Der Front National in Frankreich – eine gemischte Bilanz des „Superwahljahrs“ 2017

aus OWEP 3/2017  •  von Sébastien Vannier

Sébastien Vannier arbeitet nach einem deutsch-französischen Studiengang in Rennes, Eichstätt und Straßburg seit 2009 als Korrespondent in Deutschland, u. a. für die Tageszeitung „Ouest-France“ und für das europäische Online-Magazin „cafebabel.com“. Er ist außerdem Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Centre Marc Bloch in Berlin.

Zusammenfassung

Mit großer Spannung hat man in ganz Europa den Verlauf der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich verfolgt, nicht zuletzt wegen eines möglichen Wahlsieges des rechtsextremen Front National (FN) mit der Spitzenkandidatin Marine Le Pen. Auch wenn der FN sein Ziel letztlich verfehlt hat, besteht, wie die folgende Analyse belegt, weiterhin Grund zur Sorge: Sollte Frankreich unter Präsident Emmanuel Macron kein entscheidender Wandel gelingen, ist mit einem weiteren Erstarken der rechtsextremen und europafeindlichen Kräfte zu rechnen.

Trump – Brexit – Le Pen? Anfang 2017 deutete einiges darauf hin, dass die Welle des Populismus auch Frankreich erfassen würde. Mitten im dicht gefüllten europäischen Wahlkalender gelegen, führten die französischen Präsidentschaftswahlen am 7. Mai dann aber zu einem wichtigen Wendepunkt, der auf der anderen Seite des Rheins mit größter Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde. Ein möglicher Sieg Marine Le Pens hätte Deutschland seines wichtigsten Verbündeten für die notwendige Wiederherstellung des durch den Brexit erschütterten europäischen Gebäudes beraubt. Er hätte auch der deutschen rechtspopulistischen Partei AfD den Weg zum Einzug in den Bundestag geebnet. Die Geschichte hat sich anders gewendet: Weder Geert Wilders bei der Wahl in den Niederlanden noch Marine Le Pen konnten sich richtig entfalten. Selbst die AfD scheint angesichts interner Streitigkeiten zu schwächeln. Der Aufstieg des Populismus in Europa scheint –äußerst vorsichtig formuliert – gebremst zu sein.

Welche Bilanz lässt sich für den Front National (FN) nach den Wahlen im Frühjahr ziehen? Nach den Erfolgen in den letzten Jahren, dem Aufstieg von Marine Le Pen an die Spitze der Partei und einer Strategie der Entdämonisierung hatte er sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Die Partei stützte sich auf eine breite antieuropäische Stimmung, verbunden mit einem grundsätzlichen Euroskeptizismus. Allerdings gelang es dem FN nicht, in einer Wahlkampagne voller Überraschungen alle sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen.

Die Stoßrichtung des Front National seit der Machtübernahme von Marine Le Pen – die Episode der „Entdämonisierung“

Der Aufstieg Marine Le Pens an die Spitze des FN wird oft in Parallele gesetzt zu einer Strategie der „Entdämonisierung“ der Partei. Dieses Manöver, klassisch für Parteien der extremen Rechten, besteht darin, die Oberfläche der Partei zu glätten, indem man sich der verführerischen rassistischen, islamfeindlichen und besonders antisemitischen Elemente entledigt, für die die Partei unter dem Vorsitz von Jean-Marie Le Pen bekannt war. Bei zahlreichen Gelegenheiten hat sich die neue Chefin des FN beispielsweise von der berüchtigten Aussage ihres Vaters über die „Konzentrationslager als bloßes Detail der Geschichte“ distanziert. Die Idee eines „neuen FN“ zielt darauf, die Wählerschaft dadurch zu verbreitern, dass auf die abstoßendsten und radikalsten Positionen Jean-Marie Le Pens verzichtet wird. Dieser wurde aus der Partei, die er über Jahrzehnte geprägt hat, hinausgedrängt. Marine Le Pen ging dabei sogar so weit, für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen den Begriff, das Logo des FN und ihren eigenen Familiennamen auf den Plakaten zu entfernen – stattdessen erschien darauf „Marine Präsidentin“.

Die neue Oberflächenstrategie beinhaltet auch eine Verjüngung in der Führungsriege. Neben dem recht deutlichen Generationensprung zwischen Jean-Marie Le Pen und Marine Le Pen ist bereits die nächste Generation mit Marion Maréchal-Le Pen, Nichte bzw. Enkelin der beiden, in der Partei etabliert. 2012 wurde sie mit gerade mal 22 Jahren als Abgeordnete des Départements Vaucluse in die Nationalversammlung gewählt. Als aufstrebende Figur der Partei engagierte sie sich während der letzten Legislaturperiode gegen die „Ehe für alle“ und verführt die Wählerschaft im Süden Frankreichs, während sich ihre Tante auf ihre Bastion im Norden konzentriert. Marion Maréchal-Le Pen wird oft dem anderen jungen Protagonisten aus der Partei gegenüber gestellt: Florian Philippot. 35 Jahre alt, soll er das Band des FN zu den jüngeren Generationen knüpfen, besonders zu den „Eliten“, die vom FN häufig mit Kritik und Neid überzogen werden. Philippot hat selbst den klassischen Parcours durchlaufen: Als Absolvent von HEC und ENA1 wurde er zu einem der einflussreichsten Berater um Marine Le Pen und ist seit 2014 Abgeordneter des Europäischen Parlaments.

Diese Verjüngung zeigt sich auch in der Wählerschaft der Partei. Beim ersten Wahlgang der Regionalwahlen 2015 lag der FN bei den jungen Wählern an erster Stelle. Beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2017 wurde er zwar vom Linken Jean-Luc Mélenchon überholt, lag aber mit 21 Prozent Wahlanteil unter den jungen Wählern noch vor Emmanuel Macron und mit weitem Abstand vor den etablierten Parteien (Sozialisten, Republikaner).

Eine dauerhafte Erscheinung in der politischen Landschaft

Die Beziehungen zwischen den Medien und dem FN sind nach wie vor sehr kompliziert, jedoch hat sich die Situation in den letzten Jahren erheblich verändert: Ganz anders als beim „Boykott“ in den Tagen von Jean-Marie Le Pen profitiert die Parteiführung, allen voran Marine Le Pen und Florian Philippot, von einer starken Medienpräsenz, freilich nicht ohne Spannungen. „Le Quotidien“, „Le Petit Journal“ oder „Mediapart“ sind häufig von Treffen des FN ausgeschlossen. Der FN hat es auch verstanden, auf die Karte der sozialen Netzwerke zu setzen, um die traditionellen Medien zu umgehen. Die Kommunikation über das Internet ermöglicht ihm eine größere Mobilisierung von Anhängern und weiteren interessierten Kreisen. Zahlreiche Webseiten der extremen Rechten bieten sich mit „Wahrer Information“ als Alternative zu den traditionellen Medien an.

Das Erstarken des FN unter Marine Le Pen wird durch den spektakulären Zuwachs an den Wahlurnen deutlich: Beim ersten Wahlgang zur Präsidentschaft 2012 erhielt der FN 6,4 Millionen Stimmen (17,9 Prozent der Wähler). Zwei Jahre später erreichte der FN bei den Europawahlen mit 4,7 Millionen – einem Viertel aller abgegebenen Stimmen – das Ziel, die größte Partei Frankreichs zu werden. Im Europäischen Parlament ist er seither mit 24 Abgeordneten vertreten, was in Deutschland und anderen Nachbarländern große Besorgnis hervorrief. Der letzte große Test vor den Wahlen 2017, die Regionalwahlen im Dezember 2015, bestätigten diesen Trend mit 6 Millionen Stimmen und einem Rekordanteil von 27,7 Prozent der Wähler.

Der Front National profitiert von der europäischen Krise – ein nationalistisches Programm, das sich gewandelt hat

Für ihr „Projekt Präsidentschaft“ hat Marine Le Pen 144 Vorschläge zusammengestellt. Gleich an erster Stelle fordert sie, dem französischen Volk „die Souveränität im Blick auf die Währung, die Wirtschaft, die Gesetzgebung und das Territorium zurückzugeben“. Noch deutlicher wird sie bei Parteitreffen: „Es ist an der Zeit, mit der Europäischen Union Schluss zu machen.“

Die Rhetorik des FN, anfangs getragen vom Brexit-Vorbild, hat sich dennoch peu à peu von einem radikalen Ausstieg aus der EU und der Eurozone entfernt. So sah Marine Le Pen vor, „zunächst mit den europäischen Partnern zu verhandeln“, bevor „ein Referendum über unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union“ organisiert werden sollte. Dies war im Vergleich zu früheren Äußerungen ein Schritt zurück, wohl um die französischen Wähler, die im Großen und Ganzen der EU verbunden sind, nicht zu sehr zu verschrecken. Sie wich auch im Blick auf den Ausstieg aus dem Euro zurück. Der FN wollte „aus dieser Hölle hinauskommen“ und zu einer nationalen Währung zurückkehren, um zu verhindern, dass „der Euro Frankreichs Wirtschaft in den Abgrund führt“. Zu großer Verwirrung führte zwischen den beiden Runden der Präsidentschaftswahlen das Zusammenwirken von Marine Le Pen und Nicolas Dupont-Aignan, der gegenüber dem Euro eine eher gemäßigte und ausgleichende Haltung vertritt. Die Vorsitzende behauptete zwar weiterhin, „der Euro ist unser Tod“, sagte dann aber im gleichen Atemzug: „Wir werden eine nationale Währung wie alle anderen Länder haben und wir werden zusammen eine Gemeinschaftswährung haben. Sehen Sie, das ist ganz einfach.“ Ähnlich unklar äußerte sie sich im TV-Duell vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, was bei den Wählern offensichtlich nicht gut angekommen ist.

Offener Konflikt mit der Europäischen Union

Der Wahlkampf war auch eine Gelegenheit für den FN, sich rechtsextremen Gesinnungsgenossen in anderen Ländern anzunähern. So kam es am 21. Januar 2017 in Koblenz zum Treffen von Marine Le Pen mit dem Niederländer Geert Wilders und der damaligen Vorsitzenden der AfD, Frauke Petry, das die Einigkeit der drei Parteienführer im Wahljahr 2017 symbolisieren sollte. Marine Le Pen erhoffte sich, das Jahr 2017 „zum Jahr des Erwachens der Völker des europäischen Kontinents“ im Anschluss an den Brexit im vorangegangenen Jahr zu machen. Das Treffen bot ihr auch die Gelegenheit, die „Tyrannei“ der Europäischen Union anzuprangern und Angela Merkel anzugreifen.

Der FN hat nie damit hinter dem Berg gehalten, dass es ihm vor allem um einen Kampf gegen die Europäische Union geht, wobei er allerdings durchaus die Vorteile des Europaparlaments nutzte. Zwölf Abgeordnete des FN im Europäischen Parlaments, darunter Marine und Jean-Marie Le Pen, werden beschuldigt, Mitarbeiter ihrer Büros in Brüssel aus Mitteln der Europäischen Union bezahlt zu haben, die in Wirklichkeit im Organigramm des FN auftauchen. Es war Martin Schulz, seinerzeit noch Präsident des Europäischen Parlaments, der das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) 2015 aufforderte, gegen diesen Missbrauch vorzugehen. Marine Le Pen hat sich jedoch kategorisch geweigert, während der Wahlkämpfe vor Gericht zu erscheinen, und wurde am 30. Juni 2017 wegen Unterschlagung angeklagt.

2017, das Jahr der verpassten Chancen – eine Abfolge von Wahlenttäuschungen

Gestärkt durch ihre Erfolge bei den vorangegangen Wahlen trat Marine Le Pen 2017 mit dem klaren Ziel an, den Elysée-Palast zu erobern. Angesichts der Gesamtentwicklung des FN haben auch seriöse Beobachter dies nicht für völlig unmöglich gehalten, weder in Frankreich noch im Ausland, denn seit Herbst 2016 hatte die FN-Vorsitzende in Meinungsfragen regelmäßig die 30 Prozent-Marke überschritten. Der FN profitierte damit voll vom Versagen der anderen Parteien, zunächst der Sozialisten nach der fünfjährigen Präsidentschaft von François Hollande, mehr noch der Republikaner, die durch die Affären um den Kandidaten François Fillon gelähmt waren. In den ersten Monaten des Jahres 2017 stand Marine Le Pen unangefochten an der Spitze, bevor sie sich bis zur letzten Woche ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Emmanuel Macron lieferte. Schließlich erhielt sie 7,6 Millionen Stimmen und 21,3 Prozent der Wähler, womit sie ihren Rekord aus dem Jahr 2012 deutlich übertroffen hat. Zwei Wochen später haben weitere drei Millionen Franzosen sie gewählt; das waren 10,6 Millionen Stimmen oder 33,9 Prozent der Wähler – insgesamt mehr als doppelt so viele wie ihr Vater fünf Jahre zuvor (5,5 Millionen).

Diese Rekorde ließen Marine Le Pen zu Recht von einem „eindrucksvollen historischen Resultat“ sprechen, das sich jedoch vor allem dem brutalen Absturz der beiden etablierten Parteien verdankt, die erstmals beide zusammen den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nicht erreichten. Stattdessen kam dann aber ein angeblich anderer Kandidat des „Antisystems“ in die Stichwahl, Emmanuel Macron. Marine Le Pen selbst trägt die Verantwortung für diese relativ enttäuschende Entwicklung in ihrer Partei: In der Zeit zwischen den beiden Wahlrunden erschien sie ziemlich konfus, vor allem wegen ihrer bereits erwähnten Allianz mit Nicolas Dupont-Aignan und der Neupositionierung bezüglich des Euro. Die Fernsehdebatte zur zweiten Wahlrunde ging letztlich nicht zu ihren Gunsten aus. Einen Monat später haben ihr dann die Wähler die Quittung gegeben, denn Emmanuel Macron erhielt bei den Wahlen zur Nationalversammlung eine gewaltige parlamentarische Mehrheit. Nur 13,2 Prozent der Wähler votierten für den FN, letztendlich erhielten nur 8 Kandidaten, darunter Marine Le Pen, einen Sitz.

Auswirkungen für die Entwicklung des Front National?

Bereits kurz nach den Wahlen begann die mühsam konstruierte Einheit des FN auseinanderzubrechen. Marion Maréchal-Le Pen hat bereits angekündigt, sich zumindest vorübergehend aus ihrer jungen politischen Karriere zurückzuziehen. Die Position von Florian Philippot wurde ebenfalls intern stark kritisiert. Marine Le Pen hat angekündigt, sie wünsche eine „tiefgreifende Umwandlung der Bewegung, um ihr zu neuer politischen Kraft“ zu verhelfen. Überdies hat Jean-Marie Le Pen, noch immer Ehrenvorsitzender der Partei, weiter Öl ins Feuer gegossen und den Rücktritt seiner Tochter gefordert.

Diese lange Abfolge von Wahlen hat nichtsdestoweniger dazu beigetragen, die Rolle des FN auf der politischen Bühne Frankreichs zu verharmlosen. Marine Le Pen für den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen qualifiziert zu sehen, hat die Franzosen nicht in Massen auf die Straßen getrieben wie noch vor fünfzehn Jahren unter Jean-Marie Le Pen. „Die Jugend verachtet den Front National“ – ein damaliges Schlagwort, das einem Lied der Musikgruppe „Bérurier Noir“ entnommen ist, scheint bei den jungen Wählern nicht mehr zu verfangen. In Frankreich, aber auch im Ausland stehen die Mitglieder der Dynastie Le Pen weiterhin stark im Rampenlicht. Und nicht zu vergessen: Der FN verankert sich immer mehr in den Regionen – langsamer als erwartet, aber doch sicher. Er setzt seine Verwurzelung im Norden und im Südosten Frankreichs fort, in Regionen, wo die Arbeitslosigkeit im Durchschnittswert höher ist als im übrigen Land.

Trotz des starken Schubs in der Präsidentschaftswahl fällt die Bilanz für den FN enttäuschend aus. Sowohl die Partei als auch ihre Vorsitzende Marine Le Pen konnten vom starken Absturz der etablierten Parteien nicht profitieren. Die große Mehrheit der Wähler hat sich, sei es aus Überzeugung, sei es durch Wahlabstinenz oder aus Widerstand, für die andere Alternative, für Emmanuel Macron entschieden. Dennoch bleiben 10,6 Millionen Stimmen für den FN am 7. Mai 2017 und die Tatsache, dass weniger als die Hälfte der Franzosen am 18. Juni 2017 zu den Urnen gegangen sind, eine deutliche Warnung für die gesamte politische Klasse. Das berühmte „Glasdach“, das die Schwierigkeiten des FN beim Durchbrechen des Widerstandes der Franzosen auf dem Weg zur Macht symbolisiert, hat in diesem Jahr noch gehalten. Aber die Unzufriedenheit der Franzosen, die sich vor allem in der breiten Wahlenthaltung manifestiert hat, ist keineswegs überwunden. Darin besteht eine der wirklich großen Baustellen für die neue Mehrheit in den kommenden fünf Jahren.

Aus dem Französischen übersetzt von Christof Dahm.


Beiträge des Autors zur Thematik in deutscher Sprache:


Fußnote:


  1. HEC steht für „École des hautes études commerciales“ (eine bedeutende Wirtschaftshochschule), ENA für „École Nationale d’Administration“ (Verwaltungshochschule mit Sitz in Straßburg, bekannt als die Kaderschmiede der französischen Verwaltung). ↩︎