OWEP 3/2011
Schwerpunkt:
Ländliche Räume im Umbruch
Editorial
Wer heute in Deutschland das Zeitschriftensortiment studiert, findet zahlreiche farbenfrohe Produkte zum Thema „Ländliches Leben“. Vielfach wird darin eine Idylle gezeichnet, in der Wiese, Wald und Wasser als Voraussetzungen für ein gelungenes Leben vorgestellt werden und dem gestressten Großstadtbewohner zeigen, wo und wie er Entspannung findet. Krasser kann dann der Gegensatz kaum sein, den die Fernsehschirme immer wieder zeigen: riesige monoton bewirtschaftete Felder, großflächig abgeholzte Waldflächen, begradigte und artenarme Gewässer, verfallene Siedlungen. Solche Bilder finden sich nicht nur in der „Dritten Welt“, sondern auch in allen Teilen Europas, auch in vielen Regionen Deutschlands.
Natürlich lassen sich die Verhältnisse in Mitteleuropa nicht direkt mit Krisenregionen wie z. B. der Sahelzone in Afrika oder dem Amazonasbecken in Südamerika vergleichen. Dennoch gilt es festzuhalten: Weltweit befinden sich die ländlichen Regionen im Umbruch, und in der Regel werden sie im Vergleich zu den städtischen Zentren vernachlässigt; Strukturförderung kommt in erster Linie den Metropolen zugute, nicht der „Provinz“. Dies hat nicht nur für die Natur, sondern auch für die Kultur gravierende Folgen. Auch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa finden sich viele Beispiele dafür, wie der ländliche Raum vernachlässigt wurde, sich entvölkert hat und jahrhundertealte Traditionen gefährdet oder bereits untergegangen sind.
Das vorliegende Heft erörtert grundlegende Faktoren des ländlichen Strukturwandels und zeigt anhand konkreter Fallbeschreibungen aus Bulgarien, Polen, Serbien und Ungarn, wie die Menschen von den Veränderungen betroffen sind und damit umgehen. Auch die Kirche muss in der Seelsorge neue Wege beschreiten, um die Menschen zu erreichen, und diese Wege können, wie das Beispiel aus Russland zeigt, oft weit und mühselig sein, aber der Einsatz lohnt sich.
Die Redaktion
Kurzinfo
Die meisten Europäer des 21. Jahrhunderts haben ein zwiespältiges Verhältnis zu dem, was sich außerhalb ihres Wohnorts ausbreitet. Im Regelfall wohnt der „moderne“ Mensch in der Stadt oder zumindest im Umfeld einer städtisch geprägten Region, und das zwischen diesen Siedlungsschwerpunkten liegende „flache Land“, das oft relativ dünn besiedelt ist, kennt er nur noch als flüchtiger Durchreisender oder als gelegentlicher Urlaubsgast. Verloren gegangen ist weitgehend aber das Bewusstsein, dass das Land, die ländliche Siedlung, also das Dorf oder Gehöft Keimzellen der Besiedlung waren; in ihnen hat sich Sprache, Brauchtum, Tradition herausgebildet und dort, wo es diese Siedlungsformen trotz aller Abwanderung und Landflucht noch gibt, ist der ländliche Raum bis heute ein wesentlicher Träger von Überlieferungen, die in den städtischen Regionen verkümmert oder bereits ganz verschwunden sind.
Natürlich muss dieser sehr pauschale Befund in Europa von Land zu Land geprüft werden; viele Differenzierungen sind notwendig, um das komplexe Verhältnis von Stadt und Land angemessen zu beschreiben. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks zeigen sich jedoch ein Vierteljahrhundert nach der „Wende“ bei näherer Betrachtung ähnliche Phänomene wie im westlichen Europa: Verfall ländlicher Strukturen und Traditionen, oft einhergehend mit Umweltzerstörung, jedoch auch Beispiele einer Bewegung „zurück zur Natur“. Diesen Prozessen versucht das aktuelle Heft nachzugehen, wobei auch die Rolle der Kirche(n) in einigen Beiträgen vorgestellt wird. Mit Alois Glück, dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, eröffnet ein Autor die Reihe der Beiträge, der selbst wie kaum ein anderer deutscher Politiker immer wieder seine Wurzeln aus dem ländlichen Bayern betont und die Bedeutung des ländlichen Raumes für die Entwicklung von Kultur und Zivilisation herausgestellt hat. In einem kurzen Überblick äußert er grundlegende Gedanken zur Bedeutung der ländlichen Regionen im 21. Jahrhundert. Einen breiten Überblick über die strukturellen Veränderungen in Mitteleuropa vermittelt dann der Beitrag von Priv.-Doz. Dr. Karl Martin Born, Universität Münster; er beschreibt u. a. die historische Entwicklung, die Folgen der Transformation in Mittel- und Osteuropa und die Rolle der Europäischen Union (EU) für die Entwicklung einer neuen Agrarpolitik. Vertieft werden seine Überlegungen durch die Analysen von Dr. Judith Möllers und Prof. Dr. Thomas Glauben vom Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa in Halle. Vorgestellt werden anhand von Zahlen und Fakten die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, die Folgen des demografischen Wandels, das Verhältnis zwischen Land und Stadt und Schwerpunkte der EU-Politik.
Eine zweite Reihe von Beiträgen bietet Beispiele aus ländlichen Regionen mehrerer Länder mit unterschiedlichen Problemstellungen. András Koncz vom ungarischen katholischen Netzwerk HÁLÓ lenkt den Blick auf die entvölkerten Dörfer an der Grenze Ungarns zur Slowakei und zur Ukraine. Brauchtum und kirchliche Traditionen werden dort vielfach von katholischen Laien gepflegt. Der Politikwissenschaftler Tim Graewert schildert die Entwicklung in Bulgarien, das zwar auf eine reiche ländliche Tradition zurückblicken kann, jedoch bis heute unter den Folgen der kommunistischen Wirtschaftspolitik leidet, die manche Regionen gravierend geschädigt haben. Nationale und soziale Komponenten haben die Entwicklung Oberschlesiens geprägt und wirken bis heute in dieser Region Polens nach, wie der Historiker Marcin Wiatr belegt. Eine ganz besondere Entwicklung nahm seit 1945 das Kaliningrader Gebiet, das Dr. Elke Knappe vorstellt. Nach jahrzehntelanger Isolierung sucht die russische Exklave Anschluss an Westeuropa, hat jedoch mit den Folgen der Vernachlässigung des agrarischen Raumes zu kämpfen. Schließlich stellt der Historiker Nenad Stefanov die Entwicklung der Stadt Dimitrovgrad im Grenzland zwischen Serbien und Bulgarien und zeigt damit, wie fragwürdig nationale Trennlinien sind, die seit dem 19. Jahrhundert willkürlich gezogen wurden.
Wenn man über ländliche Räume im Osten Europas spricht, darf Russland nicht fehlen, auch wenn wegen der ungeheuren Größe des Landes Vergleiche mit anderen europäischen Ländern nur bedingt gezogen werden können. Gerade dort sind die Entfernungen größer, die Siedlungen klein und weit voneinander entfernt, was das Leben der Menschen nicht leicht macht. In einem Interview schildert der aus der Slowakei stammende Pater Karol Maria Mikloško das Leben der Menschen in der Gemeinde Alexejevka in der Nähe der Stadt Ufa. Der Geistliche ist dort nicht nur Seelsorger, sondern Ansprechpartner in vielen Fragen und Problemen des Alltags.
Anschließend wendet sich das Heft noch einmal Oberschlesien zu, jener zwischen Polen und Deutschland lange umstrittenen Regionen am Oberlauf der Oder. Unter der Rubrik „Reiseimpressionen“ werden Auszüge aus Werken von August Scholtis (1901-1969) und Horst Bienek (1930-1990) abgedruckt, die Land und Leute um 1870 und kurz vor der „Wende“ von 1990 lebendig werden lassen.
„Ländliche Entwicklung in Europas Regionen“ ist die Resolution überschrieben, die die Katholische Landvolkbewegung (KLB) bei einer Tagung im Oktober 2009 verabschiedet hat. Vertreter aus 18 europäischen Ländern legten darin einen Katalog von Forderungen für die Entwicklung des ländlichen Raumes im 21. Jahrhundert vor. Das Heft enthält den bisher unveröffentlichten Text im Wortlaut. Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu einigen neueren Veröffentlichungen.
Hingewiesen sei an dieser Stelle bereits auf den Schwerpunkt von OWEP 4/2011. Das Heft wird sich als Länderheft mit Bosnien und Herzegowina befassen.
Dr. Christof Dahm