinien zum Ausdruck bringen.

So ist das Dokument in der Folgezeit auch rezipiert worden. Es bildet gegenwärtig einen elementaren Bestandteil der theologischen Ausbildung, und in Predigten, Beiträgen für Funk und Fernsehen, Buchpublikationen usw. wird darauf im Sinne einer normativen kirchlichen Stellungnahme Bezug genommen. In jüngerer Zeit wurde nur ein weiteres Dokument mit ähnlicher Verbindlichkeit veröffentlicht, die so genannten „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte“ (GM) vom Juli 2008, die ausdrücklich als Ergänzung und Präzisierung der GS beabsichtigt sind.2

Bei den GS handelt es sich um ein ausgesprochen heterogenes Dokument, dem anzumerken ist, dass es am Ende eines längeren Diskussionsprozesses steht. Eine Fülle von Themen wird darin behandelt: Arbeit, Eigentum, Krieg und Frieden, Verbrechen, Bioethik, Massenmedien, Globalisierung. Die Reflexion der einzelnen Problembereiche erfolgt auf sehr unterschiedlichem theologischem Niveau.

Grundlegend sind die ersten vier Kapitel, in denen die leitenden theologischen Ideen für die Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt (in Gestalt von Nation, Staat, Recht und Politik) dargelegt werden. Vergleicht man diese theologischen Leitideen mit der sozio-politischen Bedeutung, die die Kirche in Russland heute faktisch besitzt, ergibt sich ein sehr interessantes, weil sehr differenziertes Bild. Denn es zeigen sich einerseits bemerkenswerte Übereinstimmungen, andererseits jedoch auch bemerkenswerte Diskrepanzen zwischen den theologischen Leitideen, wie sie in den GS formuliert sind, und der gegenwärtigen Lage (Abschnitt 1 und 2). Schließlich werden Defizite in der sozialethischen Theoriebildung greifbar, die sich in der kirchlichen Praxis auswirken und die kirchlichen Handlungsmöglichkeiten nicht unerheblich einschränken (Abschnitt 3).

Kirche – Staat

In den GS wird der säkulare Charakter des Staates und damit die Trennung von Staat und Kirche grundsätzlich anerkannt. Gleichwohl wird unter der Voraussetzung, dass der Staat den Prinzipien des Guten und der Gerechtigkeit verpflichtet ist und für das materielle und geistige Wohl der Gesellschaft Sorge zu tragen hat, die Zusammenarbeit von Staat und Kirche in bestimmten Bereichen als möglich und in gewisser Hinsicht auch notwendig beschrieben: „Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates widerspricht nicht der christlichen Auffassung von der Berufung der Kirche in der Gesellschaft.“3 Diese Zusammenarbeit soll allerdings in einer Weise erfolgen, die die je inneren Angelegenheiten unberührt lässt. Folglich darf die Kirche nicht genuin staatliche Funktionen übernehmen, wie beispielsweise die Ausübung staatlicher Gewalt, die mit Zwang verbunden ist. Umgekehrt darf der Staat nicht in das kirchliche Leben eingreifen, also in Glaubenslehre, Gottesdienst, geistliche Praxis usw.

Bei ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche bleibt die ROK grundsätzlich dem Modell der „symphonia“ verpflichtet, wie es byzantinisch-orthodoxer Tradition entspricht. Angesichts dessen, dass diese Verhältnisbestimmung auch einen säkularen Staat einschließt und die ROK sich ausdrücklich dazu versteht, eine demokratische Grundordnung anzuerkennen, ist besser noch von dem Modell einer „neuen Symphonie“ zu sprechen.4

Im Unterschied zum traditionellen Verständnis erscheint es bemerkenswert, dass die ROK ein Widerstandsrecht für den Fall formuliert, dass der Staat kirchliche Grundüberzeugungen in Frage stellt: „Wenn die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt, so ist die Kirche gehalten, dem Staat den Gehorsam zu verweigern.“5 Hier schlagen sich offenbar die Erfahrungen der ROK in den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft nieder, die in der ROK ein Bewusstsein dafür geschaffen haben, dass es Staatsideologien geben kann, die in ihrem totalitären Anspruch nicht hingenommen werden dürfen. Im Gegenzug wird deshalb betont, dass der Staat bei der Gestaltung seiner Beziehungen zur Kirche (wie auch zu anderen religiösen Vereinigungen) das historisch-kulturelle Erbe zu berücksichtigen hat.

Wenn man die Grundaussagen der GS mit der tatsächlichen rechtlichen Lage der ROK vergleicht, ist festzustellen, dass mit dem 1997 in der Russischeschn Föderation erlassenen Religionsgesetz vorweggenommen wurde, was in den GS gefordert wird, denn dort wird in der Präambel die besondere Rolle der Orthodoxie in der Geschichte Russlands in Bezug auf dessen geistige und kulturelle Entstehung und Entwicklung ausdrücklich hervorgehoben. Der russischen Historikerin Elena M. Miroschnikowa zufolge, die das Religionsgesetz analysiert und mit dem deutschen Staatskirchenrecht verglichen hat, ist die Rolle der ROK danach durchaus mit der privilegierten Stellung der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland vergleichbar.6

In der konkreten Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche gibt es zwar immer wieder Probleme. Grundsätzlich scheint sie sich aber in eine Richtung zu entwickeln, die den in den GS formulierten Zielvorstellungen entspricht. So erstellt die ROK laut Auskunft der juristischen Abteilung des Moskauer Patriarchats bereits seit 2003 Gutachten zu verschiedensten Gesetzesentwürfen. Am 8. Juli 2009 wurde zudem in Reaktion auf Befürchtungen, die nach der Unterzeichnung der Europäischen Sozialcharta durch Russland laut wurden, ein gemeinsamer Beschluss des Moskauer Patriarchats und der Parteiführung von „Einiges Russland“ gefasst, wonach die ROK stärker in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden soll. Betroffen sind davon vor allem Gesetzesinitiativen mit gesellschaftlicher Relevanz in Bereichen wie „Soziales, Information und Kultur“. Hier sollen bei allen Fragen, bei denen auch nur geringste Zweifel auftauchen, Vorbereitungsgespräche mit dem Patriarchat geführt werden.7

Kirche – Nation

Auffällig an den GS – besonders im Unterschied zu sozialethischen Stellungnahmen der beiden großen Kirchen in Deutschland – ist die Betonung des nationalpatriotischen Elementes. Der Begriff der „Nation“ wird zwar differenziert, indem zwischen einem ethnischen und staatsbürgerlichen Verständnis unterschieden wird. Auch wird in ekklesiologischer Hinsicht die universale Weite als Wesensmerkmal der Kirche hervorgehoben, wenn es heißt: „Die Einheit des neuen Volkes gründet nicht in der nationalen, kulturellen und sprachlichen Gemeinschaft, vielmehr im Glauben an Christus und die Taufe“.8 Die Aussagen der GS zum Verhältnis von Kirche und Nation lassen sich deshalb in Teilen auch als Ausdruck eines volkskirchlichen Konzeptes interpretieren.

Zugleich finden sich jedoch Aussagen, die von einem offenbar ungebrochenen Patriotismus Zeugnis geben. So werden als positive Beispiele aus der russischen Geschichte Kriegshandlungen genannt, die wie die Schlacht des Fürsten Dimitrij Donskoj gegen das tatarisch-mongolische Heer (1380) unter dem ausdrücklichen Segen der Kirche erfolgten. Auch wird herausgestellt, dass der orthodoxe Christ dazu aufgerufen ist, „sein Vaterland, im Sinne eines bestimmten Territoriums, zu lieben, desgleichen seine über die Welt verstreuten Blutsbrüder“.9 Der Christ sei dazu aufgerufen, die nationale Kultur und das nationale Selbstbewusstsein zu wahren und weiterzuentwickeln. Als wichtige Aufgabe der Kirche wird entsprechend beschrieben, einen Beitrag zur patriotischen Bildung der Gesellschaft zu leisten. Mit dieser Betonung des nationalpatriotischen Elementes kommt die ROK durchaus den Erwartungen entgegen, die von staatlicher und gesellschaftlicher Seite gegenüber der Kirche formuliert werden.

Wie die im Februar 2009 durchgeführte repräsentative Umfrage des Moskauer Levada-Zentrums zur Bedeutung von Religion und Religiosität in Russland noch einmal bestätigt hat, wird die ROK von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung als wichtiger identitätsstiftender Faktor angesehen. 72,6 Prozent der Befragten bezeichneten sich demnach als „orthodox“. Für diese spielen allerdings kirchlich-institutionelle Vollzüge nur eine geringe Rolle, abgesehen einmal von der Taufe, der sich immerhin 84,5 Prozent unterzogen haben. 62 Prozent gaben an, nie am Abendmahl teilzunehmen; noch höher liegen die Prozentzahlen im Hinblick auf die Sakramente Beichte und Krankensalbung. Ähnliches lässt sich bei der Fastenpraxis feststellen. Obwohl die Befragten, die sich als „orthodox“ bezeichnen, überwiegend um die Fastengebote wissen, halten sich beispielsweise 77 Prozent nicht daran, am Karfreitag auf Fleisch zu verzichten. Wenn dagegen Weihwasser und Ikonen besonderen Zuspruch finden, so bestätigt sich der Eindruck, dass die ROK mehrheitlich weniger in ihrer religiösen als vielmehr in ihrer kulturprägenden Bedeutung wahrgenommen wird – bis hin zum Vollzug kirchlicher Riten aus folkloristischen Motiven!10

Umso bemerkenswerter erscheint vor diesem Hintergrund, dass die ROK in der Vergangenheit immer wieder ein Verhalten gezeigt hat, das der nationalpatriotischen Tendenz direkt zuwiderläuft. Ein solches Verhalten sollte dazu führen, eine einseitige Sicht auf die – gewollte oder ungewollte – politische Instrumentalisierung der ROK zu korrigieren. Um nur zwei Beispiele zu nennen:

  • Während des im Sommer 2008 ausgebrochenen offenen Konfliktes zwischen Russland und Georgien hat der damalige Patriarch Alexij II. nicht nur zur Einstellung der Kriegshandlungen aufgerufen und alle Gemeinden dazu verpflichtet, täglich Friedensgottesdienste abzuhalten. Vielmehr ist die ROK auch auf kirchlich-jurisdiktioneller Ebene nicht der Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Süd-Ossetien gefolgt, die von den Abgeordneten beider Kammern des russischen Parlaments ausgesprochen wurde. Ausdrücklich hat sie auf die Eingliederung der in den beiden Provinzen befindlichen georgischen orthodoxen Gemeinden in das Moskauer Patriarchat verzichtet.11

  • Entgegen den in der russischen Gesellschaft wahrnehmbaren Bestrebungen, Stalin zu rehabilitieren, ihn als geschickt agierenden Staatspolitiker und Sieger des Zweiten Weltkrieges erscheinen zu lassen, hat in einem kürzlich veröffentlichten Interview der Leiter der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, Erzbischof Hilarion, festgestellt: „I think that Stalin was a spiritually-deformed monster, who created a horrific, inhuman system of ruling the country ... He unleashed a genocide against the people of his own country and bears personal responsibility for the death of millions of innocent people. In this respect Stalin is completely comparable to Hitler.“12

Kirche – Gesellschaft

Seit der politischen Wende in Russland im Jahre 1991 haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen radikal verändert. Die sozialen Schichten sind weit auseinander gedriftet. In den Städten hat sich zwar eine kleine Mittelschicht gebildet, doch kann sie nicht als tragendes Element der Wirtschaft verstanden werden. Daneben gibt es eine kleine Schicht Neureicher sowie die große Mehrheit derer, die am Existenzminimum lebt, mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Die soziale Problematik belegen auch statistische Daten, denen zufolge sich nur 30 Prozent der Bevölkerung eine gute medizinische Versorgung leisten können, oder aber die niedrige Lebenswartung von Männern (58 Jahre!).13

Die wirtschaftlichen Einbrüche der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise blieben nicht ohne Folgen für das staatliche Sozialsystem, das schon vor der Krise nicht in der Lage war, den sozialen Problemen wirksam zu begegnen. Zwar sollen die großen staatlichen Förderprogramme im Bereich der Gesundheit, der Bildung, des Wohnungsbaus und der Landwirtschaft nicht in Frage gestellt werden, lokale Fördermittel aber stehen nicht mehr in gleichem Umfang zur Verfügung, wovon auch nichtstaatliche Organisationen betroffen sind.

Die ROK geht in den GS, die ja noch vor der Wirtschaftskrise verabschiedet worden sind, auf die veränderten Rahmenbedingungen ein und nimmt sich hier in die Pflicht, für die Nöte des Volkes, die Rechte und Sorgen einzelner Bürger wie gesellschaftlicher Gruppen einzutreten. Betont wird der grundsätzliche Wert der Arbeit ebenso wie die Notwendigkeit einer Solidargemeinschaft. Nicht zuletzt wird der Aufbau eines Gesundheitssystems gefordert, das möglichst allen Mitgliedern der Gesellschaft zugänglich sein soll, „unabhängig von deren materiellem Vermögen und sozialer Stellung.“14 Insgesamt bleiben die GS aber in der Analyse wie in den Konsequenzen sehr allgemein. Hier zeigt sich ein Defizit in der sozialethischen Theoriebildung, das sich einerseits auf die Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft zurückführen lässt, die eine freie theologische Forschung unmöglich gemacht haben; eine Teilhabe an den in Westeuropa geführten sozialethischen Debatten war unter den Bedingungen einer ideologisch geführten Konfrontation nicht realisierbar. Andererseits steht im Hintergrund aber auch ein ekklesiologisches Selbstverständnis, das Andrej Zubov, Mitverfasser der GS, folgendermaßen formuliert hat: „Die Kirche soll und muss Wohltätigkeit üben, Heime für Elende, Kranke und Alte gründen. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass die Hauptaufgabe der Kirche nicht in der sozialen Tätigkeit besteht, sondern in der Führung zu Christus. Die Kirche muss eher ihre Mitglieder und die Gesellschaft im Allgemeinen zur Wohltätigkeit anregen, als breite wohltätige Programme institutionell selbst zu verwirklichen.“15 Die praktische Umsetzung scheitert überdies an der chronischen Finanznot der ROK. Noch im November 2008 hatte sich der verstorbene Patriarch Aleksij II. an den russischen Präsidenten mit Vorschlägen zur „Gewährleistung der finanziellen Stabilität der Russischen Orthodoxen Kirche unter den neuen Bedingungen“ gewandt, die die schlimmsten Folgen der Finanzkrise für die ROK abwenden und damit den Fortbestand auch ihrer sozialen und diakonischen Tätigkeit sichern sollten.

Jedenfalls bleiben die sozialen Aktivitäten der ROK ziemlich unübersichtlich, denn ihr steht keine übergreifende Institution wie in Deutschland das Diakonische Werk oder die Caritas zur Verfügung, die die verschiedenen Aktivitäten koordinieren würde. Lokal gibt es erhebliche Unterschiede. So finden sich Gemeinden, die überhaupt keine oder nur schlecht organisierte diakonische Arbeit leisten, deren Priester allenfalls zur seelsorglichen Begleitung bereit sind. Andernorts hingegen wurden sehr erfolgreiche Projekte initiiert, wurden Schwestern- und Bruderschaften gegründet, hat sich ein beeindruckendes ehrenamtliches Engagement entwickelt.

Bekannt für ihre vielfältigen diakonischen Aktivitäten ist beispielsweise die Gemeinde von Erzpriester Arkadij (Šatov), der zugleich Vorsitzender der „Kommission für kirchliche soziale Tätigkeit“ der Moskauer Eparchie ist. In seiner Gemeinde werden Obdachlose und kinderreiche Familien unterstützt, Senioren und Pflegebedürftige betreut. Auch wurde hier eine Schwesternschule eingerichtet, die inzwischen dem Städtischen Krankenhaus Nr. 1 angegliedert ist. In St. Petersburg ist die Orthodoxe Bruderschaft der Hl. Anastasia sehr engagiert in der Arbeit mit Straßenkindern sowie alkohol- und drogenabhängigen jungen Menschen. In Kostroma wiederum erhält das orthodoxe Jugendzentrum viel Zulauf, das verschiedene Angebote (u. a. Sonntagsschule, Handwerkskurse, Sommer- und Wintercamps) speziell für sozial benachteiligte Jugendliche bietet. Beispiele dieser Art ließen sich leicht vermehren, darunter auch solche, die für eine funktionierende interkonfessionelle Zusammenarbeit stehen.16 Zukunftsweisend ist vor allem, dass inzwischen die Ausbildungspläne verschiedener orthodoxer Lehranstalten Praktika in diakonischen Einrichtungen vorschreiben.

Resümee

Versucht man, die sozio-politische Rolle der ROK näher zu bestimmen, so zeigt sich, dass ihr Einfluss auf staatliches Handeln in den letzten Jahren tendenziell zugenommen hat. Damit ist nicht die mediale Inszenierung gemeint, die zumal bei westlichen Beobachtern den Eindruck einer Nähe von Staat und Kirche hinterlässt, die faktisch nicht besteht. Gemeint sind vielmehr die Möglichkeiten der ROK, auf den Prozess der Gesetzgebung Einfluss zu nehmen.

Bezüglich der nationalpatriotischen Tendenzen in der russischen Gesellschaft verhält sich die ROK ambivalent: Einerseits knüpft sie in GS (und GM) programmatisch daran an, andererseits gibt es immer wieder Stellungnahmen, die dieser Tendenz deutlich entgegengesetzt sind.

Was schließlich das kirchliche Engagement in der Gesellschaft betrifft, so bleibt die ROK – theoretisch wie praktisch – hinter den Erfordernissen der sozialen Lage der Bevölkerungsmehrheit weit zurück. Zu wünschen wäre, dass die ROK gerade in dieser Hinsicht ihr Engagement noch weiter ausbaut.


Fußnoten:


  1. Deutsche Fassung (mit Einführung und Kommentaren) von Josef Thesing/Rudolf Uertz (Hrsg.): Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Sankt Augustin 2001. ↩︎

  2. Deutsche Fassung von Rudolf Uertz/Lars Peter Schmidt (Hrsg.): Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte. Moskau 2008. – Ein Auszug findet sich in vorliegendem Heft (S. 69-74 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Vgl. Thesing/Uertz (wie Anm. 1), S. 32. ↩︎

  4. Vgl. Pauliina Arola/Rist Saarinen: In Search of Sobornost and „New Symphony“. The Social Doctrine of the Russian Orthodox Church. In: The Ecumenical Review 54 (2002/1), S. 130-141; zum Zusammenhang vgl. auch den Beitrag von Jelena W. Beljakowa in vorliegendem Heft. ↩︎

  5. Vgl. Thesing/Uertz (wie Anm. 1), S. 31. ↩︎

  6. Vgl. Elena M. Miroschnikowa: Staatlich-kirchliche Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland. Philosophisch-rechtliche Aspekte. Moskau 1998 (russ.). Zur Kritik am Religionsgesetz vgl. Gerd Stricker: Das neue Religionsgesetz in Rußland. Vorgeschichte, Inhalt, Probleme, Befürchtungen, in: osteuropa 49 (1999), H. 2, S. 689-709. ↩︎

  7. Vgl. www.portal-credo.ru (08./09.07.2009); deutsche Zusammenfassung in: G2W 37 (2009), H. 10, S. 6 f. ↩︎

  8. Vgl. Thesing/Uertz (wie Anm. 1), S. 17. Deutlich sind auch die Aussagen auf S. 19 f.: „Der orthodoxen Ethik widerspricht jede Einteilung der Völker in bessere und schlechtere wie auch die Herabwürdigung jeglicher ethnischer oder bürgerlicher Nation. Noch weniger läßt sich die Orthodoxie mit solchen Lehren vereinbaren, die die Nation an die Stelle Gottes setzen oder den Glauben lediglich zu einem Aspekt des nationalen Selbstbewußtseins reduzieren.“ ↩︎

  9. Ebd., S. 19. ↩︎

  10. Vgl. Veniamin Simonov: Religion und Religiosität in Russland. In: osteuropa 59 (2009), H. 6, S. 189-216; siehe auch den Beitrag von Nadeschda Beljakowa in diesem Heft (S. 54-63 der gedruckten Ausgabe) und das Interview (S. 64-68 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  11. Zum Georgienkonflikt vgl. auch den Beitrag von Martin Malek in vorliegendem Heft. ↩︎

  12. www.pres-outlook.com/news-and-analysis/1/9053.html (Link mittlerweile inaktiv). ↩︎

  13. Dazu Regina Elsner: (Des)Organisierte Nächstenliebe. Kirchliche Sozialarbeit in Russland. In: osteuropa 59 (2009), H. 6, S. 249-259, hier S. 250. ↩︎

  14. Vgl. Thesing/Uertz (wie Anm. 1), S. 91. ↩︎

  15. Andrej Zubov: Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Rußland – grundsätzliche und aktuelle Probleme. In: Rudolf Uertz/Lars-Peter Schmidt (Hrsg.): Beginn einer neuen Ära? Die Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche vom August 2000 im interkulturellen Dialog. Sankt Augustin 2004, S. 43-60, hier S. 54. ↩︎

  16. Vgl. Elsner (wie Anm. 13), S. 255-257. ↩︎