Vergangenheits- und Erinnerungspolitik in den baltischen Staaten

aus OWEP 3/2023  •  von Eva-Clarita Pettai

Dr. Eva-Clarita Pettai, geboren 1971 in Berlin, ist Studienleiterin an der Europäischen Akademie Schleswig-Holstein und Redakteurin des „Cultures of History Forum“ am Imre Kertész Kolleg der Universität Jena. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin und forschte viele Jahre an den Universitäten von Tartu und Jena über Geschichtspolitik und „transitional justice“ im Baltikum.

Zusammenfassung

Mehr als 30 Jahre nachdem Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit wiedererlangt haben und ein erster Denkmalsturm im Zuge der „Dekommunisierung“ stattgefunden hatte, erleben die drei Länder nun eine nochmalige Säuberung des öffentlichen Raums von den sichtbaren Zeugnissen und Erinnerungsorten aus fünfzig Jahren sowjet-kommunistischer Herrschaft.

Abriss sowjetischer Kriegsdenkmäler

Im Frühjahr 2022, nur wenige Wochen nachdem der russische Präsident Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine eskalierte und das Land überfiel, beschlossen die Parlamente der drei baltischen Staaten Gesetzesvorhaben, nach denen hunderte Kriegsdenkmäler aus der Sowjetzeit abgerissen oder an andere Orte verlegt werden sollten – teilweise mit den dazugehörigen Grabstätten für gefallene sowjetische Soldaten. Mit dem Abriss der sowjetischen Kriegsdenkmäler erlebte die Erinnerungspolitik im Baltikum den vorerst letzten Höhepunkt einer dreißigjährigen Geschichte, die von heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen weit über die Grenzen dieser drei Staaten hinaus geprägt ist. Diese Geschichte beginnt mit der Suche nach historischer Wahrheit über die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939, die völkerrechtswidrige Annexion der drei baltischen Staaten durch die Sowjetunion 1940 oder auch die Massenverbrechen an der Zivilbevölkerung des Baltikums unter Stalin. Doch es ist auch eine Geschichte, in der die politische, rechtliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der sowjetischen Verbrechen und die Erinnerung an die Opfer nicht möglich war, ohne sich auch mit den Verbrechen der Nazi-Zeit auf baltischem Territorium zu befassen, vor allem mit der Vernichtung fast der gesamten jüdischen Bevölkerung der drei Länder an der Ostsee unter teilweise aktiver Mitwirkung ihrer nichtjüdischen Nachbarn.

Für viele Balten war diese Erkenntnis schmerzhaft, nicht immer wurde sie akzeptiert. Von Beginn an war es nicht allein die Aufgabe lokaler Historiker, Politiker und Bürger, die Aufarbeitung und Erinnerung an fünfzig Jahre Fremdbestimmung und Unrecht zu gestalten und voranzutreiben. Tatsächlich kamen die Impulse dafür häufig von außen, von Vertretern westlicher Regierungen oder internationaler Opferverbände, die forderten, sich stärker auf die Zeit des Nationalsozialismus zu fokussieren, und kritisierten, dass die Erinnerungskultur in den baltischen Staaten einseitig sei. Oder es kam Kritik von russischen Politikern, die den ehemaligen Sowjetrepubliken sogar Geschichtsfälschung vorwarfen.

Schritte der Aufarbeitung

Wenngleich die Geschichte der drei baltischen Staaten im 20. Jahrhundert sehr ähnlich verlief und auch die politische Transformation sowie die europäische Integration der vergangenen dreißig Jahre viele Parallelen aufweisen, so gibt es doch auch entscheidende historische, soziologische und politische Unterschiede. Vor allem Litauen ging einen anderen Weg als die beiden nördlichen Nachbarn. Das beginnt mit der sogenannten Vilnius-Frage, denn die Stadt gehörte in der Zwischenkriegszeit zu Polen und wurde 1940 durch die Sowjetunion an Sowjet-Litauen gegeben. Außerdem war der bewaffnete Widerstand der Litauer in der unmittelbaren Nachkriegszeit weitaus schlagkräftiger als in den Nachbarländern.

Der stärker litauisch geprägten kommunistischen Parteiführung gelang es zudem, die massive Einwanderung sowjetischer Arbeiter aus dem Rest der Sowjetunion zu verhindern. Dass die KP in der Bevölkerung stärkere Legitimität besaß, zeigte sich auch 1993 in der Wiederwahl der inzwischen sozialdemokratisierten Ex-Kommunisten – in Estland oder Lettland wäre das zu der Zeit undenkbar gewesen. Diese Unterschiede wirkten sich auf die erinnerungspolitischen Diskurse der vergangenen 30 Jahre aus, aber auch auf die juristische und administrative Verfolgung vergangenen Unrechts.

Mit Blick auf die Aufarbeitung und die erinnerungspolitischen Debatten in den drei baltischen Staaten seit 1991 sind drei Phasen der Entwicklung zu unterscheiden:

Opfer und Täter-Debatten (1991-2005)

Im Rückblick erscheint die erste Phase der Demokratisierung und der Vorbereitung des EU-Beitritts für all jene, die sich damals für Demokratie und eine offene Gesellschaft engagierten, als goldene Zeit – trotz der heftigen sozioökonomischen und politischen Turbulenzen. Es war eine Zeit, in der neue Institutionen und Verträge im Sinne von Menschenrechten und internationaler Verständigung abgeschlossen wurden, in der eine kritische Öffentlichkeit entstand und internationales Knowhow in die Länder an der Ostsee strömte, das gierig aufgenommen wurde. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev und sein US-Kollege Stephen Holmes beschrieben diese Zeit später als „Age of Imitation“ – man wollte im Osten so sein, wie man glaubte, dass der Westen sei.

In Bezug auf die Vergangenheitspolitik war diese Zeit vor allem von dem Bedürfnis geprägt, die sowjetischen Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung während und nach dem Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten. Die großen Massenverbrechen der Stalinzeit wurden in allen drei baltischen Staaten früh als nicht verjährbare, international anerkannte Straftaten klassifiziert. Das machte es möglich, letzte noch lebende Mitglieder der sowjetischen Geheimpolizei (NKWD), die an den stalinistischen Verbrechen der 1940er und frühen 1950er Jahre beteiligt waren, noch strafrechtlich zu verfolgen. Seit Ende der 1990er Jahre wurde rund zwanzig über 80jährigen Männern wegen der Beteiligung an den Massendeportationen der 1940er Jahre der Prozess gemacht.

Einige von ihnen wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. In Lettland gelang es, einen Präzedenzfall zu schaffen, indem ein ehemaliger Angehöriger der Sowjetarmee für Kriegsverbrechen verurteilt wurde, die er an den Einwohnern eines kleinen Dorfes im östlichen Lettland begangen hatte. Der Fall „Kononov versus Latvia“ war hochumstritten, stellte er doch das „Nürnberger Prinzip“ in Frage, nachdem Mitglieder der Siegermächte im Zweiten Weltkrieg Straffreiheit genossen. Der Fall endete schließlich vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wo das Urteil bestätigt wurde. In Litauen wurden zudem zahlreiche Männer (und wenige Frauen) wegen der Beteilung am Genozid angeklagt und auch verurteilt. Ihnen war nachgewiesen worden, dass sie an Erschießungen und Verhaftungen von anti-sowjetischen Partisanen beteiligt gewesen waren. Diese Rechtsprechung ist sowohl politisch wie auch juristisch umstritten, da sie die gängige Definition von „Genozid“ im internationalen Recht deutlich erweitert hat und damit in Frage stellt. Doch auch diese Urteile wurden vom EGMR bestätigt.

Erinnerungspolitik aus der Opferperspektive

Neben der juristischen Aufarbeitung der schlimmsten Verbrechen des Sowjetregimes im Baltikum war diese erste Phase von einer Erinnerungspolitik geprägt, die darauf abzielte, die Opfer der stalinistischen Verbrechen anzuerkennen. Unter sowjetischem Strafrecht Verurteilte wurden rehabilitiert, Gedenktage für die Opfer wurden gesetzlich an den Tagen der großen Deportationen im Kalender verankert, die Namen und Schicksale von Deportierten und Verschollenen wurden erforscht und veröffentlicht. Gedenkstätten und Museen wurden eingerichtet, Opferverbände halfen Individuen, den staatlich anerkannten Opferstatus zu erhalten. Das half ihnen, medizinische Hilfe und andere soziale Vorteile zu erhalten.

Viele dieser Maßnahmen und öffentlichen Gedenkrituale fanden vor dem Hintergrund eines mangelhaften historischen Faktenwissens statt. Die Forschung konnte erst mit der Öffnung der Archive 1991 allmählich Fahrt aufnehmen, um die Namen von Opfern und Tätern sowie eine Rekonstruktion der Geschehnisse beizubringen. Hinzu kam, dass viele wichtige Dokumente in Moskauer Archiven lagen und nur begrenzt zugänglich waren. Deshalb kam es in den 1990er Jahren immer wieder zu teils heftigen Kontroversen über die richtige Interpretation von Ereignissen und eine „korrekte“ Form des Gedenkens, die oft noch von alten Mythen und Propagandalügen gespeist waren.

Der Vorwurf, der den jungen Demokratien in diesen Jahren gemacht wurde, bezog sich stets auf den aus der Sicht westlicher Regierungen und jüdischer Opferverbände nicht ausreichenden Willen der baltischen Regierungen, sich juristisch und moralisch mit der Ermordung ihrer jüdischen Bevölkerungen während der deutschen Besatzungszeit auseinanderzusetzen. Die strafrechtliche Verfolgung ehemaliger lettischer und litauischer Nazi-Kollaborateure, die teilweise noch im westlichen Exil lebten, wurde angemahnt. Dass die Aufarbeitung nur schleppend lief und die eigene Opferrolle in der Sowjetzeit überbetont wurde, stieß auf Kritik. In Russland wurde die alte sowjetische Propagandaerzählung von den „baltischen Nazi-Kollaborateuren“ weiterverbreitet und mit dem Vorwurf verbunden, die im Baltikum lebenden „Russen“ würden auch heute weiter diskriminiert.

1998 griffen schließlich die drei Präsidenten Lennart Meri, Guntis Ulmanis und Valdas Adamkus ein und beriefen in ihren Ländern jeweils international besetzte historische Kommissionen ein. Ihre Aufgabe war es, die historische Faktenbasis zu klären und dabei sowohl die deutsche als auch die sowjetische Besatzung in den Blick zu nehmen. Auch wenn diese Kommissionen im Laufe des folgenden Jahrzehnts vor allem in Lettland und Litauen oft selbst Gegenstand heftiger öffentlicher Kontroversen wurden, so trugen sie doch wesentlich dazu bei, die Debatten auf eine stärker forschungsbasierte Grundlage zu stellen.

Vielen im Baltikum erschien die Kritik aus dem Westen an der baltischen Aufarbeitung totalitärer Herrschaft ungerecht und einseitig. Nicht selten wurde die Forderung, den Holocaust und die lokale Beteiligung daran historisch aufzuarbeiten, als Desinteresse interpretiert, sich mit den sowjetischen Verbrechen an baltischen Zivilisten zu beschäftigen. In der Tat war unter den internationalen Mitgliedern der drei besagten Kommissionen kaum einer, der sich durch Forschung zu sowjetischen Verbrechen im Baltikum hervorgetan hatte. Das Thema wurde den baltischen Kollegen überlassen. Diese Schieflage auch der westlichen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen spiegelt in vielerlei Hinsicht Wissenslücken über die Vorgänge östlich des Eisernen Vorhangs wider, die aus dem Kalten Krieg stammen. Das ist aber auch im größeren Kontext europäischer Erinnerungsdiskurse zu sehen, in denen der Holocaust seit den 1980er Jahren eine zentrale Rolle spielte. Das daraus resultierende „Nie wieder“ war zu einem der Gründungsmythen der europäischen Integration geworden. Die baltischen Staaten mit ihrer Geschichte wechselnder totalitärer Fremdbestimmung – wobei die sowjetische länger dauerte und von der Mehrheit der Bevölkerungen als traumatischer wahrgenommen wurde als die NS-Besatzung – stellten diese zentrale Rolle der Erinnerung an den Holocaust im europäischen Gedächtnis in Frage.

Erinnerung und Geopolitik (2005 bis 2014)

Um die Mitte der 2000er Jahre änderte sich etwas, das wieder in erster Linie mit Ereignissen außerhalb des Baltikums zu tun hatte: Der Aufstieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Auswirkungen seiner aggressiver werdenden Geschichtspolitik auch gegenüber den baltischen Staaten.

Zentral für Putins Herrschaftsanspruch war von Beginn an die alte sowjetische Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“. Es kam zu einer zunehmenden Glorifizierung des Sieges der Sowjetunion und der Befreiung Europas, was vielen Russen in den Turbulenzen der 1990er Jahre ein starkes Identifikationsangebot machte. Eigentlich war der 9. Mai, der für die Sowjets das Ende des Zweiten Weltkriegs markierte, lange vor allem ein Tag des Gedenkens an die enormen Opfer des deutschen Angriffs- und Vernichtungskriegs in der Sowjetunion. Unter Putin wurde er zu einem Feiertag, an dem vor allem der glorreichen Helden der Sowjetarmee gedacht wurde. Es wurde von nun an ein Bild des Sowjetregimes gezeichnet, in dem die Opfer Stalins immer mehr in den Hintergrund traten, das Militärische und das Nationale dagegen in den Vordergrund.

Zum 60. Jahrestag des „glorreichen Siegs über den Faschismus“, wie es nun wieder hieß, hatte Putin 2005 alle Staats- und Regierungschefs der westlichen Welt eingeladen, die Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau gemeinsam abzunehmen. Tatsächlich nahmen die meisten Geladenen diese Einladung an und wurden damit Teil einer großen russischen Propagandashow militärischer Stärke. Bei den ebenfalls geladenen baltischen Präsidenten hatte die Einladung großes Unbehagen ausgelöst. Sie zögerten ihre Zusage mit der Begründung hinaus, dass das Kriegsende für ihre Völker keine Befreiung gewesen sei. Schließlich blieb nur die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga dem Ereignis fern und nutzte die Gelegenheit, ihre Abwesenheit mit einer breit angelegten Kampagne zu verbinden, in der sie alle Staats- und Regierungschefs über ihre Motive für die Absage und die historischen Zusammenhänge in ihrem Land informierte. Sie erntete dafür viel Verständnis, doch hatte es bisweilen den Anschein, als würde sich so mancher Politiker zum ersten Mal darüber klar werden, dass die Befreiung Europas von den Nationalsozialisten nicht für alle Völker des Kontinents eine Befreiung dargestellt hatte.

EU als neuer institutioneller Rahmen

Im Rückblick ist der 9. Mai 2005 tatsächlich als geschichtspolitischer Marker zu verstehen, der den Beginn einer allmählichen Verschiebung baltischer und gesamteuropäischer Debatten anzeigt – weg von den erinnerungspolitischen Kontroversen über die deutsche Besatzungszeit und den Holocaust im Baltikum hin zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Geschichte der sowjetischen Verbrechen jenseits des Eisernen Vorhangs. Diese Verschiebung fand mit dem Beitritt der drei baltischen Staaten in die EU im Mai 2004 vor einem neuen institutionellen Hintergrund statt. Die Vollmitgliedschaft eröffnete baltischen Erinnerungsakteuren neue transnationale Foren und Instrumente, um über ihre eigenen historischen Erfahrungen aufzuklären und um über Deutungshoheiten zu streiten. Gleichzeit entwickelte sich die Geschichtspolitik in Russland zunehmend aggressiv und revisionistisch. Das hatte in den baltischen Staaten, vor allem in Lettland und Estland, unmittelbare Auswirkungen.

Dort verfing die von Moskau propagierte Heldenerzählung über den Großen Vaterländischen Krieg bei vielen russischsprachigen Bürgern, die in beiden Staaten rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.

Im April 2007 wurde dies besonders deutlich: Es kam zu Massenprotesten und gewaltsamen Ausschreitungen, an denen sich in den Straßen von Tallinn überwiegend russischsprachige junge Leute beteiligten. Sie reagierten damit auf die Verlegung eines von den Sowjets 1947 in der Tallinner Innenstadt errichteten Denkmals, den „Bronzesoldat“, der an die Befreiung der Stadt erinnerte. Später stellte sich heraus, dass unter den Protestierenden auch gezielt nach Estland eingeschleuste Provokateure der damals recht aktiven, Putin-treuen russischen Jugendorganisation „Naschi“ waren. Zeitgleich mit den später als „Bronzenächte“ in die Geschichte des Landes eingegangenen Ereignissen wurden estnische Ministerien und Banken des Landes Ziel von Cyberangriffen, die einige offizielle Webseiten lahmlegten. Auch hier konnte der Ursprung der Angriffe in Russland verortet werden.

Für die NATO waren die Cyberangriffe auf das Mitgliedsland ein Weckruf. Sie etablierten den Begriff der „hybriden Kriegsführung“ und sorgten dafür, dass Gegenmaßnahmen verstärkt wurden.

Mit den gezielten Provokationen aus dem Kreml und seiner geschichtsrevisionistischen Propaganda, die über russische Fernsehkanäle auch in viele Wohnzimmer im Baltikum verbreitet wurde, wurden die bereits vorhandenen Gegensätze in der Geschichtsdeutung noch stärker zum Politikum und prägten die Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerungen. In der lettischen Hauptstadt Riga kam es von nun an am 9. Mai regelmäßig zu öffentlichen Gegendemonstrationen am Siegesdenkmal. Die Politik reagierte darauf mit immer neuen Gesetzen, mit denen sie die öffentliche Erinnerung an die Stalinzeit einzuschränken versuchte und dadurch die Meinungsfreiheit einschränkte. So wurde das Zeigen sowjetischer Symbole (sowie des Hakenkreuzes) in der Öffentlichkeit in allen drei Staaten verboten. Weitere sogenannte Erinnerungsgesetze stellten öffentliche Äußerungen, die die Massenverbrechen des kommunistischen Regimes verharmlosen, relativieren oder gar rechtfertigen, unter Strafe. Es kam vereinzelt zu Anzeigen und Gerichtsverfahren.

Doch diese Form der „Erinnerungsgesetzgebung“ zeigte vor allem die Nervosität der Politik gegenüber einem nur schwer zu kontrollierenden Phänomen, nämlich identitätsstiftenden, historischen Narrativen. Gerechtfertigt wurden die teilweise sehr unklar formulierten Gesetze oft damit, dass das Andenken der Opfer des Stalinismus bewahrt und geschützt werden müsse. Auch sollte die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden, und man wollte gegen Hassrede vorgehen.

Die strittige Rolle der „nationalen Partisanen“

Während die verstärkte Fokussierung auf die Sowjetverbrechen in Estland und Lettland vor allem die ethnopolitische Dimension des Erinnerns in den Vordergrund schob, hatte sie in Litauen etwas andere Ausrichtungen. Hier stand weniger das Verhältnis zwischen Mehrheitsbevölkerung und relativ kleiner russischer Minderheit im Mittelpunkt erinnerungspolitischer Konflikte als vielmehr ein weitgehend innerlitauischer Streit um die Erinnerung an die „nationalen Partisanen“ der Nachkriegsjahre. Diese waren bald nach dem Wiedererlangen der Unabhängigkeit zu „Freiheitskämpfern“ und „nationalen Helden“ erklärt worden. Darum hatte es schon früher Konflikte gegeben, denn die offizielle Geschichtsschreibung unterschlug bisweilen, dass einige dieser Männer zuvor aktiv mit den Nazis kollaboriert hatten und auch an antijüdischen Pogromen und Mordaktionen beteiligt gewesen waren.

Bis heute tut sich Litauen schwer, einen differenzierenden Umgang mit den als Helden verehrten Partisanen der Nachkriegsjahre zu finden. Die wachsenden Sicherheitsbedenken seit 2014 fanden dabei Widerhall. Die Verehrung der Partisanen als „Freiheitskämpfer“ nimmt in den vergangenen Jahren eher noch zu und erhält eine militärische Dimension, wenn die Partisanen offiziell zu Vorläufern und Vorbildern der heutigen litauischen Armee erklärt werden.

Die „Sekurisierung“ der sowjetischen Erinnerung (2014 bis heute)

Mit der Annexion der ukrainischen Krim durch Russland und der russischen de facto-Kriegsbeteiligung im Donbas trat auch die geschichtspolitische Entwicklung im Baltikum in eine neue Phase ein. Der Euromaidan im Winter 2013/14 wurde in den baltischen Staaten mit großer Sympathie begleitet. Umso schockierender war für baltische Beobachter die widerrechtliche Okkupation der Krim, die sie an die Besetzung des Baltikums durch die Sowjetarmee im Juni 1940 erinnerte.

Erinnerungspolitisch verschärften die Ereignisse in der Ukraine den Ton im Baltikum. Vor allem in Litauen und Lettland wurden die Erinnerungsgesetze noch strikter gefasst. Estland und Lettland erweiterten die Beschränkungen rund um die Gedenkfeiern am 9. Mai. Dabei kam ihnen ab 2020 auch die Pandemie entgegen, die es erlaubte, größere Ansammlungen von Menschen zu untersagen. Zudem beschlossen die Regierungen beider Staaten, eigene öffentlich-rechtliche Kanäle in russischer Sprache zu schaffen. Sie sollten als Gegenangebot zum russischen Staatsfernsehen dienen, das von vielen russischsprachigen Einwohnern gesehen wird.

Die erinnerungspolitischen Debatten im Baltikum standen zunehmend unter sicherheitspolitischen Vorzeichen. In der Fachliteratur wird von der „Sekurisierung der Erinnerung“ gesprochen, bei der die Regierungen in der russischen Minderheit und der von ihr praktizierten Erinnerungskultur ein Sicherheitsrisiko sehen, das es einzudämmen gilt. Der Angriffskrieg auf die Ukraine bestätigte diese Sichtweise, die nun auch von weiten Teilen der liberalen, politischen Akteure im Baltikum geteilt wird. Die Gesetzgeber schreckten nicht mehr davor zurück, in die Medien- und Pressefreiheit einzugreifen. Sie entzogen russischen Staatsmedien im Baltikum die Lizenzen, blockierten Onlineplattformen und entfernten zudem die noch verbliebenen Orte des Erinnerns an den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg in allen drei Ländern.

Im Schatten dieser Ereignisse und der voranschreitenden „Militarisierung“ der Erinnerung gegenüber Russland vollzog sich auf dem anderen großen „Schlachtfeld der Erinnerung“– der Erinnerung an den Holocaust – eine Wende hin zu mehr Dialog und Inklusion. In Litauen wurde dies an der enormen Popularität von Büchern deutlich, die sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzten – auch mit den von Partisanen begangenen Verbrechen oder ihrer Verstrickung in den Holocaust während der deutschen Besatzungszeit.

In Lettland zeigte sich ein Wandel unter anderem in einer zivilgesellschaftlichen Initiative, die dem routinierten, offiziellen Gedenken einen inklusiveren Ton geben wollte. Seit 2016 werden jedes Jahr im Dezember am Freiheitsdenkmal in Riga Kerzen aufgestellt und der Opfer des Holocaust gedacht unter dem Motto „Es waren die Unseren, es schmerzt“. Es mögen kleine Schritte mit relativ wenigen Beteiligten sein, doch sind sie Anzeichen dafür, dass die abwehrende Haltung gegenüber kritischen Fragen und die oft antagonistische, an ethnischen Linien verlaufende Erinnerungskultur der ersten Jahrzehnte allmählich aufbricht und einem inklusiveren Erinnern Platz macht – zumindest in Bezug auf die Geschichte des Holocaust.

Schlussbemerkung

Man kann sicher darüber streiten, inwiefern das Entfernen der sowjetischen Kriegsdenkmäler die interethnischen Beziehungen verschlechtert oder ob sie die erinnerungspolitischen Schlachten der vergangenen 30 Jahre befrieden werden. Nachdem der Bronzesoldat auf den Soldatenfriedhof am Rande Tallinns verlegt wurde, ist dort ein neuer Erinnerungsort für viele russischsprachige Esten entstanden. Sie pilgern am 9. Mai dorthin, um der Gefallenen des Großen Vaterländischen Kriegs zu gedenken. Estland hatte, anders als Lettland, nach 2007 nie wieder größere Konflikte rund um den 9. Mai. Das lag auch daran, dass einige Vertreter der estnischen Politik bemüht waren, an den Gedenktagen auf dem Friedhof zu sprechen und sie dadurch anzuerkennen. Der offizielle Gedenktag für das Ende des Zweiten Weltkrieges wird in allen drei Staaten seit 1991 wie in Westeuropa üblich am 8. Mai gefeiert.

Hunderte von sowjetischen Kriegsdenkmälern wurden in den drei Ländern entfernt, nur einige von ihnen auf Friedhöfe verlegt, wo sie weiterhin besucht werden können. In den meisten Fällen wurden sie in Museen überstellt oder ganz abgerissen. Darüber hinaus gibt es weitere Maßnahmen, etwa in der Sprach- und Bildungspolitik, die von der russischsprachigen Bevölkerung als extrem russophob wahrgenommen werden. Dazu zählen unter anderem die jüngsten Sprachgesetze für russischsprachige Schulen.

Vieles deutet deshalb darauf hin, dass der Umgang mit den Denkmälern darauf abzielt, die Erinnerung der Minderheit zum Schweigen zu bringen. Die Erfahrung zeigt, dass das nicht funktionieren wird, denn die tief liegenden Konflikte können so nicht gelöst werden. Sie haben oftmals weniger mit der Vergangenheit und viel mehr mit der Gegenwart und Zukunft zu tun.