Die Sowjetunion – eine Weltmacht?

aus OWEP 1/2014  •  von Gerhard Simon

Prof. em. Dr. phil. Gerhard Simon war von 1991 bis 2000 Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien in Köln und seit 1991 apl. Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln.

Zusammenfassung

Die Sowjetunion war einerseits eine revolutionäre Macht, angetreten um Russland und die Welt im 20. Jahrhundert umzustürzen, andererseits sah sie sich je länger umso mehr in der Tradition der russischen Geschichte und des russischen Staates. Weder die weltrevolutionären Ambitionen noch der große Machtzuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg machte sie zu einer mit den Vereinigten Staaten paritätischen Weltmacht. Zwar bestand in den 1960er und 1970er Jahren ein annäherndes militärisches Gleichgewicht, aber ökonomisch, technisch und kulturell befand sich die Sowjetunion niemals mit den USA auf gleicher Augenhöhe. Sie ging unter, als Gorbatschow Grundprinzipien ihrer Existenz infrage stellte.

Die Sowjetunion war eine bestimmende Macht des 20. Jahrhunderts. Sie hat die Verhältnisse in Europa und darüber hinaus im globalen Maßstab wesentlich mit gestaltet. In den Jahrzehnten vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu ihrer Selbstauflösung 1991 galten die Sowjetunion und ihre Verbündeten einerseits und die USA mit ihren Verbündeten auf der anderen Seite als die beiden Pole einer bipolaren Weltordnung, die einander unversöhnlich gegenüberstanden und in einer Balance des Schreckens und der gegenseitigen Abschreckung den Frieden aufrechterhielten. War die Sowjetunion aber tatsächlich Weltmacht im Sinn der Parität mit den Vereinigten Staaten, d. h. der Fähigkeit, Macht prinzipiell an jeden Ort der Erde zu projizieren und dem Rivalen auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten? Oder beruhte der Weltmachtanspruch der Sowjetunion eher auf gekonnter Selbstdarstellung, also auf Propaganda und Bluff, und der Bereitschaft der anderen Seite, darauf einzugehen?

Dieser Essay soll durch Betrachtungen zur Geschichte der Sowjetunion Auskunft geben und Antworten ermöglichen. Fürs Erste sei auf zwei Umstände hingewiesen, die Zweifel nähren, ob die UdSSR tatsächlich eine Weltmacht vergleichbar mit den Vereinigten Staaten war: Zum einen wurde das Ende der Sowjetunion nicht durch Krieg oder Konflikte von außen herbeigeführt, vielmehr löste sich das Imperium wegen innerer Widersprüche und Reformunfähigkeit in kürzester Zeit und vergleichsweise unblutig auf. Dies sind Indizien für mangelnde Stabilität und innere Schwäche – in scharfem Kontrast zur Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung der sowjetischen Eliten und ihrer Führung. Zum anderen war der Beginn der Sowjetunion, die Zeit von Revolution und Bürgerkrieg, in scharfem Kontrast zum Ende von politischer und militärischer Gewalt geprägt; der Widerstand gegen die Bolschewiki wurde in Strömen von Blut erstickt. Der „Rote Terror“ hörte mit dem Sieg der Revolutionäre im Bürgerkrieg nicht auf, sondern setzte nach wenigen relativ ruhigen Jahren Ende der 1920er Jahre erneut ein. Dem Terror unter Stalin fielen Millionen Menschen zum Opfer. Die daraus resultierenden traumatischen Erfahrungen prägten die Gesellschaft bis zum Ende der Sowjetunion und darüber hinaus. Der Terror gegen die angeblichen „Feinde“ im Inneren hat das Land nachhaltig geschwächt und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit vermindert.

Was hielt die Sowjetunion zusammen?

Andererseits: Das revolutionäre Regime bestand 70 Jahre. Zuerst restituierten die Bolschewiki das im Chaos des Ersten Weltkriegs untergegangene Zarenreich. Später führten sie Russland in Gestalt der Sowjetunion zu Weltgeltung, die über das hinausreichte, was das Zarenreich im 18. und 19. Jahrhundert dargestellt hatte. Die siegreichen Bolschewiki entwickelten ein politisches System, das es zuvor nicht gegeben hatte und das der Sowjetunion über viele Jahrzehnte eine insgesamt erstaunliche Kontinuität bei allen Erschütterungen im Inneren gewährleistete. Im Zentrum des politischen Systems stand die Kommunistische Partei (KP). Sie wandelte sich aus einer konspirativen Untergrundorganisation mit straffem Führerprinzip vor der Revolution zu einer Funktionärsorganisation, die Gesellschaft, Staat und Wirtschaft leitete. Die KP war keine politische Partei im westlichen Verständnis, sondern Inhaber und Exekutor der Macht, die sie durch die Oktoberrevolution, die ein Staatsstreich war, an sich gebracht hatte. Die Mitglieder (1990 etwa 7 Prozent der Bevölkerung) waren dabei lediglich das Reservoir für Leitungskader. Die Macht lag beim Apparat der Partei, der straff zentralistisch organisiert war und an dessen Spitze das Politbüro und der Generalsekretär standen.

Der Apparat der KP war eine Art Parallelorganisation, die in allen Einrichtungen, Organisationen, Wirtschaftsbetrieben usw. der Sowjetunion präsent war und überall Leitungsfunktion wahrnahm, ohne jedoch die operative Arbeit auszuüben und zu verantworten. Diese Doppelstruktur sicherte dem Parteiapparat einerseits umfassende Macht und Kontrolle bis ins letzte Dorf, setzte jedoch andererseits die Partei latent dem Verdacht aus, überflüssig zu sein. Wichtiges Herrschaftsinstrument war das Recht des Parteiapparates, Führungspositionen in allen Bereichen zu besetzen, die so genannte Nomenklatura (eigentlich die Liste der Posten, für deren Besetzung die Zustimmung des zuständigen Parteiorgans erforderlich war).

Das Machtmonopol der KP war nur ideologisch begründbar; eine demokratische Legitimation wurde zu keiner Zeit angestrebt, vielmehr wurde diese als Instrument des bürgerlichen Klassenkampfes verachtet. Als Gorbatschow versuchte, die Herrschaft der KP durch Wahlen zu legitimieren, läutete er das Ende des Systems ein. Auch die Strukturprinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft wurden aus der marxistisch-leninistischen Ideologie abgeleitet. Das gesamte Wirtschaftspotenzial stand nach der entschädigungslosen Enteignung des Privateigentums an den Produktionsmitteln der KP zur Verfügung und bildete die zentrale Grundlage ihrer Macht.

Der für alle verbindliche Anspruch der einen totalitären Ideologie rechtfertigte darüber hinaus die Herrschaft über Kultur und Wissenschaft, Bildung und Religionsgemeinschaften. Auch die expansive revolutionäre Außenpolitik wurde ideologisch abgeleitet und gerechtfertigt, denn das Ziel war eine Sowjetunion im Weltmaßstab. Die Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein und die Verfügung über die Zukunft zu haben, brachte in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1917 einen revolutionären Furor – jedenfalls bei den Siegern – hervor und trug zur Stabilität der neuen Ordnung bei. Seit den 1950er Jahren verkam der ideologische Ausschließlichkeitsanspruch jedoch zu einer hohlen Fassade, die nach wie vor Macht rechtfertigte, aber keine mobilisierende Wirkung mehr entfaltete.

Die Bolschewiki erbten vom Zarenreich ein Imperium, in dem die ethnischen Russen nur etwas mehr als 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten und das sich 1917/18 in vollständiger Auflösung befand. Nach ihrem Sieg im Bürgerkrieg gelang es ihnen, das Vielvölkerreich durch eine pragmatische Politik, die politischen Zentralismus mit Autonomieangeboten an die nichtrussischen Völker in den Bereichen Kultur und Sprache verband, wieder aufzurichten. Auf diese Weise bestand das russische Vielvölkerreich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fort, während die anderen europäischen Imperien schon nach dem Ersten Weltkrieg zerfielen wie Österreich-Ungarn oder sich nach dem Zweiten Weltkrieg auflösten wie das britische und französische Kolonialreich.

Ziel der sowjetischen Nationalitätenpolitik war die Sowjetisierung aller Völker unter Führung der KP. Instrumente waren eine positive Diskriminierung der nichtrussischen Völker, ähnlich der Politik der affirmative Action in den USA seit den 1960er Jahren, und damit verbunden eine Derussifizierung, d. h. die Zurückdrängung der russischen Sprache und der russischen Kader im öffentlichen Leben. Allerdings war diese Politik der Indigenisierung (russisch: korenizacija) so erfolgreich, dass Stalin seit 1933 beschloss, sie massiv einzuschränken und sich zur Stabilisierung der Sowjetunion lieber auf russische Kader und die russische Sprache zu stützen. Dennoch setzten sich die Prozesse der Nationsbildung insbesondere in den Jahrzehnten nach Stalin fort, sodass am Ende des 20. Jahrhunderts die Nationen in der Sowjetunion fester gefügt und politisch handlungsfähiger waren als zu Beginn der sowjetischen Periode.

Von Stalin zu Chruschtschow, zu Breschnew

Trotz struktureller Kontinuitäten waren die 70 Jahre sowjetische Geschichte durch massive Umbrüche und Einschnitte geprägt; dafür stehen die drei genannten Namen der Partei- und Staatsführer. Stalin stieg nach dem Tod Lenins (Januar 1924) im Laufe der 1920er Jahre zum uneingeschränkten Diktator auf, seine Alleinherrschaft blieb bis zu seinem Tod im März 1953 unangetastet. Die Herrschaft Stalins lässt sich insbesondere durch drei Aspekte charakterisieren: Mit der von ihm selbst so genannten „Revolution von oben“ wurde seit Ende der 1920er Jahre eine Schockindustrialisierung eingeleitet, deren Preis das Dorf mit der zwangsweisen Kollektivierung, d. h. der Enteignung der Bauern und der Ernteerträge, zu zahlen hatte. Zweitens verbindet sich die Herrschaft Stalins mit einem zuvor unvorstellbaren Massenterror gegen die eigene Bevölkerung. Die Herrschaft Stalins ist drittens durch den Sieg über Hitler-Deutschland stabilisiert und weltweit legitimiert worden. Insofern ermöglichte der deutsche Tyrann seinem sowjetischen Widersacher einen Triumph, der auf beiden Seiten Millionen Opfer forderte.

Unter Stalin formierte sich die sowjetische Variante von Modernisierung, die anfangs große Erfolge aufzuweisen hatte, aber je länger umso tiefer in eine Sackgase geriet: Fabrik ja, aber Parlament nein; technischer Fortschritt und Innovation wurden durch Befehl und Gehorsam erzielt; Toleranz, Liberalität und Barmherzigkeit galten als bürgerliche Un-Tugenden, als Waffen des „Feindes“. Alle Menschen lernten Schreiben und Lesen, aber die Partei schrieb vor, was sie zu lesen und zu schreiben hatten. Die sowjetische Modernisierung funktionierte am besten unter den Bedingungen von Krieg und Gewaltherrschaft, im Frieden aber versagte sie. Insoweit lag eine gewisse Konsequenz darin, dass Stalin ständig im Inneren Krieg führte, mal gegen das Dorf, dann gegen die Feinde innerhalb der KP während der „Großen Säuberung“ 1937/38, später gegen ganze Völker als Feinde (z. B. Polen in der Sowjetunion, Tschetschenen, Wolga-Deutsche, Krimtataren). Selbstverständlich waren dies asymmetrische Kriege, wie das heute genannt wird, es gab keinen Zweifel, wer der Sieger sein würde.

Der Massenterror begann mit dem Krieg gegen die Bauern während der Zwangskollektivierung; fünf bis sechs Millionen Menschen wurden im Zug der „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ aus ihren Dörfern deportiert; viele überlebten die Deportation nicht. Sechs bis sieben Millionen Menschen starben als Opfer der großen Hungersnot 1932/33, die Hälfte davon in der Ukraine. Während der Hungersnot setzte die Sowjetmacht den Export von Getreide fort. In den Jahren des großen Terrors 1937/38 wurden nach internen Statistiken des NKWD (Volkskommissariat des Inneren) etwa 1,5 Millionen Menschen verhaftet, beinahe 700.000 von ihnen zum Tod verurteilt und erschossen. Die Zahl der Insassen des Gulag (System der Zwangsarbeitslager) erreichte in den letzten Lebensjahren Stalins nach dem Krieg mit 2,5 Millionen Gefangenen den höchsten Stand. Die Schätzungen und Berechnungen der Forschung gehen nach der teilweisen Öffnung der sowjetischen Archive von insgesamt mindestens 15 Millionen Toten als Opfer der verschiedenen Terrorkampagnen von 1928 bis 1953 aus. Hinzu kommen die mehr als 26 Millionen Kriegstoten, davon 18 Millionen Zivilpersonen. Die Sowjetunion hatte 1939 vor der Okkupation der Westgebiete 170 Millionen Einwohner. Alle diese Opferzahlen übersteigen das Vorstellungsvermögen; sie waren in sowjetischer Zeit tabu. Wenn Stalins Name dennoch in Russland bis heute bei vielen einen guten Klang hat und mit nationaler Größe und Ruhm für das Vaterland verbunden wird, so ist das dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ geschuldet, der für die Sowjetunion einen nie zuvor erreichten Machtzuwachs brachte.

Sein Nachfolger Nikita Chruschtschow, aus dem engsten Führungskreis um Stalin hervorgegangen, baute die Weltmachtambitionen der Sowjetunion auf dem erreichten Machtpotenzial auf, distanzierte sich aber von Stalins Herrschaftssystem und beendete den Massenterror. In der „Geheimrede“ während des 20. Parteitags (Februar 1956) versprach er den Kadern für die Zukunft indirekt Sicherheit an Leib und Leben und gewann damit ihre Unterstützung im Machtkampf. Die Auflösung des Gulag war eine humanitäre Großtat.

Begünstigt durch beträchtliches Wirtschaftswachstum brachte das Jahrzehnt Chruschtschows (1953-1964) eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards für die städtische Bevölkerung; die Massenarmut der zurückliegenden Jahrzehnte konnte überwunden werden. Vor allem erhielten Millionen Familien erstmals abgeschlossene Wohnungen nur für sich in den riesigen „Plattensiedlungen“, die überall in den Städten aus dem Boden gestampft wurden. Zusammen mit der Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten wurden die Grundlagen für einen sozialen Wandel gelegt, der die sowjetische Gesellschaft immer weiter von den militarisierten und tyrannisierten Menschen der Stalin-Zeit entfernte. In Lebensstil und Bedürfnissen näherte sich die sowjetische Gesellschaft zumal in den Großstädten den Lebensverhältnissen der städtischen Mittelschichten in westlichen Ländern an. Das mag Chruschtschow dazu verführt haben, 1957 als Ziel die Losung auszugeben: „Amerika einholen und überholen bei der Produktion von Fleisch, Milch und Butter pro Kopf“. Das sprengte nun bei weitem die Möglichkeiten der Sowjetunion und brachte dem Staatschef bald Spott und Hohn ein. Die unerfüllten und unerfüllbaren Versprechungen waren einer der Gründe für den Sturz Chruschtschows durch die Parteiführung im Oktober 1964 und bald auch für die Delegitimierung des Sowjetsystems generell.

Zunächst allerdings erreichte die Sowjetunion in diesen Jahren Höchstleistungen im „Wettkampf der Systeme“: 1957 gelang es der Sowjetunion als erste, einen Satelliten mit einer Interkontinentalrakete in eine Erdumlaufbahn zu schießen. Der Sputnik-Schock löste im Westen eine neue Runde des Rüstungswettlaufs aus. 1961 schickte die Sowjetunion den ersten Menschen auf einen Weltraumflug. Zu einer dauerhaften technischen und militärischen Überlegenheit gegenüber den USA führten diese Erfolge jedoch nicht. Zwar erreichte die Sowjetunion Anfang der 1970er Jahre eine militärische Parität mit den USA hinsichtlich der interkontinentalen ballistischen Raketen. Aber seit Ende der 1970erJahre fiel sie in der Hochtechnologie zurück. Sie hatte schon zuvor einen deutlich höheren Prozentanteil der allgemeinen Wirtschaftsleistung als die USA für Rüstung aufgewendet. Die zunehmenden Krisensymptome der sowjetischen Wirtschaft, die Tendenz zum Nullwachstum und auf der anderen Seite die wiedererwachte Vitalität der amerikanischen Wirtschaft und Politik nach dem Vietnam-Debakel machten das Ziel einer Parität zunichte. Hinsichtlich der Wirtschaftsleistung, der Kultur oder der zivilen wissenschaftlichen Innovation lag die Sowjetunion weit zurück, und mit dem anbrechenden digitalen Zeitalter öffnete sich die Schere weiter.

In der Außenpolitik griff Chruschtschow über Europa und auch über die kommunistische Weltbewegung hinaus. Die Dekolonisierung vor allem in Afrika und Asien bot gute Chancen, die „sozialistische Orientierung“ in die Dritte Welt zu projizieren und das internationale Gewicht und Ansehen der Sowjetunion zu vergrößern. Aber auch in diesem Bereich war, ähnlich wie beim Rüstungswettlauf, in den 1970er Jahren der Höhepunkt der Expansion und des Wettbewerbs mit dem Westen überschritten. Die Sowjetunion war je länger, desto weniger in der Lage, die selbst geweckten Erwartungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Unterstützung der Entwicklungsländer zu erfüllen; die Klientel ihrerseits blieb in vielen Fällen die Bezahlung der freigebig gewährten Rüstungsgüter schuldig.

Zeitgleich mit der Expansion in die ehemals koloniale Welt Afrikas und Asiens zerfiel die kommunistische Weltbewegung, bis dahin ein zentrales Instrument des sowjetischen Strebens nach Weltmacht. Schon Ende der 1950er Jahre brach der Konflikt mit China offen aus, der 1969 am Grenzfluss Ussuri auch zu militärischen Auseinandersetzungen führte. Stalins Vorstellung von einem kommunistischen China als Juniorpartner der Sowjetunion erwies sich als wirklichkeitsfremd.

Die lange Regierungsperiode (1964-1982) von Leonid Breschnew erhielt bald die Bezeichnung „Zeit der Stagnation“. Zwar blieb das Land (bis zum Beginn des Krieges in Afghanistan 1979) vor großen Erschütterungen bewahrt. Die großstädtische Gesellschaft verfügte über einen bescheidenen Wohlstand und soziale Sicherheit auf niedrigem Niveau. Aber die mit dem gesellschaftlichen Wandel verbundenen Erwartungen auf mehr Konsum, qualifizierte Jobs und Öffnung des Landes für Reisen ins Ausland wurden enttäuscht. Lediglich die Propaganda simulierte den „Aufbau des Kommunismus“. Wirtschaft und Technik schafften aus strukturellen Gründen nicht den Übergang von einem extensiven zu einem intensiven Wirtschaftswachstum und zur postindustriellen Entwicklung. Die politische Stagnation spiegelte sich paradigmatisch im Durchschnittsalter der Mitglieder des Politbüros, des Leitungsgremiums der Sowjetunion, wider, es erreichte 70 Jahre.

Destabilisierung, Delegitimierung

Die Perestrojka bedeutete faktisch den Verzicht auf die Weltmachtparität, ohne dass Gorbatschow das je so formulierte. Als er die Leitung von Partei und Staat im März 1985 übernahm, hatte er erhebliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Sowjetsystems ohne eine umfassende Umgestaltung (Perestrojka). Gorbatschow gab zwei Grundsätze auf, die bisher zu den unbedingten Voraussetzungen des Sowjetsystems gehört hatten: die Behauptung der prinzipiellen Überlegenheit des Sozialismus/Kommunismus über jedes andere Gesellschafts- und Staatsmodell und das Recht zur Anwendung von Gewalt für die Erhaltung dieses Gesellschaftsmodells. Die Aufgabe dieser beiden Grundsätze führte in Kombination mit den Reformversuchen am politischen System in wenigen Jahren zur Implosion der Sowjetordnung und zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion als Staat.

Den Staaten des „sozialistischen Lagers“ wurde jetzt die Wahl des eigenen Weges zugestanden, was zur raschen Auflösung der sowjetischen Herrschaft über Ostmitteleuropa führte, zur Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und zur Vereinigung Deutschlands. Es wurde jetzt offensichtlich, was viele (auch in der Sowjetunion) stets vermutet hatten: die sowjetische Hegemonie über Ostmitteleuropa beruhte auf erzwungener Unterordnung und letztlich auf der sowjetischen Bereitschaft, Panzer rollen zu lassen. Während Gorbatschow den Verlust des äußeren Imperiums mit erstaunlichem Gleichmut hinnahm, wollte er das Auseinanderbrechen der Sowjetunion verhindern, aber nicht um jeden Preis. Auch hier galt: keine Gewalt. Zwar kam es trotzdem zur punktuellen, wenn auch begrenzten Gewaltanwendung; sie beschleunigte jedoch den Zerfall des inneren Imperiums, statt ihn aufzuhalten.

Im Zentrum der politischen Reformen standen die Entmachtung des Parteiapparates und die Einführung demokratisch-parlamentarischer Verfahren der Machtausübung. Mit der Beseitigung des Machtmonopols der Partei verlor Gorbatschow diese Stütze seiner Macht, ohne eine neue demokratische zu gewinnen. Das Aufgeben der Monopolherrschaft der KP war der folgenschwerste Eingriff in das Sowjetsystem, das damit faktisch aufhörte zu bestehen. Gorbatschow beförderte auch die sowjetische Kirchenpolitik auf den Kehrichthaufen der Geschichte – ein Aspekt, der bisher kaum gewürdigt worden ist. Nicht nur die zwangsweise atheistische Propaganda wurde eingestellt, die christlichen Kirchen, vorab die Russische Orthodoxe Kirche, und die anderen Glaubensgemeinschaften kehrten in die Gesellschaft zurück. Die Verfolgung wegen des Glaubens hörte auf, die Verbote pädagogischer, karitativer und missionarischer Tätigkeit wurden aufgehoben.

Die sowjetische Außenpolitik nach 1985 trug wesentlich zur Beendigung des Kalten Krieges und der bilateralen Weltordnung bei. Gorbatschows Vision einer demokratischen Sowjetunion im Rahmen einer einheitlichen neuen Weltordnung erfüllte sich allerdings nicht. Die Russische Föderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion ist hinsichtlich ihres ökonomischen und demographischen Potenzials nur noch etwa halb so groß wie die Sowjetunion.


Literaturhinweise:

  • Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. München 1998.
  • Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012.