OWEP 4/2023
Schwerpunkt:
Auf den Spuren großer Namen
Editorial
Prägt der Ort, an dem ein Mensch geboren wurde, auch seine Persönlichkeit? Vermutlich ist es nicht so sehr der Geburtsort, sondern eher der Kontext, in dem man aufwächst und die entscheidenden Jahre seiner Kindheit und Jugend verbringt – das muss ja nicht notwendig mit dem Geburtsort zusammenfallen. Doch den Ort seiner Geburt kann man nicht mehr ändern, er bleibt mit einem verbunden, bis hin zu seiner Nennung in der Sterbeurkunde.
In diesem Heft wollen wir den oft überraschenden mittel- und osteuropäischen Geburtsorten von bekannten Persönlichkeiten nachgehen. Unser Spektrum reicht dabei von der Antike bis in die Gegenwart – vom römischen Kaiser Konstantin, der nicht in Italien, sondern im heutigen Serbien geboren wurde, bis zum deutschen Schlagerstar Helene Fischer, die in Sibirien zur Welt gekommen ist. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihr Herkunftsort auch für ihr späteres Leben prägend war, selbst wenn sie dort nur relativ kurze Zeit verbracht haben.
Mit der Frage nach dem Geburtsort sind auch Themen wie Heimat, Zugehörigkeit oder Identität verbunden. Diese Begriffe sind im Unterschied zum Geburtsort nicht eindeutig, sondern sie können sich entwickeln und ändern. Zudem werden sie Menschen nicht selten von außen zugeschrieben und sind mit positiven oder negativen Vorurteilen verbunden, wie einige unserer Beispiele zeigen. Um die Hintergründe dieser Zusammenhänge zu verdeutlichen, haben wir auch zwei Beiträge ins Heft aufgenommen, die sich näher mit Herkunft und Wahrnehmung befassen.
Und noch ein Hinweis aus der Redaktion: Mit diesem Heft verabschieden wir unser Redaktionsmitglied Prof. Dr. Thomas Bremer, der seit der Gründung dieser Zeitschrift in der Redaktion mitgearbeitet hat und jetzt in den Ruhestand getreten ist. Wir danken ihm sehr herzlich für seinen langjährigen Einsatz und für seine Mitarbeit! Mit dem nächsten Heft wird Dr. Regina Elsner, Theologin und Orthodoxiespezialistin aus Berlin, in die Redaktion eintreten – wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihr!
Die Redaktion
Inhaltsverzeichnis
"Das Leben ist manchmal auch anderswo“ – Herkunft und Ankunft
Iris Wolff
Herkunftsorte werden zu Referenzräumen des Schreibens, weil sie verlorene Orte und Möglichkeitsräume sind. Dann wiederum können sie zum Mittelpunkt eines literarischen Werks werden, weil sie nie verlassen wurden.
Places of origin become reference spaces for writing because they are lost places and spaces of possibility. Then again, they can become the centre of a literary work because they have never been abandoned.
Das verlorene Haus. Marc Chagall und sein Witebsk
Viktor Martinowitsch
Was wäre die Odyssee, hätte Odysseus keinen Ort gehabt, an den er hätte zurückkehren können? Das Haus ist der Ort, den der Held nach seinen Taten wieder und wieder aufsuchen will, der Ort, von dem er die Freier verjagt, die seine Gemahlin belagern. Was, wenn es dieses Haus nicht gibt? Was, wenn die Beziehung zum Heimatland, zur Heimatstadt zum größten Drama seines Lebens geworden ist? Kann ein Baum ohne Wurzeln wachsen? Und sind Menschen Bäume? Nicht auszuschließen, dass der wurzellose Mensch nicht verdorrt, sondern zu fliegen beginnt. Genauso scheint es Chagall ergangen zu sein. Einem getreuen Sohn seines verlorenen Hauses.
What would the Odyssey be if Odysseus had had no place to return to? The house is the place that the hero wants to return to again and again after his deeds, the place from which he chases away the suitors who are besieging his wife. What if this house does not exist? What if his relationship with his homeland, his home town, has become the greatest drama of his life? Can a tree grow without roots? And are people trees? It cannot be ruled out that the rootless human being does not wither but begins to fly. That seems to be exactly what happened to Chagall. A faithful son of his lost house.
Wem gehört der Erfinder Nikola Tesla?
Thomas Bremer
Die Frage, welche Nationalität der berühmte Erfinder und Elektrophysiker Nikola Tesla hatte, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Er war Sohn serbischer Eltern, die in Smiljan, einem kleinen Ort im heutigen Kroatien lebten. Deshalb erheben Serbien und Kroatien Anspruch auf ihn. Dabei emigrierte Tesla bereits als junger Mann nach New York und verbrachte dort als amerikanischer Staatsbürger den größten Teil seines Lebens. Auch seine Erfindungen und Patente meldete er in den USA an. In der Erinnerung an ihn spiegeln sich wichtige Grundzüge der serbisch-kroatischen Probleme, die bis heute andauern.
The question of the nationality of the famous inventor and electrophysicist Nikola Tesla is the subject of much controversy. He was the son of Serbian parents who lived in Smiljan, a small town in what is now Croatia. Serbia and Croatia therefore lay claim to him. Tesla emigrated to New York as a young man and spent most of his life there as an American citizen. He also registered his inventions and patents in the USA. The memory of him reflects important features of the Serbian-Croatian problems that continue to this day.
Helene Fischer und die drei Fäden ihrer Herkunft
Merle Hilbk
Die Sängerin Helene Fischer gehört heute zu den Superstars im deutschen Schlagergeschäft. Die Russlanddeutsche kommt aus dem sibirischen Krasnojarsk, über das sie immer wieder sagt, es sei ihre Heimatstadt. Dabei war sie vier Jahre alt, als sie mit der Familie aussiedelte.
The singer Helene Fischer is now one of the superstars in the German pop music business. The Russian-German comes from Krasnoyarsk in Siberia, which she always says is her home town. Though she was four years old when she emigrated with her family.
Wenn man aus Frankfurt am Main oder aus Frankfurt an der Oder kommt. Ein Gespräch mit dem Autor Dirk Oschmann
Gemma Pörzgen
Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann ist ein Bestseller. Seine Thesen über die Benachteiligung der Ostdeutschen finden viel Zustimmung, ernten aber auch viel Kritik. OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen sprach mit dem Autor über die Bedeutung von Herkunft und Geburtsorten im vereinten Deutschland.
The book „The East: a West German invention“ by Leipzig literary scholar Dirk Oschmann is a bestseller. His theories on the disadvantages faced by East Germans find a lot of approval, but have also been widely criticised. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke to the author about the significance of origin and birthplaces in a united Germany.
Madeleine Albright: Weltpolitik mit Prager Wurzeln
Miroslav Kunštát
Madeleine Albright war unter Präsident Bill Clinton die erste Frau an der Spitze des US-Außenministeriums. Geboren wurde sie 1937 in Prag und ging mit ihrer Familie nach dem kommunistischen Putsch ins US-amerikanische Exil. Die mitteleuropäische Herkunft prägte sie als Diplomatin und Politikerin, besonders als sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die weitere Entwicklung maßgeblich mitgestalten konnte. Eine große Rolle spielte dabei ihre Freundschaft zum tschechischen Bürgerrechtler und späteren Präsidenten Václav Havel.
Madeleine Albright was the first woman to head the US State Department under President Bill Clinton. She was born in Prague in 1937 and went into exile in the US with her family after the communist coup. Her Central European background shaped her as a diplomat and politician, especially when she was able to play a key role in shaping further developments after the collapse of communism. Her friendship with Czech civil rights activist and later President Václav Havel played a major role in this.
Kaiser Konstantin der Große und Niš
Rastko Jović
Dass der römische Kaiser Konstantin am Ende des 3. Jahrhunderts in der Stadt Naissus, dem heutigen Niš in Serbien, geboren wurde, ist nur wenig bekannt. Dabei gehörte er zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des frühen Christentums. Nach Jahrzehnten strenger Verfolgung gewährte Konstantin den Christen im Römischen Reich Glaubensfreiheit und bekannte sich gegen Ende seines Lebens auch selbst zum Christentum. Die Verlegung der Hauptstadt des Reiches von Rom in die nach ihm benannte Stadt Konstantinopel, heute Istanbul, und seine Sorge um die Einheit der christlichen Kirche sind weitere Merkmale seiner Herrschaft.
It is little is known that the Roman Emperor Constantine was born in the city of Naissus, now Niš in Serbia, at the end of the 3rd century. Yet he was one of the most important personalities of early Christianity. After decades of severe persecution, Constantine granted Christians in the Roman Empire freedom of belief and also professed Christianity himself towards the end of his life. The relocation of the capital of the empire from Rome to the city of Constantinople, which was named after him and is now Istanbul, and his concern for the unity of the Christian church are further characteristics of his reign.
Frédéric Chopins Musik und die polnische Heimatliebe
Marek Frysztacki
Frédéric Chopin (1810 – 1849) ist der wohl bekannteste polnische Komponist. Seine Musik wird von vielen Menschen in der Welt geliebt und geschätzt. Schon zu seinen Lebzeiten war er für die Menschen in Polen ein nationales Symbol und galt als fortschrittlicher Künstler, der den formalen Kanon der Musik veränderte und die Kunst des Klavierspiels neu definiert hat. Seine Musik wurde als Ausdruck der polnischen Identität und des Widerstandsgeistes gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft verstanden.
Frédéric Chopin (1810 - 1849) is probably the most famous Polish composer. His music is loved and appreciated by many people around the world. Even during his lifetime, he was a national symbol for the people of Poland and was regarded as a progressive artist who changed the formal canon of music and redefined the art of piano playing. His music was seen as an expression of Polish identity and the spirit of resistance against oppression and foreign rule.
"Noch'n Gedicht" – Der Komiker aus Riga
Gemma Pörzgen
Dass der Komiker Heinz Erhardt aus Riga stammt, ist kaum bekannt. Auch in der lettischen Hauptstadt erinnert heute wenig an ihn, außer einer Stadtführung. Dabei war der Kabarettist sein Leben lang seiner Heimatstadt eng verbunden.
It is hardly known that the comedian Heinz Erhardt came from Riga. Even in the Latvian capital, there are few reminders of him today, apart from a guided tour of the city. Yet the cabaret artist was closely connected to his hometown throughout his life.
Czernowitz – Stadt der Dichterinnen und Dichter
Martin Treml
Zwei der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts kommen aus Tscherniwzi, einer Stadt in der heutigen Ukraine, die von der jüdischen Tradition ebenso geprägt ist wie von ihrer österreichischen Vergangenheit. Nur unter Einbeziehung dieser versunkenen Welt kann das Werk von Rose Ausländer und Paul Celan verstanden werden.
Two of the most important German-language poets of the 20th century come from Chernivtsi, a city in present-day Ukraine that is characterised by its Jewish tradition as well as its Austrian past. The work of Rose Ausländer and Paul Celan can only be understood by taking this lost world into account.
Ein Kölsche Jung aus Gliwice
Thomas Urban
Lukas Podolski, mittlerweile 38 Jahre alt, ist nach wie vor weltweit einer der bekanntesten Fußballer. Sowohl in Köln, wo seine große Karriere begann, als auch in seiner Geburtsstadt Gleiwitz in Oberschlesien wird er nicht nur wegen seiner Ballkünste, sondern auch wegen seines sehr direkten Humors als „unser Junge“ verehrt. Zu Gleiwitz, das er als Kleinkind verließ, hat er ein besonderes Verhältnis bewahrt.
Lukas Podolski, now 38 years old, is still one of the best-known soccer players in the world. Both in Cologne, where his great career began, and in his native town of Gliwice in Upper Silesia, he is adored as „our boy“ not only because of his ball skills, but also because of his very direct sense of humour. He retained a special relationship with Gliwice, which he left as a small child.
Summary in English
Does the place where a person was born also shape their personality? It is probably not so much the place of birth, but rather the context in which you grow up and spend the crucial years of your childhood and youth – this does not necessarily have to coincide with the place of birth. However, you can no longer change the place of your birth, it remains connected to you, right up to being named on your death certificate.
In this issue, we want to explore the often surprising Central and Eastern European birthplaces of well-known personalities. Our spectrum ranges from antiquity to the present day – from the Roman Emperor Constantine, who was not born in Italy but in what is now Serbia, to the German pop star Helene Fischer, who was born in Siberia. What they all have in common is that their place of origin had a formative influence on their later lives, even if they only spent a relatively short time there.
The question of place of birth is also linked to themes such as home, belonging and identity. Unlike the place of birth, these concepts are not unambiguous, but can develop and change. In addition, they are often attributed to people from the outside and are associated with positive or negative prejudices, as some of our examples show. In order to clarify the background to these connections, we have also included two articles in the magazine that take a closer look at origin and perception.