OWEP 3/2023
Schwerpunkt:
Estland, Lettland, Litauen
Editorial
Das Baltikum lag lange im Schatten der Aufmerksamkeit. Dabei erstritten Estland, Lettland und Litauen sich nach dem Ende der Sowjetunion mutig ihre Unabhängigkeit. Schon seit 2004 sind die drei baltischen Staaten Mitglieder der Europäischen Union und der NATO. Dennoch blieb ihre politische Stimme im Konzert der Großmächte oft ungehört.
Spätestens seit der Ausweitung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine 2022 ist das völlig verändert. Die baltischen Staaten sind verstärkt in den Mittelpunkt des außen- und sicherheitspolitischen Interesses in Europa gerückt. Das politische Gewicht der Regierungen in Riga, Tallinn und Vilnius hat deutlich zugenommen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat angekündigt, zusätzliche 4.000 Bundeswehrsoldaten nach Litauen zu schicken, um die Ostflanke der NATO zu stärken. Viele Gründe, die ganze Region stärker in den Blick zu nehmen.
Diese Themenausgabe widmet sich den drei baltischen Staaten aus verschiedenen Perspektiven: Die Historiker Karsten Brüggemann und Ralph Tuchtenhagen erkunden in ihrem Einführungsbeitrag kulturelle und historische Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland beleuchtet der lettische Sicherheitsexperte Toms Rostoks. Die estnische Journalistin Maris Hellrand beschreibt das freiwillige Engagement vieler Bürger in der Bürgerwehr.
Wie die orthodoxen Kirchen in den baltischen Staaten sich vom Moskauer Einfluss zu lösen versuchen, beschreibt der Religionswissenschaftler Sebastian Rimestad. Einen Blick auf die Erinnerungspolitik bietet Eva-Clarita Pettai.
Weitere Themen im Band sind das besondere Verhältnis zum Wald in den drei Ländern, die Beziehungen zwischen Litauen und Belarus, das Singen als baltische Lebensart sowie die Geschichte der Deutschbalten. OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen reiste zu Recherchen nach Riga, das zum wichtigsten Fluchtort für russische Journalisten und Medien geworden ist.
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Die Redaktion
Inhaltsverzeichnis
Die baltischen Staaten – eine historische Region
Karsten Brüggemann und Ralph Tuchtenhagen
Estland, Lettland und Litauen sind seit 2004 Mitglieder der Europäischen Union. Sie werden oft verallgemeinernd als „baltische Staaten“ bezeichnet – ein Begriff, der auch in die Sprachen der drei Länder eingegangen ist. Was steckt aber hinter diesem Konstrukt? Welche historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede gilt es zu berücksichtigen?
Estonia, Latvia and Lithuania have been members of the European Union since 2004. They are often generalised as the „Baltic States“ – a term that has also entered the languages of the three countries. But what is behind this construct? What historical and cultural similarities, what differences need to be taken into account?
Alexander Welscher
Der Wald nimmt im Leben der Menschen in Estland, Lettland und Litauen einen hohen Stellenwert ein. Die Liebe zum Wald verbindet trotz aller Unterschiede. Denn Bäume prägen die Kultur aller drei Länder sehr stark. Auch wirtschaftlich ist der Wald bedeutsam: Mit Holz wird viel Geld verdient. Trotzdem wird dem Wald nicht immer nur Gutes getan.
The forest takes a high priority in the lives of people in Estonia, Latvia and Lithuania. The love of the forest unites them despite all the differences. Trees have a strong influence on the culture of all three countries. The forest is also important economically: a lot of money is earned with wood. Nevertheless, the forest is not always treated with kindness.
Die baltischen Staaten und Russlands Krieg gegen die Ukraine
Toms Rostoks
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben die baltischen Staaten die Regierung in Kiew von Anfang an militärisch, wirtschaftlich und politisch unterstützt. Außenpolitisch hat sich die Zusammenarbeit mit den westlichen Partnern intensiviert. Jüngste Wahlergebnisse zeigen, dass die Bevölkerung diesen Kurs unterstützt. Zurückhaltung gibt es aber bei den russischsprachigen Minderheiten.
After the Russian attack on Ukraine, the Baltic states supported the government in Kiev militarily, economically and politically from the beginning. In foreign policy, cooperation with Western partners has intensified. Recent election results show that the population supports this course. However, there is reticence among the Russian-speaking minorities.
Bei der Bürgerwehr in Estland steigen die Mitgliederzahlen
Maris Hellrand
Kaitseliit heißt der Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, der vom Verteidigungsministerium finanziert wird. Dort lassen sich Bürger freiwillig militärisch ausbilden, um die reguläre Armee im Ernstfall zu unterstützen. Seit die Ausweitung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine auch im Baltikum das Gefühl der Bedrohung verstärkt, findet auch die estnische Bürgerwehr immer mehr Zulauf. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist ohnehin groß.
Kaitseliit is the name of the Estonian Armed Forces Volunteer Association, which is financed by the Ministry of Defence. There, citizens voluntarily undergo military training to support the regular army in case of emergency. Since the expansion of the Russian war of aggression in Ukraine has also increased the feeling of threat in the Baltic States, the Estonian vigilante group is also becoming more popular. The approval of the population is high anyway.
Vergangenheits- und Erinnerungspolitik in den baltischen Staaten
Eva-Clarita Pettai
Mehr als 30 Jahre nachdem Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit wiedererlangt haben und ein erster Denkmalsturm im Zuge der „Dekommunisierung“ stattgefunden hatte, erleben die drei Länder nun eine nochmalige Säuberung des öffentlichen Raums von den sichtbaren Zeugnissen und Erinnerungsorten aus fünfzig Jahren sowjet-kommunistischer Herrschaft.
More than 30 years after Estonia, Latvia and Lithuania regained their independence and a first monument storm took place in the course of „decommunisation“, the three countries are now experiencing a renewed cleansing of public space of the visible testimonies and memorials from fifty years of Soviet communist rule.
Erinnerung an die Deutschbalten. Ein Gespräch mit dem Diplomaten Hagen Graf Lambsdorff
Gemma Pörzgen
Der Diplomat Hagen Graf Lambsdorff war 1991 der erste Botschafter in Riga nach dem Ende der Sowjetunion. Seine Ernennung war damals auch von besonderer Bedeutung, weil er aus einer deutschbaltischen Adelsfamilie stammt und mit dieser Tradition aufwuchs. Seine Vorfahren wanderten zu Beginn des 15. Jahrhunderts ins Baltikum aus. Sie waren Teil der eingewanderten deutschsprachigen Minderheit, die in Estland und Lettland über Jahrhunderte großen Einfluss hatte. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 kamen 700 Jahre deutsch-baltische Geschichte an ihr Ende, und die Deutschbalten wurden vom Hitler-Regime umgesiedelt. Über die Tradition der Deutschbalten sprach in Berlin mit Graf Lambsdorff OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.
The diplomat Hagen Graf Lambsdorff was the first ambassador in Riga after the end of the Soviet Union in 1991. His appointment was also of special significance at the time because he comes from a German-Baltic noble family and grew up with this tradition. His ancestors emigrated to the Baltic States at the beginning of the 15th century. They were part of the immigrant German-speaking minority that had great influence in Estonia and Latvia for centuries. With the Hitler-Stalin Pact in 1939, 700 years of German-Baltic history came to an end, and the Baltic Germans were resettled by the Hitler regime. OWEP Editor-in-Chief Gemma Pörzgen spoke with Graf Lambsdorff in Berlin about the tradition of the Baltic Germans.
Nachbarschaftshilfe für Belarus im Zeichen der Zukunft
Ingo Petz
Litauen unterstützt kompromisslos die belarussische Opposition – und das nicht erst seit den Protesten in Belarus 2020. Für viele Belarussen, die vor den Repressionen in ihrer Heimat fliehen mussten, aber auch für wichtige Strukturen der unabhängigen belarussischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Opposition ist die litauische Hauptstadt Vilnius zu einer neuen Heimat und Wirkungsstätte geworden.
Lithuania uncompromisingly supports the Belarusian opposition – and not only since the protests in Belarus in 2020. For many Belarusians who had to flee the repression in their homeland, but also for important structures of the independent Belarusian civil society, economy and opposition, the Lithuanian capital Vilnius has become a new home and place of activity.
Singen als baltische Lebensart. Ein Gespräch mit dem lettischen Chordirigenten Ints Teteroviskis
Gemma Pörzgen
Große Liederfeste sind in allen drei Baltenrepubliken wichtige Höhepunkte des Kulturlebens. Die Gesangstradition ist alt und tief verwurzelt. Erste Gesangvereine nach dem Vorbild der deutschen Liedertafeln gründeten Deutschbalten und führten in Riga schon 1836 ein erstes Sängerfest durch, im Jahr 1857 auch in Tallinn. Begründet wurde diese Tradition der großen Sänger- und Liederfeste im Jahr 1869, als in Dorpat (Tartu) das erste estnische Liederfest stattfand. Über die bis heute lebendige Traditionspflege sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen in Riga mit dem bekannten, lettischen Chordirigenten Ints Teteroviski.
Large song festivals are important highlights of cultural life in all three Baltic republics. The singing tradition is old and deeply rooted. The first singing societies, modelled on the German Liedertafeln, were founded by Baltic Germans and held their first singing festival in Riga as early as 1836, and in Tallinn in 1857. This tradition of large song festivals was established in 1869, when the first Estonian song festival was held in Dorpat (Tartu). OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke with the well-known Latvian choral conductor Ints Teteroviski in Riga about the tradition, which is still alive today.
Die Kirchen im Baltikum und ihre Positionen zum Krieg in der Ukraine
Sebastian Rimestad
In den baltischen Staaten ist die Religiosität allgemein sehr gering. Eine Ausnahme bilden die orthodoxen Kirchen, die traditionell eng mit der russischen Orthodoxie verbunden sind. Dass der russische Patriarch Kyrill den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigt, bedeutet für die orthodoxen Kirchen im Baltikum eine Herausforderung, auf die sie unterschiedlich reagiert haben.
In the Baltic states, religiosity is generally very low. The Orthodox churches, which are traditionally closely linked to Russian Orthodoxy, are an exception. The fact that the Russian Patriarch Kyrill justifies the war against Ukraine means a challenge for the Orthodox churches in the Baltic States, to which they have reacted differently.
Riga als Heimat russischer Exilmedien
Gemma Pörzgen
Seitdem immer mehr russische Journalisten und ganze Redaktionen ins Exil gehen, um weiter unabhängig berichten zu können, wird Riga zum neuen Medien-Standort. Die lettische Hauptstadt ist vielen vertraut, preiswerter als andere Städte in Europa und hat für Exiljournalisten einiges zu bieten.
Since more and more Russian journalists and entire editorial teams are going into exile in order to be able to continue reporting independently, Riga is becoming the new media location. The Latvian capital is familiar to many, cheaper than other cities in Europe and has a lot to offer exiled journalists.
Summary in English
For a long time, the Baltic States were in the shadow of attention. Yet Estonia, Latvia and Lithuania courageously fought for their independence after the end of the Soviet Union. The three Baltic states have been members of the European Union and NATO since 2004. Nevertheless, their political voice often remained unheard in the concert of the great powers.
At the latest since the expansion of the Russian war of aggression against Ukraine in 2022, this has changed completely. The Baltic states have increasingly become the focus of foreign and security policy interest in Europe. The political weight of the governments in Riga, Tallinn and Vilnius has increased significantly. German Defence Minister Boris Pistorius has announced that he will send an additional 4,000 Bundeswehr soldiers to Lithuania to strengthen NATO's eastern flank. Many reasons to focus more on the whole region.
This thematic issue is dedicated to the three Baltic states from different perspectives: In their introductory article, historians Karsten Brüggemann and Ralph Tuchtenhagen explore cultural and historical similarities, but also differences. Latvian security expert Toms Rostoks sheds light on the support for Ukraine in the war against Russia. The Estonian journalist Maris Hellrand describes the voluntary engagement of many citizens in vigilante groups.
The religious scholar Sebastian Rimestad describes how the Orthodox churches in the Baltic states are trying to break away from Moscow's influence. Eva-Clarita Pettai offers a look at the politics of remembrance.
Other topics in this issue are the special relationship to the forest in the three countries, the relationship between Lithuania and Belarus, singing as a Baltic way of life and the history of the Baltic Germans. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen travelled to Riga, which has become the most important place of refuge for Russian journalists and media, for research.