Zwischen Beharrung und Aufbruch: Ländliche Regionen im 21. Jahrhundert

aus OWEP 3/2011  •  von Alois Glück

Alois Glück ist Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Zusammenfassung

Weltweit befinden sich die ländlichen Regionen im Umbruch. Neben Landflucht und Verödung der Fläche lassen sich auch gegenläufige Trends beobachten: Rückzug aus den Städten und Wiederentdeckung des Dorfes. Der Beitrag nimmt Eckpunkte dieser Entwicklung in den Blick.

I.

Die Welt ist im Umbruch wie wohl noch nie in der Menschheitsgeschichte. Das gilt für den Umfang wie auch für die Vielzahl der Entwicklungen und die zeitliche Verdichtung. Die ländlichen Räume sind wie immer in der Geschichte von diesen Entwicklungen nicht ausgespart, sie werden davon ebenfalls geprägt, wenn auch in unterschiedlicher Weise.

Betrachtet man die Entwicklung in den Ländern Europas außerhalb der früher von Kommunismus und Planwirtschaft geprägten Länder, so sind die vergangenen Jahrzehnte von einer noch nie da gewesenen Dynamik geprägt. Rasches und früher unvorstellbares Wachstum ist das Merkmal: Wachstum nicht nur im rein Materiellen, sondern vor allem Zuwachs an Lebenschancen für Menschen durch mehr soziale Durchlässigkeit, berufliche Alternativen, durch Mobilität. Das gilt in besonderer Weise für die ländlichen Räume. Für diese Länder waren die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit dem Aufbruch in die Industrialisierung auch die Zeit der Weichenstellungen und der Zukunftsentscheidungen für die Entwicklung der ländlichen Räume. Die expandierende Industrie brauchte Arbeitskräfte. Die Frage lautete: die Menschen zu den Arbeitsplätzen in den Städten und deren Umfeld oder die Arbeitsplätze zu den Menschen in den ländlichen Räumen bringen? Insbesondere in Deutschland und im deutschsprachigen Raum fiel die Entscheidung zugunsten einer gezielten Politik für Arbeitsplätze im ländlichen Raum. Viele Ökonomen von damals plädierten wie häufig auch jetzt dafür, dass die größte wirtschaftliche Dynamik mit der Konzentration in einigen wenigen Schwerpunktorten zu erreichen sei. Das ist aber eine rein ökonomische Betrachtungsweise, die alle gesellschaftlichen und humanen Bedingungen außer Acht lässt und Wirtschaftswachstum zum Selbstzweck erklärt. In dichter besiedelten Räumen wie in den deutschsprachigen Ländern ist dabei die Entwicklung der ländlichen Räume günstiger verlaufen als in den Flächenstaaten wie etwa Frankreich, Italien oder Spanien.

II.

Es gibt kein Einheitsrezept für die Entwicklung des ländlichen Raums. Vorab geht es aber immer um Grundentscheidungen. Wird der ländliche Raum nur als Ergänzungsraum, als „Zulieferer für den städtischen Raum“ verstanden, Zulieferer durch Menschen, die in die Städte wandern, durch die Nahrungsmittelproduktion, die Trinkwasserversorgung und die Bereitstellung von Erholungsräumen – oder ordnet man den ländlichen Raum als eigenständigen Lebensraum mit Eigenwert ein? In dieser Frage spielt häufig eine ganz große Rolle, dass die Eliten, die Meinungsbildner und Entscheider, meistens mehr „stadtorientiert“ sind. Diese Fixierung auf die Städte und die großen Metropolen prägt weithin die Entwicklung in den Ländern der so genannten Dritten Welt. Das Ergebnis ist fatal. Die Bevölkerungskonzentration in den großen Metropolen, die mit ihren sozialen und ökologischen Verhältnissen immer unwirtlicher, unsozialer und unregierbarer werden, hält weiter an. In den meisten Ländern dieser Erde gibt es keine konzeptionellen Strategien für die Entwicklung der ländlichen Räume. Erst in jüngster Zeit entdecken die großen Institutionen für Entwicklungspolitik wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, dass eine gezielte Entwicklung ländlicher Räume von außerordentlicher Bedeutung für die Zukunft dieser Länder ist. Solche Entwicklungsstrategien bedürfen nicht nur einer gezielten und sinnvollen Förderung für die Weiterentwicklung der einheimischen Landwirtschaft – das allein ist zu wenig. Ländliche Räume, die ausschließlich von der Landwirtschaft geprägt werden, sind zwangsläufig äußerst dünn besiedelte Räume, in denen es auf Dauer keine entsprechende Infrastruktur wie Schulen, soziale Einrichtungen und all das, was der Mensch von heute braucht, in zumutbarer Entfernung gibt.

Die Aufgabe heißt also „eine integrierte ländliche Entwicklung und eine integrierte Dorfentwicklung gestalten“; anders gesagt: jeweils ganzheitliche Entwicklungsstrategien für einen Lebensraum, in dem Menschen mit unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten nach den Maßstäben ihrer Zeit und ihrer Region angemessen leben können.

Schlüsselfaktor für diese Entwicklung sind Arbeitsplätze in zumutbarer Entfernung. Dies kann nur durch eine sinnvolle Schwerpunktbildung gelingen, da nicht jede Gemeinde ein entsprechendes Angebot verwirklichen kann. Schwerpunktbildung erfordert überörtliches Denken, erfordert überörtliche Planung. Sie muss orientiert sein an den prägenden Entwicklungen der Wirtschaft, der Technik und der Gesellschaft, da das Land ja kein isolierter Bereich ist. Bei der Zukunftsstrategie für ländliche Räume spielt eine entsprechende Infrastruktur eine besonders wichtige Rolle. Dazu zählen die Verkehrsinfrastruktur, in der heutigen Zeit aber ganz besonders die notwendige technische Infrastruktur für die modernen Kommunikationsmittel, ebenso entsprechende Bildungseinrichtungen und notwendige soziale Einrichtungen.

III.

„Den ländlichen Raum“ gibt es nicht. Ländliche Räume sind in jedem Land sehr unterschiedlich geprägt, ebenso unterschiedlich sind die möglichen Entwicklungsstrategien und Handlungsfelder. Ländliche Räume, Umfeld und Ausstrahlungsbereich von Städten oder mit vorhandenen Industrieansiedlungen befinden sich in einer anderen Lage als Erholungsregionen und sind wiederum anders als solche Gebiete, die seit jeher stark landwirtschaftlich geprägt sind. Deshalb gibt es kein Einheitsrezept für die Entwicklung ländlicher Räume, vielmehr müssen für die unterschiedlichen Situationen auch die jeweils passenden und damit unterschiedlichen Strategien erarbeitet werden. In erster Linie geht es heute darum, das vorhandene „Potenzial“ zu fördern, etwa den vorhandenen Betrieben bei der Modernisierung zu helfen, damit den Anschluss an die Gesamtentwicklung zu sichern und dadurch auch die Arbeitsplätze zu erhalten.

Übergreifend sind freilich wohl einige Grundprägungen, die fast alle Regionen betreffen. Das gilt einerseits für die Auswirkungen der demografischen Entwicklung, also der Veränderung der Bevölkerungsstruktur mit einem immer höheren Anteil älterer Menschen mit einer noch nie da gewesenen Chance für einen dritten Lebensabschnitt nach dem Berufsleben, aber auch mit neuen Aufgaben und Gefährdungen. Insbesondere dünner besiedelte ländliche Räume werden gegenwärtig besonders geprägt durch diese veränderte Bevölkerungsstruktur, weil vor allem in diesen Regionen die Zahl der Kinder immer geringer wird. Andererseits gilt aber auch, dass alle damit verbundenen Gefährdungen wie z. B. Vereinsamung im ländlichen Raum besser aufgefangen werden können, weil in den überschaubaren Lebensräumen bürgerschaftliche Initiative und Entwicklung neuer sozialer Netzwerke weit mehr Chancen haben als im städtischen Raum. Das bürgerschaftliche Engagement, die Eigeninitiative der Bürger und die Verantwortung für die eigenen Lebensräume sind das stärkste Potenzial der ländlichen Räume. Dies zu fördern und zu unterstützen, ist daher auch eine besondere Aufgabe der Politik und der Verwaltungen, die mit diesen neuen Entwicklungen jedoch leider häufig noch nicht entsprechend zurechtkommen.

IV.

In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging es im Aufbruch der Industriegesellschaft um grundlegende Weichenstellungen und Entwicklungschancen. Jetzt sind wir insbesondere durch den weltweiten Wettbewerb um Arbeitsplätze, den immer härteren und intensiveren Wettbewerb um die aktive junge Generation und die Auswirkungen der demografischen Entwicklung wiederum in einer Phase wichtiger Weichenstellungen. Jetzt geht es darum, die Zeichen der heutigen Zeit, die Entwicklungstrends und die dabei gegebenen Handlungsspielräume neu zu erkennen, zu vermessen und mit den jeweiligen ländlichen Räumen entsprechende Zukunftsstrategien zu entwickeln. Niemand kann zaubern, niemand kann die prägenden Entwicklungen unserer Zeit ausschalten, aber die Handlungsspielräume sind meistens größer, als viele glauben – vorausgesetzt, man nimmt die Zeichen der Zeit wahr und handelt aktiv.