Ein Jahrhundert der Gewalt: Das ehemalige Gefängnis an der Lonski-Straße in Lemberg/Ukraine

aus OWEP 1/2014  •  von Jörg Lüer

Dr. Jörg Lüer leitet das Berliner Büro der Deutschen Kommission Justitia et Pax und ist Stellvertretender Vorsitzender der Maximilian-Kolbe-Stiftung.

Zusammenfassung

Oft sind es einzelne Gebäude, an deren wechselvoller Geschichte sich ein ganzes Jahrhundert mit seinen Linien, Verwerfungen und Brüchen nachvollziehen lässt. Das nachfolgende Beispiel erinnert an besonders düstere Kapitel des 20. Jahrhunderts.

Blick in den Zellengang (Foto: Jörg Lüer)

Man betritt das ehemalige Gefängnis an der Lonski-Straße heute durch einen Seiteneingang. Die ersten Räume ein wenig gedrungen und verwinkelt, erschließt sich einem das Gebäude nicht auf den ersten Blick. In einem kalt-feuchten Raum, in dem Ausstellungstafeln auf Ukrainisch hängen und von dem es in den Zellentrakt oder in den Hinterhof mit der Erschießungsmauer geht, empfängt uns der Direktor der Gedenkstätte. „Sie befinden sich hier an einem Ort, der für drei verschiedene Okkupationen in der Ukraine steht.“ Gemeint sind eine polnische, die sowjetische sowie die deutsche Okkupation. Die Erzählperspektive ist klar. Es ist die Perspektive der nationalen Befreiung der Ukraine. Und in dieser Perspektive ist die Erzählung konsequent. Dass sich die junge ukrainische Nation nach wie vor in einer Phase der grundlegenden innergesellschaftlichen Verständigung über sich selbst befindet, mag erklären, dass die Erzählung kaum Gespür für die historischen Ambivalenzen erkennen lässt.

Aber, so frage ich mich unwillkürlich, was hätte wohl meine mütterliche Freundin Zofia Pohorecka dazu gesagt. Sie war eine gebürtige Lembergerin und eine leidenschaftliche Polin. Als junge Frau wurde sie von der Gestapo aufgrund ihrer Beteiligung am polnischen Untergrund verhaftet und im Lonski-Gefängnis gefoltert. Ihr Weg führte sie von dort über Lublin, den Pawiak in Warschau, 1943 nach Auschwitz-Birkenau. 1945 konnte sie vom Todesmarsch fliehen. Ihr geliebtes Lemberg hat sie nicht wieder gesehen. Im Zuge der von den drei Siegermächten auf Betreiben Stalins beschlossenen „Westverschiebung“ Polens wurde die polnische Bevölkerung Lembergs in die Volksrepublik Polen deportiert. Sie hätte sicherlich davon gesprochen, dass Lemberg eines der wesentlichen kulturellen Zentren Polens mit einer mehrheitlich polnischen Bevölkerung war. Sich als Okkupantin in der Ukraine zu fühlen, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Wahrscheinlich hätte sie gelacht, um dann mit ernsterem Ton etwas über die Vertreibung der polnischen Bevölkerung sowie die schwierigen polnisch-ukrainischen Beziehungen hinzuzufügen. Schon bevor wir den Zellentrakt betreten, zeigt sich, dass dieser Ort mehr als eine Erzählung, mehr als eine Perspektive erfordert.

Nähert man sich ihm von außen, so trifft man auf ein noch unter österreichischer Herrschaft im repräsentativen Still der Zeit errichtetes Polizeigebäude. Das Gebäude fügt sich nahtlos ein in das zentraleuropäische Ambiente Lembergs. Seine Geschichte als Gefängnis beginnt mit der jungen polnischen Republik, die 1918 nach fast 150 Jahren Teilung aus den Trümmern, die der Erste Weltkrieg hinterließ, entstieg. Angefeindet von seinen Nachbarn, insbesondere dem Deutschen Reich und der ebenfalls jungen Sowjetunion, hatte sie sich in ihrem Inneren mit erheblichen Minderheiten und deren nationalen Ambitionen auseinanderzusetzen. Dieser Nationalitätenkampf wurde mit erheblicher Repression seitens des polnischen Staates ausgetragen. Aber auch innerhalb der verschiedenen Nationalbewegungen – so auch in der ukrainischen – gab es Kräfte, die zur Gewaltanwendung bereit waren.

In dieser spannungsreichen Zeit wurde im Polizeigebäude an der Lonski-Straße ein Untersuchungsgefängnis eingerichtet. Im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen mit der ukrainischen Nationalbewegung wurden hier viele ukrainische Aktivisten inhaftiert. Der Ort steht daher sowohl für das ungebrochene Streben nach einer unabhängigen Ukraine als auch für das Ringen des polnischen Staates um seine Integrität.

Als am 17. September 1939 die Sowjetunion in Polen einmarschierte, fiel Lemberg unter sowjetische Herrschaft. Die Stadt wurde zu einem Bestandteil der ukrainischen Sowjetrepublik. Die sowjetische Geheimpolizei, der NKWD, übernahm das Gebäude nun als Untersuchungsgefängnis. Der sowjetische Terror zielte systematisch auf die Unterdrückung jeglichen Widerstands gegen das Regime. Somit begegneten sich in der Lonski-Straße sowohl Vertreter des polnischen als auch des ukrainischen Widerstands, allerdings ohne dass die Gräben zwischen beiden Seiten erkennbar überbrückt worden wären. Der Ort wurde zu einem Symbol stalinistischen Terrors, der Zerschlagung Polens sowie der Repression der ukrainischen Unabhängigkeitsbemühungen.

Hinterhof – Ort der Exekutionen (Foto: Burkhard Haneke)

Als 1941 die deutsche Wehrmacht im Zuge des Angriffs auf die Sowjetunion auf Lemberg marschierte, tötete der NKWD vor seinem Abzug alle Insassen des Gefängnisses. Den deutschen Truppen, die in das Gebäude an der Lonski-Straße kamen, bot sich ein grauenvoller Anblick. Auf dem Hinterhof des Gefängnisses, einem Ort, an dem Exekutionen durchgeführt wurden, wurden die Leichen ausgebreitet. Die Lemberger erhielten die Gelegenheit, nach Freunden und Verwandten zu schauen. Das deutsche Propagandaministerium drehte einen Film, der die Befreiung von den Sowjets unterstrich und dazu gedacht war, sowohl den Hass auf die Sowjetunion als auch in der ukrainischen Bevölkerung vorhandene deutschfreundliche Stimmungen zu stärken. Die Bilder dieses Films sind heute zu einer Quelle geworden. Sie geben zumindest einigen der Opfer ein Gesicht. Im Museum sind Ausschnitte zu sehen.

Die wohlkalkulierte Verlogenheit dieses deutschen Machwerks zeigte sich spätestens, als im Zuge des deutschen Besatzungsregimes die Gestapo das Gefängnis übernahm und ihren Zwecken nutzbar machte. Das Foltern und Morden ging weiter. Der Ort diente der deutschen Besatzungspolitik, der systematischen Verfolgung der polnischen Intelligenz, dem Völkermord an den Juden sowie der Bekämpfung des polnischen und ukrainischen Untergrundes.

Die Nachkriegsgeschichte des Ortes beginnt mit der erneuten Einnahme Lembergs durch die Sowjetunion 1944. NKWD und später KGB nutzen das Untersuchungsgefängnis bis Ende 1991, dem Ende der Sowjetunion. Es wird zu einem typischen Bestandteil des sowjetischen Repressionsapparats. Die Wege von hier führen in die Kolyma, nach Workuta oder ähnliche Orte.

2006, im Zuge der „Orangenen Revolution“ wurde das mittlerweile leer stehende Gebäude zu einem Museum umgestaltet, d. h. die Räume wurden in Besitz genommen und eine erste noch sehr provisorische Ausstellung erarbeitet. Der Ort wurde in diesen Jahren zu einem Ort der kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gewaltregimes, denen die Bevölkerung ausgesetzt war. Die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime steht heute im Vordergrund. Wie umkämpft und strittig dieses Feld in der heutigen Ukraine nach wie vor ist, wird spürbar, als nach dem erneuten Machtwechsel zu Janukowitsch im Jahre 2009 der Direktor des Museums mit dem letztlich nicht erhärteten Vorwurf verhaftet wird, das Museum in der Lonski-Straße würde Staatsgeheimnisse verraten. Bei der parallel dazu im Museum durchgeführten Hausdurchsuchung werden Computer und vielfältige Dokumente beschlagnahmt, wobei viel Material, z. B. die dokumentierten Interviews mit ehemaligen Häftlingen, von denen viele heute schon nicht mehr leben, bis heute verschwindet.

Unter diesen schwierigen Bedingungen entwickelt sich das Museum mit jährlich 20.000 Besuchern zunehmend zu einem Ort der kritischen Auseinandersetzung mit dem totalitären Erbe der Ukraine. In dem Maße, in dem er ein Ort des europäischen Gesprächs wird, an dem man respektvoll mit den offenen Fragen sowie den unterschiedlichen Perspektiven umgeht, wird er auch zu einem europäischen Erinnerungsort werden. Hoffnungsvolle Anfänge sind gemacht. Orte wie das ehemalige Gefängnis in der Lonski-Straße bieten in besonderer Weise die Chance, vereint im Respekt vor den Opfern die unterschiedlichen Geschichten und Perspektiven angemessen zu Gehör zu bringen.