Zeit für eine reife Demokratie
Seit Mai 2004 ist Ungarn Mitglied der Europäischen Union, 2011 wird das Land die europäische Ratspräsidentschaft übernehmen. Doch im letzten Jahr hat das Land vor allem mit drohendem Staatsbankrott im Zuge der globalen Krise und durch verheerende Wahlergebnisse mit legitimierten rechtsradikalen Strömungen Schlagzeilen gemacht.
Die Auszeichnung der südungarischen Stadt Pécs als „Europäische Kulturhauptstadt 2010“ (neben dem Ruhrgebiet und Istanbul) könnte einen Lichtblick bedeuten. Das hofft Dr. István Tarrosy, der an der dortigen Universität am Institut für Politikwissenschaft lehrt und bis Februar 2007 die Bewerbung und die Programmgestaltung für „Pécs 2010“ mit entwickelt hat. – Das Gespräch führte Juliane Weber, freie Journalistin und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) Diözesanverband Mainz in englischer Sprache; sie hat den Text auch übersetzt.
Herr Dr. Tarrósy, viele Deutsche kennen Ungarn wahrscheinlich hauptsächlich als Herkunftsland des Gulaschs. Manche haben vielleicht noch gehört, dass Budapest eine schöne Stadt ist, wissen aber im Zweifelsfall nicht viel mehr. Welchen Blick auf Ungarn wünschen Sie sich?
Ich mag keine Stereotypen. Natürlich ist unser Gulasch großartig, und wer ihn einmal probiert hat, will immer wieder davon essen. Das ist schön und gut, aber mir geht es um andere Aspekte unserer Geschichte, und gerade Pécs ist eine wirklich interkulturelle Stadt. Ich sage bewusst „interkulturell“ und nicht „multikulturell“, weil hier tatsächlich eine Vermischung verschiedener Kulturen stattfindet. Nehmen wir z. B. das Festival, das im Moment hier stattfindet, die „International Culture Week in Pécs“, kurz ICWiP. Hier treffen verschiedene Kulturen aufeinander und kommen miteinander ins Gespräch. Jedes Jahr steht das Festival unter einem zentralen Thema, dieses Jahr geht es um die globale Krise. Letztes Jahr haben wir uns mit Klimawandel, Umweltschutz und Nachhaltigkeit beschäftigt, nächstes Jahr werden wir unter dem Motto „Balkan reloaded“ die Balkanstaaten in den Blick nehmen.
In Pécs leben viele verschiedene Kulturen friedlich und harmonisch nebeneinander. Das ist ein echtes Kapital, auf das wir bauen können. Deswegen haben wir diese Interkulturalität auch in der Bewerbung um den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ vermittelt.
Identifiziert sich denn gerade die junge Generation hier stark mit ihrer eigenen Kultur? Oder ist es nur eine kleine Minderheit, die daran interessiert ist, Gesellschaft mitzugestalten und das eigene Land innerhalb Europas zu repräsentieren?
Ich glaube, dass es viele gibt, die gerne mehr machen würden. Und es ist Aufgabe der Stadt und der Stadtverwaltung, gerade mit dem Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ die Leute dazu zu ermutigen, sich bemerkbar und sichtbar zu machen. Wir haben beispielsweise eine großartige Underground-Kultur, eine Subkultur, mit Musikern, die innerhalb Ungarns sehr bekannt sind. Unser Ziel ist es, diese Kultur auch über die Landesgrenzen hinaus in der Region und innerhalb Europas bekannt zu machen.
Und wie sieht es mit politischer Mitwirkung aus? Interessieren sich die jungen Leute für Europa oder identifizieren sie sich in irgendeiner Form damit? Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2009 war in Ungarn noch niedriger als 2004, knapp über 30 Prozent …
Ja, das stimmt. Aber dieses Phänomen betrifft ganz Europa, es ist eigentlich sogar eine globale Erscheinung. Es muss noch jede Menge getan werden, um gerade junge Leute zum Mitmachen zu ermutigen.
Ich würde aber gerne noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Ich vertrete eine Stiftung, die sich um studentische Austauschnetzwerke bemüht. Sie wurde 1999 gegründet und ist maßgeblich an der Organisation der ICWiP beteiligt. Vor Kurzem haben wir eine Umfrage gestartet, um herauszufinden, wie junge Leute über das Programm für 2010 denken. Uns ging es besonders darum, was danach ist, wie nachhaltig die Wirkung sein wird, auch auf politischer Ebene. Und wir haben herausgefunden, dass die Leute recht optimistisch sind im Bezug darauf, was der Titel nach 2010 bringen wird. Auf diese optimistische Stimmung müssen wir bauen. Unsere Region Süd-Transdanubien ist nicht gerade die erfolgreichste ungarische Region, ökonomisch betrachtet. Viele junge Talente und kluge Köpfe verlassen nach dem Studium die Stadt. Es muss unser Ziel sein, dass sie bleiben. Jede Stadt braucht junge talentierte Geister, um neu anfangen zu können, um sich zu verjüngen und sich als Stadt neu zu erfinden.
Es gibt ein spannendes neues europäisches Projekt, die „Europäische Jugendhauptstadt“. Die Initiative ging von Rotterdam aus und wurde unterstützt vom Europäischen Jugendforum und dem Europarat. Die erste Jugendhauptstadt ist in diesem Jahr Rotterdam selbst, gefolgt von Turin und 2011 von Antwerpen. Wir wollen uns auch um den Titel bewerben. Das ist ein wichtiger Schritt, um die Jugend zu der Art von Mitmachen zu ermutigen, die ich mir vorstelle.
Das hört sich alles nach tollen, konstruktiven Ideen und Aufbruch an. Viele deutsche Medien vermitteln derzeit ein anderes Bild von Ungarn. Die Wahlergebnisse sind alarmierend, wenn man sich anschaut, dass die rechtsradikale Jobbik-Partei bei der Europawahl im Juni fast 15 Prozent der Stimmen erhalten hat und die „Ungarische Garde“ in aller Öffentlichkeit faschistisches Gedankengut verbreitet. Glauben Sie nicht, dass das auch ein Problem der Jugend ist? Wie stark ist der Rückhalt der rechten Parteien in der jungen Wählerschaft?
Ich kann keine genauen Zahlen nennen, aber das ist natürlich ein wichtiges Thema. Ich unterrichte an der Fakultät für Politikwissenschaften, und es ist ziemlich schockierend, das an diesem Institut, wo politische Ideologien zum Lernstoff gehören und natürlich auch extremistische Ideologien Thema sind, genauso wie am Institut für Geschichte viele Befürworter der extremen Rechten zu finden sind. Ich kann nicht erklären, warum das so ist. Ein Grund ist sicherlich die Krise. Sie ist ein allgegenwärtiges Thema, das man nicht umgehen kann, und natürlich keimen unter diesem Druck nationalistische Tendenzen auf, dafür gibt es, wie Sie wissen, genügend historische Beispiele. Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Politikers, diese Tendenzen einzudämmen. Ich sehe genauso wie viele Experten, dass die demokratische politische Kultur Ungarns immer noch nicht ausgereift ist. Dafür braucht es noch Zeit und mehrere Generationen, die die Entwicklung vorantreiben. Seit dem politischen Systemwechsel sind erst 20 Jahre vergangen, das ist nicht genug. Es wird mindestens 60 Jahre dauern, um eine demokratische Kultur im Sinne von politischer Teilnahme in der Gesellschaft und den Köpfen der Leute zu verankern. Wir brauchen also mehr Zeit, und das spielt gerade für junge Leute eine große Rolle.
Vor ein paar Jahren, im September 2006, haben Randalierer das Sendezentrum des Nationalfernsehens in Budapest angegriffen. Die Polizeieinheiten waren nicht darauf vorbereitet und nicht in der Lage, in angebrachter Weise und wenn nötig mit der entsprechenden Härte darauf zu reagieren. In Deutschland ist das z. B. anders, da wird auf solche Vorfälle mit den nötigen Maßnahmen reagiert, weil man weiß, was zu tun ist. Auch das sind Dinge, die sich bei uns noch entwickeln müssen, weil sie zu einem demokratischen Staat dazugehören.
Sie haben die globale Krise angesprochen, von der Ungarn stärker betroffen ist als viele andere europäische Länder. Wie beeinflusst das gerade das Leben der jungen Generation?
Die Krise ist überall zu spüren und die Arbeitslosigkeit steigt, gerade in Regionen wie unserer, in denen junge Menschen kaum Chancen haben. Ganz unmittelbar spüren wir die Krise bei unseren Festivals. Die Gastronomiebetriebe, die hier Verpflegung anbieten, beklagen sich darüber, dass die Jugendlichen ihre Getränke bei den Discountern kaufen und mit auf die Konzerte bringen, um danach schnell wieder nach Hause zu gehen. Daran sieht man, dass es den Leuten an Mitteln fehlt, um das Leben wirklich zu genießen, wie es in einem funktionierenden Wohlfahrtsstaat der Fall sein sollte. Ungarn ist definitiv kein Wohlfahrtsstaat. Das sollte aber unser Ziel sein.
Ist Pécs denn im Bezug auf die wirtschaftliche Lage repräsentativ für den Rest des Landes? Immerhin hat der Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2010“ einiges an EU-Geldern eingebracht.
Pécs ist sicher repräsentativ für die ungarische Kultur, für Stadtentwicklung und vor allem für die Unreife der politischen Kultur. Außerdem ist sie als Studentenstadt repräsentativ mit Traditionen, die bis ins 14. Jahrhundert zurückgehen, als die Universität 1367 als eine der ersten in Zentraleuropa gegründet wurde. Die Stadt ist ein guter Repräsentant für Ungarn.
Aber nicht im ökonomischen oder wirtschaftlichen Sinne ...
Doch, natürlich, gerade da. Wie schon gesagt, konnte die Region sich nicht in der Form entwickeln, wie es beispielsweise für die Städte und Siedlungen nahe der österreichischen Grenze der Fall war, die viel weiter entwickelt sind. Wir haben hier keine gute Infrastruktur, und ohne die ist echte Entwicklung nicht vorstellbar. Ohne gute Zugverbindung zwischen Budapest und Pécs und vor allem ohne Autobahn, die nun glücklicherweise endlich im Bau ist, gibt es auch keine wirkliche Entwicklung. Mit einer besseren Infrastruktur werden hoffentlich auch Investoren kommen und es wird auch für große Unternehmen attraktiv, ihre Tochtergesellschaften hier anzusiedeln.
Der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ ist für Pécs die Chance auf einen Paradigmenwechsel. Deshalb war uns sehr wichtig, in unserer Bewerbung hervorzuheben, dass die Stadt das große kulturelle Potenzial überdenken sollte, das in kreativen Wirtschaftszweigen oder auch im Bereich von Wissen und Forschung liegt.
Das Programm für 2010 steht unter dem Motto „Grenzenlose Stadt“ und die Idee dahinter ist, all die Minderheiten einzubeziehen, die hier in Pécs leben.
Ja, und zwar nicht nur im Sinne von ethnischen Minderheiten, sondern auch im Bezug auf Glaubensrichtungen. Im Moment läuft das letzte so genannte Vorbereitungsjahr, und wir feiern das tausendjährige Jubiläum unseres Bistums. Aber es sollte nicht nur das Christentum gefeiert werden, sondern alle verschiedenen Religionen, die hier vertreten sind.
Wenn man hört, dass hier in Pécs alle in Ruhe und Frieden miteinander leben, dann klingt es immer ein bisschen märchenhaft.
Pécs ist tatsächlich eine multikulturelle und interkulturelle Stadt. Nach ungarischem Kommunal- und Landesrecht dürfen anerkannte Minderheiten ihre eigenen Verwaltungen, so genannte Selbstverwaltungen, einrichten. In Pécs haben wir rund zehn solcher Selbstverwaltungen, darunter eine serbische, eine griechische, eine ruthenische und eine deutsche.
1998 hat Pécs von der UNESCO die Auszeichnung „Städte für Frieden“ bekommen. Das hatte mit der Rolle der Stadt im Laufe der Balkankriege zu tun, weil viele Flüchtlinge hier Unterschlupf gefunden hatten, aber auch damit, dass in unserer Stadt wirklich viele Minderheiten friedlich zusammen leben.
Trotzdem verlassen die jungen Menschen nach dem Ende ihrer Ausbildung oder ihres Studiums die Stadt. Wo sehen Sie Möglichkeiten, sie in Pécs zu halten?
Die größte Chance bietet das Jahr als „Europäische Kulturhauptstadt“ und das, was daraus folgt. Wir werden neue Kultureinrichtungen haben, beispielsweise eine multifunktionale Konzerthalle, die gleichzeitig als Konferenzzentrum dienen soll. Der Kulturzweig muss in diesen Entwicklungen und Projekten noch stärker berücksichtigt werden. In der Vorbereitung unserer Bewerbung hatten wir einen „Brutkasten“ im Kopf, eine Art „Brutapparat“ für junge Künstler. Ich bin überzeugt davon, dass es neue Institutionen geben wird, für die sie arbeiten können.
Es gibt schon erste Schritte in diese Richtung: Im Rahmen eines Programms konnten verschiedene Träger wie Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen regionale Gelder beantragen, die sowohl aus EU-Mitteln und aus dem europäischen Sozialfonds als auch aus nationalen Töpfen kamen. Meine Stiftung hat sich um diese Möglichkeit beworben und einen Betrag zugesichert bekommen, mit Hilfe dessen wir für die nächsten drei Jahre eine junge talentierte Frau einstellen konnten, die gerade ihr Wirtschaftsdiplom gemacht hat. Es wurden insgesamt 200 solcher Zuwendungen vergeben. Das ist doch ein Anfang.