Filmkunst in Polen als Ausdruck gesellschaftlicher Debatten
Zusammenfassung
Filme aus Polen sind in Deutschland nur vereinzelt bekannt. Dabei greifen sie wichtige Themen auf, sorgen im eigenen Land für kritische Debatten und finden in der Heimat ein großes Publikum. Auch der Streamingdienst Netflix hat das längst erkannt und produziert viele polnische Filme.
Schwaches Interesse an starken Filmen
Europa versteht sich als eine Wertegemeinschaft, die kulturelle Kontakte und intellektuellen Austausch fördert. Dabei spielen Filme eine bedeutende Rolle, ob nun im Kino, im Fernsehen und bei Streamingdiensten. Sie zeigen Lebensrealitäten in anderen Ländern, deren tragende Ideen, Identitäten und Konflikte. Will man die Beziehungen zum Nachbarland wirklich vertiefen, so sollte man den Befindlichkeiten der jeweiligen Gesellschaft näherkommen und sich deren Filme ansehen.
Die Rezeption polnischer Filme in Deutschland ist allerdings kaum entwickelt, denn in deutschen Kinos werden sie nur selten gezeigt, im Fernsehen noch weniger. Nur etwa fünfzehn abendfüllende Filmproduktionen aus Polen und etwa die gleiche Anzahl deutsch-polnischer Koproduktionen fanden in den vergangenen zehn Jahren einen deutschen Verleih. In der Regel verschwanden die Filme außerdem wieder schnell von der Leinwand. Dieses geringe Interesse steht im scharfen Gegensatz zu der Dynamik in der polnischen Filmbranche, wo es nach den Krisenjahren in den 1990er Jahren eine erfreuliche Entwicklung gibt, nicht nur bei der Anzahl produzierter Filme, sondern auch hinsichtlich ihrer Bedeutung und hohen Qualität. Die polnische Filmkunst hatte in der kommunistischen Zeit einen moralischen und politischen Anspruch, für den Regisseure wie Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi oder Krzysztof Kieślowski standen. Nach dem politischen Machtwechsel 1989/90 bahnten sich zunächst andere, populäre Genres den Weg in die Herzen des Publikums: Actionthriller, romantische Komödien und viele Historienfilmen. Daneben gab es allerdings auch immer wieder Filmproduktionen, die wichtige gesellschaftliche und politische Kontroversen zeigten, beziehungsweise sie in der Politik und Gesellschaft anstießen.
Das betrifft einige Filme, die sich mit Geschichte, Politik und Kirche in Polen beschäftigen. Internationale Erfolge feierten damit vor allem drei Regisseure: Agnieszka Holland, Małgorzata Szumowska und Paweł Pawlikowski. Der letztgenannte erhielt 2013 einen Oscar für Ida und 2018 den Europäischen Filmpreis für Cold War. Beide in schwarz-weiß gedrehten Filme tauchten tief in die polnische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte ein. Es ging dabei um persönliche Entscheidungen der Hauptfiguren, auf die die „große Geschichte“ Einfluss hatte.
Sehr aktuell war Agnieszka Hollands Spielfilm Green Border (2023), der auch in Deutschland in den Kinos gezeigt wurde. Obwohl es bekannt war, dass polnische Grenzpolizisten mit "push backs" versuchten, gegen irreguläre Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze vorzugehen, führte die polnische Filmpremiere des Films kurz vor den Parlamentswahlen im Oktober 2023 zu einem politischen Eklat. Die PiS-geführte Regierung bezichtigte damals die renommierte Regisseurin des Landesverrats und versuchte, Stimmung gegen sie und gegen die im Film porträtierten polnischen Aktivisten zu machen.
Der Film kritisierte nicht nur die polnische Regierung, er sollte auch die europäische Politik aufrütteln, die Migranten zwingt, sich der Willkür unmenschlicher Regime wie Belarus auszuliefern, wenn sie Wege nach Europa suchen. Der Aufschrei in Polen war groß, die politischen Fronten schienen verhärtet. Auch die Rezeption des Films verlief entlang der üblichen Trennlinien zwischen Konservativen und großstädtischen Linken, während die liberalen politischen Kräfte, die den Wahlkampf 2023 maßgeblich prägten, sich aus dem Streit etwas heraushielten.
Viele Menschenrechtsaktivisten hofften nach dem Machtwechsel in Polen, dass die neue Koalitionsregierung die Zustände an der Grenze schnell ändern würde. Sie wurden enttäuscht, denn die unter der liberalen Bürgerplattform geführte Regierung Tusk macht bisher keine Anstalten, die Politik zu ändern und Polens Grenzen zu öffnen. Die Kritik an dem Film hielt an. Ein Vorwurf lautete, dass sich Holland zu stark auf Bilder von Familien mit Kindern konzentriert habe, die aber nur eine Minderheit unter den Geflüchteten gebildet hätten. Junge Männer unter den Flüchtlingen würden dagegen stärker als Bedrohung der Sicherheitslage in Polen wahrgenommen.
Einige Stimmen, keine PiS-Anhänger übrigens, wie etwa der bekannte Schriftsteller Szczepan Twardoch, warfen dem aktivistischen Milieu Heuchelei vor, weil es angeblich zu einer saturierten Mittelschicht gehöre. Für sie habe die Einwanderung nach Polen vor allem Vorteile, denn sie bringe billige Arbeitskräfte mit sich, die dann in den Betrieben oder in den Haushalten der Reichen Arbeit fänden, so Twardoch.
Weniger Empathie habe die vermeintlich tolerante und weltoffene Mittelschicht allerdings gegenüber den Ängsten des Prekariats. Dabei seien es die Nicht-privilegierten, die mit den Einwanderern um preiswerten Wohnraum, Arbeitsplätze und andere knappe Ressourcen konkurrierten. Im Ausland wurde Holland für Green Border ganz anders gewürdigt: Sie erhielt ihre dritte Einladung nach Venedig zu den Filmfestspielen in den Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Sie wurde dort mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Weitere Festivaleinladungen und Filmpreise folgten sowie drei Nominierungen für den Europäischen Filmpreis 2023.
Rütteln an tabuisierten Themen
Einen besonderen Status genießen in Polen die Filme des Drehbuchautors und Regisseurs Wojciech Smarzowski. Sie sind in der Regel politisch unbequem und dazu treffsicher in ihrer Gesellschaftskritik. Kler (Klerus) von 2018 zeigte den Sitten- und Autoritätsverfall der polnischen Kirchenvertreter.
In dem Film geht es um die Geschichte von drei Freunden, die sich aus dem Priesterseminar kennen, deren Wege jedoch danach ganz unterschiedlich verlaufen. Dabei spricht der Regisseur Entwicklungen an, von denen in Polen zwar jeder weiß, die aber nicht offen beim Namen genannt werden. In dem Film wird einer der Kleriker des Kindesmissbrauchs bezichtigt. Ein anderer erfährt von seiner Geliebten, dass sie von ihm schwanger ist. Der dritte will, koste es, was es wolle, im Vatikan Karriere machen. Es ist typisch für Smarzowskis Filme, dass sich der Erzählstrang windet und sich manches Sichergeglaubte als Lüge erweist. Der Film beschäftigt sich damit, wie ernst die Betroffenen ihren Glauben nehmen. Es war zwar in der polnischen Öffentlichkeit längst bekannt, dass einige Priester sexuelle Kontakte mit Frauen eingehen und leibliche Kinder haben. Auch homosexuelle Beziehungen unter Klerikern sind nicht neu. Nun war die Zeit aber offenbar reif, sich öffentlich damit auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig wurden im Internet zwei Filmdokumentationen der Brüder Tomasz und Marek Sekielsk veröffentlicht, die sich mit Kindesmissbrauch durch Priester beschäftigen. Jahrzehntelang von Kirchenoberen gedeckt, konnten zahlreiche polnische Geistliche ihre Neigungen geheim halten und sich an Kindern vergehen, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen.
Doch die publikumswirksamen Filme machten die Affären bekannt und sorgten für einen Skandal, der auch die Kirche in die Verantwortung nahm. Inzwischen wurden vierzehn polnische Bischöfe angeklagt, Kindesmissbrauch in ihren Diözesen toleriert zu haben. Dabei wurden schwere Vorwürfe auch gegen Papst Johannes Paul II., als Karol Wojtyła in seiner Krakauer Bischofszeit, sowie dessen Sekretär und späteren Kardinal Stanisław Dziwisz laut. Die PiS und die ihr ergebenen Medien versuchten zunächst, die Amtskirche oder zumindest den Ruf des polnischen Papstes in Schutz zu nehmen. Aber sie kamen damit nicht durch.
Polen ist heute, auch in Folge des Missbrauchsskandals, das sich am schnellsten säkularisierende Land der katholischen Welt. Das spiegelt sich vor allem in der jungen Generation wider. Dass die katholische Kirche zu den Vorwürfen weiterhin schweigt, empfinden viele junge Leute heute als Skandal und gehen nicht mehr zum Gottesdienst. Noch mehr stören sie sich an den Positionen zum Schwangerschaftsabbruch. Der Smarzowski-Film hat auch die unchristliche Haltung der Bischöfe abgebildet, von deren Gutdünken das Wohlergehen der Gemeinden und deren Pfarrern abhängt, ihre verdorbenen Sitten, vulgäre Sprache, dunkle Geschäfte und vor allem ihre grenzenlose Geltungssucht. Der Film ist immer noch für deutsche Zuschauer auf Netflix zu sehen.
Mit der Kirche und ihrem traditionalistischen Weltbild setzt sich auch Jan Komasas Film Corpus Christi aus dem Jahr 2019 auseinander. Er erzählt die Geschichte des jungen Daniel, der sich, soeben aus der Jugendstrafanstalt entlassen, als Priester in einer Dorfgemeinde ausgibt.
Seine ungewöhnlichen Gebete, Riten und Predigten werden von den Einheimischen zunächst misstrauisch beäugt, bis er als Vertretungskaplan nach und nach akzeptiert wird. Dabei lässt er sich von den Ideen seines Gefängnispfarrers inspirieren, benutzt ungewöhnliche, oft derbe Sprüche, bricht die übliche Liturgie auf, bis er nach einer Fronleichnam-Prozession als falscher Priester auffliegt.
Der Film stellt die Frage, auf welche Weise der Mensch sich Gott nähern kann und was ihn dazu befähigt, andere auf diesem Weg zu begleiten. Daniel wird dabei zu einer unbequemen Christusfigur. Als ehemaliger Sträfling darf er nicht für das Priesteramt kandidieren. Daniels Schicksal lief im deutschen Kino und zu später Stunde im TV-Kanal Arte und ist weiter bei Netflix zu sehen.
Erwähnenswert ist auch der Film Kos (2023) des jungen Regisseurs Paweł Maślona, in dem eine Episode aus dem Leben des polnischen Generals und Nationalhelden Tadeusz Kościuszko (1746-1817) erzählt wird. Anders als auf den zahlreichen polnischen Denkmälern hat die filmische Hauptfigur wenig Heldenhaftes. Nach Erfahrungen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der jungen USA kehrt Kościuszko in seine von Russland bedrohte Heimat zurück, um den zu erwartenden Verlust der Unabhängigkeit abzuwenden. Der Film verfolgt eine andere Erzählweise als die in den Geschichtsbüchern: Der Wille des Adels, Polen als Land zu verteidigen, ist dort nicht vorhanden, strategisches Denken Mangelware. Dies zeigt sich, wenn symbolisch eine veraltete Pistole bei der Berührung gänzlich auseinanderfällt.
Ein bewaffneter Kampf der Bauern gegen die Russen kommt zwar auch zustande, ist aber eher ein Zufall als eine bewusste, weitreichende politische Entscheidung. Maślona räumt in Tarantino-Manier mit Actionszenen, schnellen Bildsequenzen und moderner Musik mit nationalen Mythen der Polen auf. Er lässt den russischen Kommandanten Dunin triumphieren, der sich wundert, wieso im Spruch „Gott, Ehre, Vaterland“ den Polen die Ehre wichtiger sei als das Vaterland: So müsse wohl Russland „immer wieder“ in Polen für Ordnung sorgen.
Maślonas Botschaft: Polen stand im Jahr 1794 einsam da, fremden Mächten schutzlos ausgeliefert, innerlich zerstritten ging das Land für 123 Jahre unter. Symbolisch fügt sich die Aussage des Films gut in die Diskussionen um die heutige europäische Bedrohungs- und Sicherheitslage durch Russland ein, denn Polen, das fest in die NATO und EU eingebunden ist, beweist, es besser als damals gemacht zu haben.
Die angeführten Filme zeugen von einer großen Lebendigkeit des polnischen Kinos der vergangenen Jahre. Es geht den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht aus dem Weg, sondern nennt die Probleme mutig beim Namen. Filmemachern wie Maślona, Smarzowski oder Komasa geht es dabei nicht um schnelles Geld oder eine kurzzeitige Sensation. Vielmehr ist in ihren Werken eine eigene, moralische Linie zu erkennen, die den Zuschauer nicht kalt lassen soll – unabhängig davon, ob sich dieser mit der Aussage des Filmes identifiziert oder nicht.
Das polnische Publikum dankt durch ein starkes Interesse: Mehr als fünf Millionen Zuschauer sahen Smarzowskis Klerus, 1,5 Millionen Corpus Christi. Auch Green Border sahen mehr als 400.000 Zuschauer in den ersten zehn Tagen und Kos in der gleichen Zeit rund 250.000 Personen. Dabei sind diese vier Filme nur die Spitze des Eisbergs bei den Produktionen der vergangenen Jahre. Der Streamingdienst Netflix hat übrigens die Zeichen der Zeit schon längst erkannt und lässt in Polen mit großem Erfolg viele eigene Serien und Filme produzieren, so Hohes Wasser, Im Sumpf, 1670, Freestyle. Manch einer dieser Filme könnte bald auch in Deutschland von sich hören und reden machen.