Epochenschwelle?
Auszug aus der Predigt zur Jahresschlussandacht 2015 im Hohen Dom zu Mainz (Quelle: http://www.bistummainz.de/bistum/bistum/kardinal/index.html?f_action=show&f_newsitem_id=51894)
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Europa macht bei diesen Herausforderungen eine jämmerliche Figur. Wir haben besonders die Europäische Union dabei im Blick. Waren schon die wirtschaftlichen Probleme in den letzten Jahren trotz vieler Erfolge durch die Einführung des Euro ernüchternd, so zeigen sich jetzt unverblümt fundamentale Risse in dem Grundgefüge nicht bloß der Euro-Länder. Viele sind auf den fahrenden Zug Europa weitgehend aus wirtschaftlichen Erwägungen aufgesprungen. Sie hatten eine Besserung ihrer ökonomischen und finanziellen Verhältnisse im Blick, aber waren sie auch bereit, gemeinsame Aufgaben mitzutragen, wenn man dabei primär der Geber und nicht der Empfänger ist, vielleicht sogar einmal Opfer bringen muss? Jetzt zeigt sich, dass man weitgehend von solchen egoistischen Interessen ausgegangen ist, weniger von dem, was uns von der gemeinsamen Geschichte und dem geistigen Erbe sowie den ethisch-religiösen Werten trägt. Gewiss, auch Verfassungsgrundsätze stehen zunächst auf dem Papier. Aber spätestens heute müssen wir erkennen, wie jämmerlich die Diskussion um einen Gottesbezug in der Präambel europäischer Verfassungsdokumente erfolglos versandet ist. Haben wir nicht doch auf die Wirtschaft allein (dieses „allein" ist entscheidend) gesetzt? Wie schwach ist dieses Europa in Wirklichkeit? Muss man nicht um unsere Zukunft fürchten, wenn wir nicht aus dieser Ohnmacht herausfinden? Gerade die Ursprungskräfte Europas, besonders das Christentum (einschließlich des Judentums) und die klassische Antike, müssten uns zu einer neuen geistigen Gemeinsamkeit inspirieren, freilich im Durchgang durch Aufklärung und Moderne. Ich habe für mich leider oft den Eindruck, dass wir Kirchen zur Bewältigung dieser Krise bisher auch nicht viel beigetragen haben. …