OWEP 3/2024

OWEP 3/2024

Schwerpunkt:
Leben mit Grenzen

Editorial

Die meisten Menschen verbinden Grenzen mit negativen Assoziationen. Sie stoßen an ihre Grenzen, bekommen sie aufgezeigt, müssen sie überwinden. Grenzen begrenzen das Alter, das Wachstum, ein Territorium oder das Leben als solches. Nur wenige Philosophen wie Immanuel Kant vermochten es, „allen Grenzen auch etwas Positives“ abringen zu können, die Begründung erschöpft sich meist in relativ abstrakten Gedankenspielen. Für gewöhnlich sind Grenzen für Menschen nur dann schön, wenn sie fallen, überwunden werden oder zur Unsichtbarkeit mutieren.

Das vorliegende Heft widmet sich konkreten Grenzerfahrungen von Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Der Autor Thomas Urban zeigt am Beispiel der Flüchtlingssituation an der polnisch-belarussischen Grenze auf, welche Konsequenzen politisches Kalkül für in Not geratene Menschen hat. Die Journalistin Nina Mayer beschreibt die Grenze zwischen Österreich und der Slowakei als Teil des Arbeitsalltags von Menschen, die auf der einen Seite wohnen und auf der anderen arbeiten. Wie existentiell Grenzen das Leben von Menschen prägen, vermittelt OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen in ihrem vor Ort recherchierten Beitrag über die willkürlich gezogene "Grenze" zwischen Südossetien und Georgien. Das Interview mit der Buchautorin Rebecca Maria Salentin weckt vor diesem Hintergrund Hoffnung, wenn sie von ihrer Fahrradtour entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs erzählt. Eine Grenzerfahrung in besonderer Weise an einer der einst massivsten Trennungslinien des 20. Jahrhunderts.

Grenzen kommen und gehen. Oder sie verschieben sich im Laufe der Geschichte, wie wir aus den Beiträgen über den Balkan oder Georgien erfahren. Aber selbst wenn sie verschwinden, hinterlassen sie Spuren. Mal in der Landschaft, zumeist aber in den Köpfen jener, die sie trennen oder die einst durch sie getrennt waren. Gerade die Geschichte Mittel-, Ost und Südosteuropas belegt eindrucksvoll, welchen Einfluss Grenzen und deren Eigenleben auf das Leben der Menschen haben. In der Vergangenheit und in der Gegenwart.

Die Redaktion

Inhaltsverzeichnis

162
Was Grenzen markieren
Hannes Krämer
170
Eine „Grenze“ in Bewegung
Gemma Pörzgen
180
Phantomgrenzen auf der Spur
Sabine von Löwis
187
Schmuggel und die Mauer aus Papier. Ein Gespräch mit der Geographin Judith Miggelbrink
Tamina Kutscher
192
Die polnische Ostgrenze als neuer Konfliktfall
Thomas Urban
201
Kennt Russland seine Grenzen?
Dmitry Kartsev
208
(Ver-)Störende Grenzen und der Alltag dazwischen
Nenad Stefanov
216
Grenzen als Hürden auf der Flucht. Ein Gespräch mit der Journalistin Khatereh Tawala Alemi
Gemma Pörzgen
221
Die Gefahren für den Schengen-Raum
Bernd Kasparek
228
Kittsee im Burgenland – Grenzort mit Zukunftspotential
Nina Mayer
231
Mit dem Drahtesel den Eisernen Vorhang entlang. Ein Gespräch mit der Autorin Rebecca Maria Salentin
Gemma Pörzgen
237
Weiterführende Lektüre
OWEP-Redaktion

Summary in English

Most people associate boundaries with negative connotations. They come up against their limits, are shown them, have to overcome them. Boundaries limit age, growth, a territory or life as such. Only a few philosophers, such as Immanuel Kant, have been able to „wring something positive out of all boundaries“; their reasoning is usually limited to relatively abstract intellectual games. For people, borders are usually only beautiful when they fall, are overcome or mutate into invisibility.

This issue is dedicated to the concrete border experiences of people in Central, Eastern and South-Eastern Europe. Using the example of the refugee situation on the Polish-Belarusian border, author Thomas Urban shows the consequences of political calculations for people in need. Journalist Nina Mayer describes the border between Austria and Slovakia as part of the everyday working lives of people who live on one side and work on the other. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen shows how existentially borders shape people's lives in her article about the arbitrarily drawn „border“ between South Ossetia and Georgia, which she researched on location. Against this backdrop, the interview with book author Rebecca Maria Salentin inspires hope when she talks about her cycle tour along the former Iron Curtain. A border experience in a special way on what was once one of the most massive dividing lines of the 20th century.

Borders come and go. Or they shift in the course of history, as we learn from the articles on the Balkans or Georgia. But even when they disappear, they leave traces. Sometimes in the landscape, but mostly in the minds of those who separate them or who were once separated by them. The history of Central, Eastern and South-Eastern Europe in particular provides impressive evidence of the influence that borders and their own lives have on people's lives. In the past and in the present.