Die „Antiwelt“ – Nachdenken über Pazifismus

aus OWEP 1/2024  •  von Juri Durkot

Der ukrainische Autor Juri Durkot, geboren 1965 in Lwiw, studierte Germanistik in Lwiw und Wien. Er ist als freier Publizist, Übersetzer und Produzent tätig. Für die Übersetzung des Romans "Internat" von Serhij Zhadan wurde er zusammen mit der Übersetzerin Sabine Stöhr 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Seit 2022 führt er für die Zeitung "Die Welt" ein Tagebuch aus Lwiw.

Zusammenfassung

Dem Pazifismus ist es bisher nicht gelungen, Kriege zu verhindern. Aber es ist schlimm, wenn nicht zwischen Gut und Böse unterschieden wird, zwischen dem Angreifer und dem Opfer, zwischen Freiheit und Sklaverei, zwischen Demokratie und Diktatur. Das lehrt auch die Geschichte.

Was darf Widerstand?

Einige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine fing der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch an, einen Text zu schreiben. Der deutsche Titel des Essays, der Ende November 2023 im Suhrkamp-Verlag im Sammelband „Der Preis unserer Freiheit“ erschienen ist, lautet: „Versklavter Wahnsinn: Die Antiwelt“. Er gibt zwar den Hauptgedanken des Verfassers ganz genau wieder, kann aber der versteckten Anspielung im ukrainischen Original nicht folgen. Dies ist auf keinen Fall der brillanten Übersetzung von Sabine Stöhr geschuldet, sondern vielmehr der Tatsache, dass Andruchowytsch sich auf einen Essay des polnischen Dichters und Nobelpreisträgers Czesław Miłosz bezieht, der auf Ukrainisch in etwa „Versklavter Verstand“ (oder, wenn wir das Wortspiel beibehalten wollen, „Versklavter Sinn“) heißt. Der deutsche Titel des Miłosz-Textes – „Verführtes Denken“ – klingt dagegen beinahe unschuldig.

Am Vorabend des russischen Überfalls antwortete Andruchowytsch, der nicht mehr im wehrpflichtigen Alter ist, auf die Frage eines polnischen Journalisten, ob er in die Armee eintreten würde, dass er sich eher einer Partisanengruppe anschließen könnte, um in den Bergen und Wäldern weiterzukämpfen. Waffen beschaffen und Widerstand leisten, selbst wenn es unmöglich wäre, aus der Stadt zu kommen.

„Aus der Deckung bis zum Letzten schießen – in deiner Straße, vor dem Haus, sie am Eingang niedermachen, oder aus dem Fenster, oder von der Schwelle, hinter einem Sandsack liegend. Die letzte Kugel für dich selbst, die vorletzte für deine Frau. Aber auch das ist wieder übertrieben – beide für dich, die vorletzte und die letzte. All das kam in Frage. Hauptsache, ihnen nicht lebendig in die Hände fallen. Hauptsache, ihre Folter, Anwerbeversuche, Filtration, Kastration nicht erleben müssen. Hauptsache, nicht erlauben, dass sie dich umerziehen!“

Ich weiß nicht, ob die deutschen – und die westlichen – Pazifisten diesen Text gelesen haben. Und wenn ja – ob sie die Gründe verstanden haben, warum Andruchowytsch sich so entschieden hätte. Ob sie vielleicht nicht den Eindruck hätten, es gehe um die emotionale und poetische Übertreibung eines verzweifelten Schriftstellers. Zugegeben, der Text ist tatsächlich sehr emotional gefärbt, aber Andruchowytsch will uns alle ausdrücklich noch einmal auf etwas aufmerksam machen, was seine Entscheidung, nicht in die Hände der Besatzer zu gelangen, geprägt hat. Es sind die geschichtlichen Erfahrungen mit der monströsen Gewalt, die Ukrainer, aber auch andere Osteuropäer, in der Vergangenheit bereits erlebt haben.

Mit einem einzigen Unterschied: Die Sowjetunion (oder Russland, mit dem diese immer gleichgesetzt wurde) negierte damals die nationale Identität der Osteuropäer nicht - seien es Polen, Tschechen, Esten oder Letten. Dabei bedeutete die Ankunft der Sowjettruppen überall und immer willkürliche Verhaftungen, Massenmorde, Folter und Deportationen. In einigen Ländern wie in Polen, zu dem damals die Westukraine und Westbelarus gehörten, oder in den baltischen Staaten geschah dies nach dem Hitler-Stalin-Pakt gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939. Also noch vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und den Schrecken der nationalsozialistischen Besatzung. Für andere bedeutete die Befreiung am Ende des Zweiten Weltkrieges, dass gleich eine neue sowjetische Besatzung folgte. Die Zahl der Ermordeten, Gefolterten, zu Tode Verhungerten, Deportierten und zur mörderischen Arbeit in den Arbeitslagern Verurteilten geht in die Hunderttausende oder gar in die Millionen. Der Westen schaute zu. Es war wieder Frieden im zerstörten Europa, aber man interessierte sich nicht wirklich für die Schicksale der armen Osteuropäer, die plötzlich in die Klauen eines anderen blutrünstigen Diktators geraten waren.

Mit den Ukrainern ist es nun nach dem brutalen Überfall eines modernen, vom Größenwahn und Obsessionen geprägten Diktators noch einmal anders. Im Putinschen Weltbild und in der Parallelwelt der Propaganda, von der die russische Gesellschaft längst unheilbar vergiftet zu sein scheint, gibt es die Ukraine und die Ukrainer als Nation einfach nicht. Wenn die Ukrainer anderer Meinung sind, dann müssen sie „umerzogen“ werden. Kein Wunder, dass ein Moskauer Radiojournalist von einem kleinen Gulag unter der sengenden Sonne der ukrainischen Steppe spricht, „für ukrainische Schullehrer, die es noch nicht gelernt haben, unsere wunderschöne Heimat zu lieben“. Ein anderer russischer Propagandist fordert gar, ukrainische Kinder in den Fluss zu werfen, wenn sie die russische Welt nicht akzeptieren wollten.

„Verrat der Intellektuellen“

Die Probleme vieler westlicher Intellektuellen fangen damit an, dass sie folgendes nicht bereit waren, anzuerkennen: Im Zweiten Weltkrieg hat man einen Massenmörder mit Hilfe eines anderen Massenmörders besiegt. Das mörderische Wesen des Stalinismus wurde im Westen vielerorts relativiert oder bagatellisiert. Es war ein Verrat an Osteuropa, ein „Verrat der Intellektuellen“, wie ihn der französische Philosoph und Schriftsteller Julien Benda schon einmal Ende der 1920er Jahren mit Blick auf den aufkommenden Nationalsozialismus beklagte. Das rächt sich bis heute.

Vor vielen Jahren war ich mit meinem Sohn zu Besuch in Berlin. Er war damals noch in der Grundschule, vielleicht sogar frisch eingeschult. Also etwa sieben oder acht. Es war am Abend spät geworden, das Kind war müde und schläfrig. Wir hatten aber beschlossen, ans Warschauer Tor zu fahren, um ein Stück Berliner Mauer zu sehen. Schon auf dem Hinweg schlief mein Sohn in der S-Bahn ein, sodass er die Mauer nur im Halbschlaf gesehen hat. Ich habe ihm erklärt, dass es die Sowjetunion war, die die Berliner Mauer errichten ließ, aber die Details ließ ich der Einfachheit halber weg. Es war nur ein kurzer Ausflug, und wir fuhren zurück ins Hotel. Einige Monate später fragte ihn jemand, ob er wisse, was die Sowjetunion gewesen sei. Es war eine spontane Frage, keine politische Diskussion. Mein Sohn sagte: „Ja, die Sowjetunion war böse.“ Die Erwachsenen waren verblüfft über die schnelle Antwort. „Warum?“ Seine Antwort: „Weil sie die Mauer erbauen ließ.“

Wir haben uns mit meinem Sohn nicht ausführlich über die Verbrechen des Kommunismus unterhalten, aber ein kleines Kind scheint intuitiv zu spüren, dass jemand, der Mauern baut, um Menschen darin einzusperren, böse sein muss.

Manche Pazifisten und andere Friedensstifter merken das offenbar nicht. Dabei geht es im Angriffskrieg gegen die Ukraine sogar um Morden und den Versuch, eine Nation auszulöschen. Trotzdem wollen manche Frieden um jeden Preis. Wäre das nicht wieder ein Verrat? Lernt man denn überhaupt nicht aus der Geschichte?

Ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, dass Gewalt abscheulich ist. Als Teenagern der späten 1970er und frühen 1980er Jahre war uns vielleicht nicht ganz klar, welches monströse Ausmaß die ungeheuerliche Gewalt im 20. Jahrhundert erreicht hat. Ich weiß nicht, ob es für einen Menschen, der im relativen Frieden lebt, überhaupt möglich ist, das zu begreifen. Über die Gräueltaten der Deutschen haben wir in der Schule gelernt. Über die Gräueltaten der Sowjets herrschte Schweigen. In den Familien wurde nur selten oder nur im Flüsterton darüber gesprochen. Über manche Dinge, wie den Holodomor in den 1930er, eher gar nicht.1 Galizien, das damals zu Polen gehörte, war von diesem Horror nicht betroffen.

Ich spielte nicht wie andere Kinder mit Waffen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich keine Spielzeugpistolen. Meine Eltern schenkten mir keine Panzer oder Maschinengewehre aus Plastik oder Holz zum Geburtstag. Ich spielte keine „Wojnuschka“ (Kriegchen) im Hof, wie die Kinder dieses Spiel nannten. In den älteren Schulklassen musste ich wie alle anderen ab und zu eine Kalaschnikow in die Hand nehmen, die wir im Militärunterricht auseinandernahmen und wieder zusammenbauten. Zu Weihnachten und Ostern wurden wir in die Schule beordert, wo wir in einer Schießbude mit einem Luftgewehr schossen. Eine perfide Erfindung sowjetischer Behörden, die den Schülern auf diese Weise Atheismus einbläuen wollten. In den Vergnügungsparks habe ich nie geschossen und somit auch nie ein Plüschtier als Preis gewonnen. Später, als ich erwachsen wurde und studierte, wurde ich wegen einer Sehschwäche als wehrdienstuntauglich eingestuft und nicht eingezogen. Somit blieb mir das Schicksal vieler junger Männer meiner Generation erspart, von denen nicht wenige in den sowjetischen Afghanistan-Krieg geschickt wurden.

Ich habe nichts gegen den Pazifismus als ethische Überzeugung, selbst wenn er noch keinen Krieg verhindert hat. Schlimm ist nur, wenn man nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, zwischen dem Angreifer und dem Opfer, zwischen Freiheit und Sklaverei, zwischen Demokratie und Diktatur.

Warum verlangen die Pazifisten und Vertreter der Friedensbewegung, dass der Westen keine Waffen mehr an die Ukraine liefert? Glauben sie tatsächlich, dass dadurch plötzlich ein gerechter Frieden einkehrt? Sehen sie nicht, dass er eher an einen Friedhofsfrieden erinnern würde? Es ist schlimm genug, dass man vor dem russischen Überfall die Warnrufe der Osteuropäer ignoriert hat und jeder, der dazu aufgerufen hat, die Ukraine auszurüsten, damit sie sich verteidigen kann, sofort als „Kriegstreiber“ abgestempelt wurde. Aber so etwas nach Butscha oder Isjum zu verlangen, wo Zivilisten auf brutale, unmenschliche Art und Weise gefoltert und ermordet wurden? Sie wurden in Massengräbern verscharrt oder einfach auf der Straße liegen gelassen. Wenn jemand tatsächlich glaubt, dass nach dem russischen „Sieg” oder einem faulen, von Russland aufgezwungenen „Kompromiss”, Folter, Mord und Entführungen in den besetzten Gebieten aufhören, dann sollte er nur die Geschichtsbücher aufschlagen.

Dort, wo die ukrainische Armee russische Besatzer vertreiben konnte, fand man nicht nur Massengräber und Folterkammern, sondern auch zurückgelassene Listen von Journalisten, Menschenrechtlern, Kulturschaffenden, proukrainischen Aktivisten oder ehemaligen Soldaten. Manche wurden getötet, andere sind spurlos verschwunden, und viele Überlebende wollen nicht über ihre grausamen Erfahrungen in russischer „Untersuchungshaft” berichten.

Vielleicht gibt es jetzt keine abenteuerlichen Vorschläge mehr so wie unmittelbar nach dem 24. Februar 2022. Damals hatte jemand den Ukrainern empfohlen, in weißer Kleidung mit weißen Friedensfahnen die Einfallstraßen in die großen Städte zu blockieren. Ich glaube nicht, dass man lange raten muss, wie das russische Militär darauf reagiert hätte. War es denn ein Fehler, dass die Menschen 1956 in Budapest und 1968 in Prag auch keine weiße Kleidung trugen? Oder die friedlichen Demonstrationen 2014 im Donbas, die niedergeschlagen wurden. Selbst 2022 haben Bewohner von Cherson am Anfang der russischen Besatzung noch versucht, friedlich dagegen zu demonstrieren. Mit der Zeit hat der russische Inlandsgeheimdienst FSB in der Tradition seines sowjetischen Vorgängers NKWD das Problem gelöst. Es lässt sich mit bloßen Händen kaum etwas gegen Terror ausrichten.

Warum verlangen Friedenskämpfer nicht stattdessen vom Angreifer, die Aggression zu beenden? Will man einen Frieden um jeden Preis, weil die Angst vor Russland so groß ist? Oder fühlen sich manche Friedensfreunde aus ihrer Komfortzone gerissen, weil die Fernsehbilder der russischen Raketenangriffe, die immer neue Menschenleben fordern, so grausam sind? Von den Folterungen gibt es keine Fernsehbilder. Es passiert im Stillen, ist aber für die Opfer nur noch grausamer.

Bis heute will die ungeheuerliche Grausamkeit – eine Art "Antiwelt", wie Andruchowytsch sie im Titel seines Essays bezeichnet – nicht verschwinden. Es reicht nicht, nur zum Frieden aufzurufen. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man steht. Sonst wird man selbst zum Teil der „Antiwelt”.


Fußnote:


  1. Der Begriff Holodomor (Tötung durch Hunger) steht für den Teil der Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er Jahren in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Dort fielen dem Hunger schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Die Ukraine bemüht sich seit der Unabhängigkeit 1991 um eine internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord und findet dafür zunehmend Unterstützung. ↩︎