Die Russische Orthodoxe Kirche und die Menschenrechte

(Dokument)
aus OWEP 1/2010  •  von  OWEP-Redaktion

Im Juli 2008 legte die Russische Orthodoxe Kirche die „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte“ vor.1 Dieses Dokument bietet eine Ergänzung zu den „Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche“ vom August 2000, in der zum ersten Mal in einer orthodoxen Kirche eine umfassende Soziallehre vorgelegt worden ist.2 Das nachstehend in Auszügen wiedergegebene Dokument befasst sich besonders mit dem Begriff und der theologischen Herleitung der Menschenwürde sowie ihrer Bedeutung für Staat und Kirche. Die deutsche Fassung, aus der mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Rudolf Uertz (zusammen mit Dr. Lars Peter Schmidt Herausgeber) die folgenden Abschnitte abgedruckt sind, wurde vom Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau 2008 veröffentlicht. Die Übersetzung aus dem Russischen nahm Nadja Simon vor.

IV. Die Würde und die Freiheit im System der Menschenrechte

IV.1. Es gibt unterschiedliche Traditionen der Auslegung sowie nationale Besonderheiten bei der Umsetzung von Rechten und Freiheiten. Das moderne System der Menschenrechte ist verzweigt und hat die Tendenz zu einer noch größeren Differenzierung. Es gibt in der Welt keine allgemein anerkannte Klassifizierung der Rechte und Freiheiten. Unterschiedliche Rechtsschulen gliedern sie in Gruppen aufgrund unterschiedlicher Kriterien. Ausgehend von ihrer grundsätzlichen Berufung schlägt die Kirche vor, die Rechte und Freiheiten unter dem Gesichtspunkt derjenigen Rolle zu betrachten, die sie möglicherweise spielen können, um günstige äußere Bedingungen für die Vervollkommnung der Person auf ihrem Wege zum Heil zu schaffen.

IV.2. Das Recht auf Leben. Das Leben ist die Gabe Gottes an den Menschen. Der Herr Jesus Christus verkündete: „... ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Das Gebot „Du sollst nicht töten“ wurde von Gott zusammen mit den anderen Geboten dem Propheten Moses verkündet. Die Orthodoxie akzeptiert nicht und verurteilt den Terrorismus, die bewaffnete Aggression und die kriminelle Gewalt, genauso wie auch alle anderen Formen der verbrecherischen Beraubung des menschlichen Lebens.

Zugleich beschränkt sich das Leben nicht auf den irdischen Raum, in dem der Mensch von der säkularen Weltanschauung und dem mit ihr verbundenen juristischen System wahrgenommen wird. Das Christentum bezeugt, dass das irdische Leben, das einen Wert an sich hat, seine Fülle und seinen absoluten Sinn in der Perspektive des ewigen Lebens gewinnt. Deshalb darf an erster Stelle nicht der Wunsch stehen, das irdische Leben um jeden Preis zu erhalten, sondern das Streben danach, es so einzurichten, dass der Mensch im Zusammenwirken mit Gott seine Seele für die Ewigkeit formen kann.

Das Wort Gottes lehrt, dass die Hingabe des eigenen irdischen Lebens für Christus und für das Evangelium (siehe Mk 8,35) sowie für andere Menschen der Erlösung des Menschen nicht im Wege steht, sondern ihn im Gegenteil in das Himmelreich führt (siehe Joh 15,13). Die Kirche verehrt die Glaubenstat der Märtyrer, die bis zum Tode dem Herrn gedient haben, und die Glaubensbekenner, die im Angesicht von Verfolgungen und Drohungen sich nicht von Ihm losgesagt haben. Die orthodoxen Christen halten auch den Heroismus derer in Ehren, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld für das Vaterland und für ihre Nächsten hingegeben haben.

Zugleich verurteilt die Kirche den Selbstmord, weil derjenige, der ihn verübt, sich nicht opfert, sondern das Leben als Gottes Gabe verwirft. Unannehmbar ist in diesem Zusammenhang die Legalisierung der so genannten Euthanasie – der Sterbehilfe im Sinne einer Hilfe zur Selbsttötung, was eine Verbindung von Mord und Selbstmord darstellt.

Das Recht auf Leben muss den Schutz des menschlichen Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an umfassen. Jeder Angriff auf das Leben einer entstehenden menschlichen Person stellt einen Verstoß gegen dieses Recht dar. Die modernen internationalen und nationalen juristischen Normen festigen und schützen das Leben und die Rechte eines Kindes, eines Erwachsenen und eines alten Menschen. Die gleiche Logik des Schutzes des menschlichen Lebens muss für den Abschnitt vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zur Geburt gelten. Die biblische Vorstellung von dem gottgegebenen Wert des menschlichen Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an wird insbesondere in den Worten des heiligen Königs David zum Ausdruck gebracht: „Denn Du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter ... Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder Dir nicht verborgen. Deine Augen sahen, wie ich entstand, in Deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.“ (Ps 139,13.15 f.). …

IV.4. Pressefreiheit. Die Freiheit, Gedanken und Gefühle auszudrücken, was die Möglichkeit der Verbreitung von Informationen voraussetzt, stellt die natürliche Fortsetzung der Freiheit der weltanschaulichen Wahl dar. Das Wort dient als das wichtigste Mittel zur Kommunikation der Menschen mit Gott und untereinander. Der Inhalt dieser Kommunikation beeinflusst tiefgreifend das Wohlergehen der Menschen und die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gesellschaft. Der Mensch trägt eine besondere Verantwortung für seine Worte. „Denn aufgrund deiner Worte wirst du freigesprochen und aufgrund deiner Worte wirst du verurteilt werden“ – heißt es in der Heiligen Schrift (Mt 12,37). Öffentliche Auftritte und Erklärungen dürfen nicht die Verbreitung der Sünde fördern, Zwist und Unordnung in der Gesellschaft verursachen. Das Wort soll aufbauen und das Gute unterstützen. Besonders gefährlich ist es, die religiösen und nationalen Gefühle zu beleidigen, Informationen über das Leben dieser oder jener Religionsgemeinschaften, Völker, sozialen Gruppen und Personen zu verfälschen. Die Verantwortung für das Wort steigt um das Vielfache in der modernen Welt, die eine stürmische Entwicklung der Technologien zur Bewahrung und Verbreitung von Informationen erlebt. …

IV.7. Bürgerliche und politische Rechte. In der Heiligen Schrift werden die Gläubigen ermahnt, die familiären und öffentlich wichtigen Pflichten zu erfüllen als Gehorsamsübung gegenüber Christus (siehe Lk 3,10-14; Eph 5,23-33; Tit 3,1). Der heilige Apostel Paulus hat mehrfach die Rechte eines römischen Bürgers genutzt, um ungehindert das Wort Gottes zu predigen. Die bürgerlichen und politischen Rechte eröffnen dem Menschen breite Möglichkeiten für den tätigen Dienst am Nächsten. Unter Ausnutzung dieses Instruments kann ein Bürger das Zusammenleben beeinflussen und sich an der Verwaltung der Angelegenheiten des Staates beteiligen. Davon wie der Mensch sein Recht zu wählen und gewählt zu werden, Verbands- und Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit und die Freiheit der Überzeugungen nutzt, hängt das Wohlergehen der Gesellschaft ab.

Der Gebrauch der politischen und bürgerlichen Rechte darf nicht zur Teilung und zur Feindschaft führen. Die orthodoxe Tradition der Konziliarität … erfordert die Erhaltung der Einheit der Gesellschaft auf der Grundlage unvergänglicher sittlicher Werte. Die Kirche ruft die Menschen dazu auf, ihre egoistischen Bestrebungen um des allgemeinen Wohles willen zu zügeln.

In der Geschichte der Völker, die von der Russischen Orthodoxen Kirche betreut werden, entstand die fruchtbare Vorstellung von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft. Die politischen Rechte können voll und ganz einem solchen Prinzip der staatlich-gesellschaftlichen Beziehungen dienen. Dazu ist eine reale Vertretung der Interessen der Bürger auf verschiedenen Ebenen der Macht und die Gewährleistung der Möglichkeit zum bürgerlichen Wirken notwendig.

Das Privatleben, die Weltanschauung und der Wille der Menschen dürfen nicht zum Gegenstand der totalitären Kontrolle werden. Für die Gesellschaft gefährlich ist die Manipulation der Wahl der Menschen und ihres Bewusstseins seitens der Machtstrukturen, politischen Kräfte, Wirtschafts- und Informationseliten. Es ist auch unzulässig, Informationen über irgendwelche Seiten des Lebens der Menschen ohne ihr Einverständnis zu sammeln, zu konzentrieren und zu nutzen. In Fällen, in denen diese Vorgänge die Verteidigung des Vaterlandes, die Bewahrung der Sittlichkeit, den Schutz der Gesundheit, der Rechte und legitimen Interessen der Bürger sowie die Vorbeugung gegen oder die Aufklärung von Verbrechen und den Vollzug der Rechtsprechung erfordern, kann das Sammeln von Informationen über einen Menschen jedoch ohne sein Einverständnis geschehen. Aber auch in solchen Fällen müssen das Sammeln und die Nutzung von Informationen entsprechend den erklärten Zielen und unter Einhaltung der Gesetzlichkeit erfolgen. Die Methoden zur Sammlung und Bearbeitung von Informationen über Menschen dürfen nicht die Menschenwürde verletzen, die Freiheit einschränken und den Menschen aus einem Subjekt der gesellschaftlichen Beziehungen in ein Objekt der maschinellen Steuerung verwandeln. Noch gefährlicher für die Freiheit des Menschen wird die Implementierung von technischen Mitteln, die den Menschen ständig begleiten und untrennbar in den menschlichen Körper integriert werden, falls sie zur Kontrolle über die Person und zu ihrer Steuerung eingesetzt werden können. …

V. Grundsätze und Schwerpunkte der bürgerrechtlichen Tätigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche

V.1. Seit Alters und bis heute tritt die Orthodoxe Kirche vor der weltlichen Macht für ungerecht Verurteilte, für die Erniedrigten, für die Unglücklichen und für die Ausgebeuteten ein. Die barmherzige Fürbitte der Kirche schließt auch die ein, die eine gerechte Strafe für Verbrechen zu tragen haben. Die Kirche hat auch immer wieder dazu aufgerufen, der Gewalt Einhalt zu gebieten und die Sitten zu bändigen, wenn Konflikte entbrannt waren, in deren Folge die Menschenrechte auf Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum mit Füßen getreten wurden. Schließlich wandten sich die orthodoxen Bischöfe, Geistlichen und Laien in den Jahren der atheistischen Verfolgungen an die Machthaber und an die Gesellschaft, verteidigten die Freiheit des Glaubensbekenntnisses und traten für das Recht auf die umfassende Beteiligung der religiösen Gemeinschaften am Leben des Volkes ein.

V.2. Auch heute sind wir aufgerufen, mit Eifer – und nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten – für die Erhaltung der Rechte und der Würde der Menschen Sorge zu tragen. Dabei ist uns durchaus bewusst, dass in der modernen Welt die Menschenrechte manchmal verletzt und die Würde des Menschen nicht nur von der Staatsmacht, sondern auch von den transnationalen Strukturen, den Wirtschaftssubjekten, von pseudoreligiösen Gruppen, terroristischen und sonstigen verbrecherischen Vereinigungen mit Füßen getreten werden. Immer häufiger müssen die Würde und die Menschenrechte vor der zerstörerischen Aggression öffentlicher Information geschützt werden. …

V.3. Die bürgerrechtlichen Aktivitäten der Mitglieder der Russischen Orthodoxen Kirche können sowohl auf allgemeinkirchlicher Ebene, mit dem Segen der Kirchenleitung, wie auch auf der Ebene der von Laien gegründeten öffentlichen Vereinigungen, von denen viele bereits jetzt eine erfolgreiche Arbeit im bürgerrechtlichen Bereich durchführen, stattfinden. In ihrer Tätigkeit, die auf den Schutz der Rechte und der Würde des Menschen gerichtet ist, ist die Kirche bestrebt, mit dem Staat und den gesellschaftlichen Kräften zusammenzuarbeiten. Bei der Auswahl der Partner in der Gesellschaft geht die Kirche von den Worten Christi des Erlösers aus, die Er an die Apostel richtete: „Denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ (Mk 9,40).

V.4. Auf der Grundlage der kirchlichen Lehre über die Würde, Freiheit und die Menschenrechte sind die Christen zu sittlich orientierten sozialen Aktivitäten aufgerufen. Sie können ganz unterschiedliche Formen annehmen – zum Beispiel das Zeugnis im Angesicht der Macht, intellektuelle Tätigkeiten, Durchführung von Kampagnen zum Schutz von Minderheiten und ihrer Rechte. Ohne die revolutionäre Umgestaltung der Welt anzustreben und in Anerkennung der Rechte anderer gesellschaftlicher Gruppen auf Partizipation an der gesellschaftlichen Umgestaltung auf der Grundlage ihrer weltanschaulichen Wahl, behalten sich die orthodoxen Christen das Recht vor, sich an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen, die mit ihrem Glauben und mit ihren sittlichen Prinzipien nicht im Widerspruch steht. Die Russische Orthodoxe Kirche ist bereit, diese Prinzipien im Dialog mit der Weltgemeinschaft sowie in der Zusammenarbeit mit den Gläubigen anderer traditioneller Konfessionen und Religionen zu vertreten.


Fußnoten:


  1. Quelle: http://www.mospat.ru/ru/documents/dignity-freedom-rights/ (russische und englische Fassung; letzter Zugriff: 04.03.2015). ↩︎

  2. Vgl. zu den „Grundlagen der Sozialkonzeption“ und zum weiteren Kontext den Beitrag von Jennifer Wasmuth in vorliegendem Heft, besonders S. 23 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎