Der Weg Ungarns in der aktuellen Krise. Ein Gespräch mit Erzabt Imre Asztrik Várszegi OSB
Im Spätsommer und Herbst 2015 war Ungarn ein Brennpunkt der Flüchtlingskrise in Europa. Christof Dahm stellte dazu einige Fragen an Imre Asztrik Várszegi OSB, Erzabt der ungarischen benediktinischen Territorialabtei Pannonhalma, die zum vorübergehenden Zufluchtsort für viele Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Westeuropa wurde.
Die Flüchtlingswelle, die über die Balkanroute Richtung Westeuropa rollt, hat in vielen europäischen Staaten zu Ängsten geführt. Auch in Ungarn sind die Menschen verunsichert. Die Regierung hat einen Grenzzaun zu Serbien errichten lassen, was die Regierungen in Westeuropa, aber auch viele Bürger empört hat. Es hat aber auch in Ungarn viele Menschen gegeben, die den Flüchtlingen spontan geholfen haben. Wie beurteilen Sie das Verhalten Ihrer Landsleute in dieser Krise? Stehen die meisten Ungarn hinter der Politik der Regierung, die die Grenzen abriegelt und die Flüchtlinge nicht im Lande haben möchte?
Momentan gibt es kein akutes Flüchtlingsproblem in Ungarn. In den Lagern Bicske und Vámosszabadi halten sich Flüchtlinge auf, die inzwischen gut versorgt werden. Ungarns Bevölkerung, besonders engagierte Christen aller Konfessionen, haben in ökumenischer Zusammenarbeit den ganzen Sommer über viel für diese armen Menschen getan. Es gab zahlreiche spontane Hilfsaktionen, egal ob am Ostbahnhof in Budapest oder auf dem Weg in Richtung Österreich.
In Ungarn, aber auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas sind viele Menschen verunsichert, weil mit den Flüchtlingen Menschen einer fremden Kultur zu ihnen kommen. Die meisten von ihnen sind Muslime. Viele Europäer fürchten sich vor dem Islam und einer möglichen „Islamisierung“ des Abendlandes. Wie beurteilen Sie dies im Blick auf Ungarn?
Ungarn leidet, was den Islam betrifft, unter einem historischen Trauma. Seit dem 16. Jahrhunderts war die Mitte des Landes für 150 Jahre Teil des Osmanischen Reich. Es ist nicht leicht für die Menschen, das zu vergessen. Die Angst, unsere Sprache und unsere christliche Kultur zu verlieren, besteht unter den Menschen weiterhin. Man spricht immer wieder darüber, die Verteidigung der Grenzen sei in Ordnung, jedoch müsse der Schutz der Flüchtlinge im Vordergrund stehen. Ungarn ist klein, wir können die Flüchtlingsfrage nicht alleine, sondern nur in Zusammenarbeit mit allen EU-Ländern lösen. Die Einwohner Ungarns haben spontan und direkt geholfen – wenn jemand vor unserer Tür liegt oder verfolgt wird, müssen wir helfen, wir dürfen nicht wegschauen.
Von der Erzabtei Pannonhalma wurde aktiv Hilfe für die Flüchtlinge geleistet. Können Sie beschreiben, wie die Situation war und was genau getan wurde? Angeblich gab es auch Drohungen gegen Sie. Wie sind Sie damit umgegangen?
Unser Kloster hat eine historische Tradition im Hinblick auf Flüchtlingsaufnahme. In der Neuzeit haben wir schon französische Nonnen beherbergt, die in der Französischen Revolution aus Frankreich vertrieben worden waren, dann viele Juden, Soldaten und Frauen zur Jahreswende 1944/1945, nach der ungarischen Revolution 1956 Revolutionäre, die vor ihren Genossen auf der Flucht in Richtung Österreich waren.
Die Erzabtei Pannonhalma liegt 22 Kilometer von der Autobahn entfernt. Gute Freunde haben eine 18köpfige Familie aus Győr bei Regenwetter zu uns gebracht. Wir haben für sie Zimmer, Duschen und Verpflegung bereit gestellt; das wiederholte sich dann noch zweimal mit je einer größeren und einer kleineren Familie. Die Flüchtlinge wurden dann nach Österreich gefahren.
Die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, war eine gemeinsame Entscheidung unserer Gemeinschaft. Die jungen Mitbrüder waren sehr hilfsbereit und aktiv. Sie helfen den Flüchtlingen bis heute im Lager Vámosszabadi.
Die Medien wollten unsere Bereitschaft als politische Heldentat gegen die Politik der Regierung in Budapest darstellen. Wir haben uns aber mit der Tagespolitik gar nicht beschäftigt, vielmehr haben wir haben so gehandelt, wie es die Situation verlangt hat. Gegen mich gab es übrigens keine Bedrohungen – diese in den Nachrichten gebrachte Mitteilung war falsch.
Die Europäische Union befindet sich in einer schweren Krise der Solidarität. Was können Ihrer Ansicht nach die Kirchen dazu beitragen, damit diese Krise überwunden wird?
Wichtig ist es vor allem, das gegenseitige Verständnis zu fördern und zu helfen, wo es notwendig ist. Die Kirche kann trotz ihrer geringen Mittel viel tun. In der jetzigen Situation braucht man eine schnelle und kluge politische Entscheidung, denn die Gefahr, einander gegenseitig zu zerstören, ist groß.