Die Muslime in Montenegro – ein historischer Abriss
Zusammenfassung
Im späten Mittelalter traten Teile der Bevölkerung im Bereich des heutigen Montenegro zum Islam über. Der Beitrag skizziert die Geschichte der Minderheit durch die Jahrhunderte, in der sich Phasen des friedlichen Nebeneinanders mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung mit Abschnitten von Kampf und Unterdrückung abwechselten, bis zur heutigen Lage.
Beginn und Auswirkungen der Islamisierung
Wer sich in der Ferne für Montenegro interessiert, assoziiert es in religiöser Hinsicht wohl vor allem mit der christlichen Orthodoxie. Fast ein Fünftel der heutigen Bevölkerung ist jedoch mit dem sunnitischen Islam verbunden. Kulturell und ethnisch handelt es sich mehrheitlich um Bosniaken; aber auch ungefähr zwei Drittel der albanischen Minderheit und einige kleinere weitere Bevölkerungsgruppen stehen für dieses Erbe. Geschichtsgeographisch gilt die Regel, dass sich jenes Erbe nur in den Gebieten erhalten konnte, die erst 1878 oder später zu Montenegro gelangt sind. Der entsprechende Streifen zieht sich von der südlichsten Küste rund um Ulcinj und Bar über die Hauptstadt Podgorica, das südöstliche Bergland und dann im Nordosten bis hinauf zum Dreiländereck mit Serbien und Bosnien und Herzegowina. Um die Geschichte dieser diversen Muslime geht es im Folgenden.
Die Präsenz der Muslime auf dem Balkan und damit auch in Montenegro wird in der Historiographie mit dem Aufkommen des Osmanischen Reiches verbunden. In der Tat ist der Islam, ähnlich wie das Christentum, in Europa ursprünglich durch imperiale Herrschaft und Eroberungen vorangekommen. Das hatte deutliche Folgen für die Haltung ihm gegenüber bei seinen eigenen Anhängern ebenso wie bei denjenigen der anderen Religionen. Die Annahme des Islam durch südslawische Christen und andere Völker bezeichnen wir heute als Prozess von Islamisierung. Im Kern unterscheidet er sich nicht wesentlich von ähnlichen Vorgängen, etwa der Christianisierung, abgesehen davon, dass es ihn auf dem Balkan erst seit dem späten Mittelalter gibt und er noch später, negativ gespiegelt, mit einer ideologisch rigiden Konzeption vom Widerstand gegen die Osmanen verbunden worden ist. In den nichtmuslimisch geprägten nationalen Narrativen findet sich die Islamisierung nämlich häufig mit der Vorstellung einer „Vertürkung“ und von Renegatentum verknüpft. Mit dieser Konstruktion wird eine „Entfremdung“ und eine Art „Verrat“ an einem „eigentlichen“ nationalen Sein behauptet. Derjenige, der den Islam angenommen hat, ist in dieser Sicht gleichsam zum „Türken“ geworden. Die anfängliche tatsächliche Islamisierung sah freilich ganz anders aus: Ein Teil der balkanischen christlichen Führungsschichten hat den Islam früh angenommen, um seine Besitztümer im Gefolge des osmanischen Vormarsches zu bewahren, seine Vorrechte zu erhalten und das gesellschaftliche Vorankommen für sich selbst und die eigenen Nachkommen zu sichern. In der Folge hat die islamisierte Bevölkerung den osmanischen Staat als ihren eigenen betrachtet und die Nichtmuslime der Umgebung als Ungläubige. Eine tatsächlich türkische Bevölkerung hingegen hat es im gesamten westlichen Balkan so gut wie überhaupt nicht gegeben.
Montenegro war hierin keine Ausnahme. Die Quellen zeigen, dass gegen 1450 als erster ausgerechnet Petar Crnojević zum Islam übergetreten ist, der Bruder des montenegrinischen Herrschers Ivan Crnojević. Knapp drei Jahrzehnte später schickte der gleiche Ivan, nachdem sein Hauptsitz 1478 in osmanische Hände gefallen war, seinen jüngsten Sohn Staniša mit einem Teil seines Gefolges zur Ausbildung nach Konstantinopel. Dieser trat dort zum Islam über, absolvierte höhere Schulen und erhielt den Namen Skenderbeg Crnojević. In weiterer Folge sollte der Prozess der Islamisierung noch lange andauern und zumal in den Städten sehr intensiv vonstatten gehen. Auf dem Gebiet von „Altmontenegro“ allerdings verschwand die muslimische Bevölkerung mit Anfang des 18. Jahrhunderts, und zwar im Zuge von bis heute kontroversen Ereignissen, die man unter dem Titel „Auslöschung der Vertürkten“ kennt.
Ansonsten aber kam es zu keinem Abbruch der Islamisierung, sondern allenfalls zu einer gewissen Verminderung von deren Intensität. Mit dem Ausbau zum Beispiel der Stadt und Festung Nikšić zu Beginn des 18. Jahrhunderts und der Erneuerung einer ganzen Reihe von strategisch bedeutenden Festungsanlagen ging in diesem (damals noch zur Herzegowina gehörigen) Teil Montenegros die Islamisierung noch bis zum montenegrinischen Erwerb der Gebiete (1877/78) weiter. In der Summe zog sich der Gesamtprozess über annähernd fünf Jahrhunderte hin und resultierte in einer zahlreichen, gebiets- und ortsweise (besonders in den Städten) auch überwiegenden muslimischen Bevölkerung. Indirekt wurde der Prozess auch in seiner umgekehrten Form, der „Entosmanisierung“, sichtbar. Sie begann in der südosteuropäisch-balkanischen Großregion mit dem Ausgang des „Großen Türkenkrieges“ vom Ende des 17. Jahrhunderts und war von massiven Vertreibungs- und Fluchtbewegungen der Muslime auf das jeweils noch verbleibende osmanische Gebiet begleitet.
Nebeneinander und Gegeneinander von Christen und Muslimen
Der Blick auf das heutige Montenegro zeigt, wie bedeutend die machtpolitische Konkurrenz religiös konnotierter Staatswesen bei all dem gewesen ist. Das Osmanische Reiches griff auf nördliche Teile des heutigen Montenegro bereits Mitte des 15. Jahrhunderts aus, während entlang der seinerzeit venezianisch beherrschten Küste nach Herceg Novi (1482) erst fast ein Jahrhundert später (1571) mit Ulcinj und Bar zwei weitere Küstenorte osmanisch werden sollten. Dass die Osmanen niemals die gesamte östliche Adriaküste beherrscht haben, sondern dort mit der Republik Ragusa/Dubrovnik und vor allem mit den venezianischen Besitztümern christliche Staatswesen präsent blieben, wurde mit grundlegend für das Verhältnis von christlicher und islamischer Bevölkerung im angrenzenden Bereich. Es war von anhaltendem Konflikt sowohl der örtlichen Gemeinschaften des Hinterlandes wie auch von Angriffen (insbesondere aus und auf Ulcinj) entlang des Meeres geprägt. Diese Dauerkonstellation bewirkte bei der Bevölkerung beider Religionen die Ausformung einer spezifischen „Kriegerkultur“, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine charakteristische Verherrlichung von „Männlichkeit“ und „Heldentum“ hervorbrachte, die am ehesten in der abendländischen Ritterkultur einstiger Zeiten ein Pendant gehabt hat.
Ein grundlegendes Element der Regionalgeschichte liegt im „orientalischen“ Charakter, den die Stadtstrukturen durch die Islamisierung annahmen. Neben den Moscheen war eine ganze Reihe weiterer typischer Bauten kennzeichnend. Ihre teilweise Erhaltung bis heute macht große Teile der innereuropäischen Einzigartigkeit des balkanischen Erbes aus. Angesichts der hohen Bedeutung von „geschriebenem Wort und Wissen“ im Islam entwickelte sich auch bei den Balkanmuslimen eine starke schöpferische Tradition, die sich heute noch durch in der Region verfasste Koranmanuskripte und weitere religiöse Werke erkennen lässt.
Muslime als gefährdete Minderheit im unabhängigen Montenegro
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein waren die Beziehungen zwischen der muslimischen und der christlichen Bevölkerung entlang der jeweiligen montenegrinisch-osmanischen Grenze durch Zusammenstöße, Kämpfe und Kriegsereignisse ebenso geprägt wie durch Beziehungen zwischen Nachbarn oftmals gleicher Sprache, gleicher Bräuche und mit einem Bewusstsein wechselseitiger Verwandtschaft. Um die Tiefe jener Konflikte zu verstehen, braucht es einen Einblick in die Struktur des Osmanischen Reiches und insbesondere seines Steuerwesens. Für die Orthodoxen des später montenegrinischen Gebiets am wichtigsten war die auch für die arme Bevölkerung gültige Haushaltssteuer. Die Einhebung dieser und anderer Abgaben folgte einem hierarchischen System, bei dem der jeweils niederere Würdenträger dem jeweils übergeordneten verantwortlich für die Summen war, bis hinauf zum Sultan. Auf Steuerverweigerungen hatte stets zunächst die unterste Ebene zu reagieren, deren Vertreter den Steuerschuldnern häufig im Status und durch Verwandtschaft noch ganz nahe standen. Beschwerden der Untertanen gegen ihr Agieren und etwaigen Amtsmissbrauch waren an die nächsthöhere Ebene zu richten, gegebenenfalls wieder bis hinauf zum Sultan. Dieses anfänglich noch durchaus effiziente System konnte nur solange funktionieren, wie die Zentralgewalt stark genug und zur Kontrolle in der Tiefe des Raums imstande war. Das war bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts der Fall; dann zeigten sich erste Risse im System, bis es Anfang des 19. schwer beschädigt und Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend zerfallen dastand. Ein tragendes Systemsegment fußte in der örtlichen muslimischen Bevölkerung, die auch das Heer, die allgemeine Verwaltung und das eigene konfessionsgebundene Bildungswesen zu schultern hatte.
Auf dem Berliner Kongress (1878) erlangte Montenegro die völkerrechtliche Anerkennung seiner Unabhängigkeit und übernahm zugleich völkerrechtliche Verpflichtungen und Vorgaben zum Schutz der Nichtorthodoxen innerhalb seiner neuen Grenzen. Während in den vormals herzegowinischen, schon Mitte 1877 militärisch eingenommenen Territorien rund um Nikšić kaum ein Muslim hatte verbleiben können, fand sich weiter im Süden innerhalb der erst 1878-1880 erworbenen Gebiete zwischen Bar, Ulcinj und Podgorica zum ersten Mal seit fast 200 Jahren wieder eine größere Anzahl auf dem Boden Montenegros. Eine zeitgenössische Erhebung hielt 2.489 muslimische Haushalte mit 12.051 Bewohnern fest. Im Fürstentum und späteren Königreich der Vorkriegsjahrzehnte (1878-1912) ging die Vergesellschaftung der Muslime nun beschleunigt voran; charakteristisch für damals war die religionspolitische Toleranz des per definitionem immer noch orthodoxen Staates gegenüber Muslimen und Katholiken.
Probleme gab es freilich weiterhin. Das erste lag in der Frage des Eigentums an den Besitztümern von aus dem Land geflohenen Muslimen, beziehungsweise um die Verfügungsgewalt über dieses Eigentum. Die Bestimmungen des Berliner Vertrags sahen für die Gewichenen die Möglichkeit zu einem geregelten Verkauf ihres Eigentumes vor; aber nicht selten wurden staatliche Akte wirksam, mit denen arme Orthodoxe oder auch schlicht und einfach Usurpanten das zuvor fremde Eigentum auf ganz andere Weise erhielten. Das zweite Problem betraf die Eingliederung der Muslime in das sich langsam ausformende staatlich-montenegrinische Schulwesen. Viele Eltern hatten Sorge, dass dies der erste Schritt zum Verlust des Glaubens ihrer Kinder wäre, und bevorzugten das traditionelle System der islamischen Religionsschulen (mekteb). Durch positive Vorbilder von einzelnen, teils staatlich geförderten Absolventen der öffentlichen Schulen nahm dieses Problem mit der Zeit an Bedeutung ab. Das dritte Problem lag im Wehrdienst. Analog zu den Christen im Osmanischen Reich erhielten die muslimischen Staatsbürger Montenegros die Möglichkeit, gegen eine Wehrsteuer vom Dienst befreit zu werden. Mit der Zeit aber änderte sich dies, sodass bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Formierung eines „mohammedanischen Bataillons“ innerhalb der Armee geschritten wurde. 1909 verfügte die Islamische Gemeinschaft über 36 Moscheen, verteilt auf die Bereiche Ulcinj, Bar und Podgorica. Vom gleichen Jahr an wurden der Mufti der Islamischen Gemeinschaft und weitere Glaubensdiener wie zuvor nur die orthodoxe Geistlichkeit aus der Staatskasse bezahlt.
Durch die Gebietserweiterung in den Balkankriegen kamen zu Montenegro jedoch Bereiche hinzu, in denen die Muslime die Mehrheit stellten (Pljevlja, Bijelo Polje, Berane, Plav, Gusinje und im heutigen Kosovo Đakovica/Gjakova und Peć/Peja). Die Politik veränderte sich nun auf dramatische Weise. Montenegro wich von der erreichten Toleranz ab und ließ die heimischen Muslime nun wieder durch bittere Repression für die „türkische Schuld“ bezahlen. Neben zahlreichen Todesopfern, mit oder ohne improvisierte Militärjustiz, stellte eine Zwangstaufe von rund 12.500 Muslimen im Raum zwischen Plav und Peć ab März 1913 den sichtbarsten Höhepunkt dar. Eine Intervention des Königshauses und die Entsendung einer Untersuchungskommission lieferten nicht nur eindeutige Beweise für die Missbräuche und Gewalt der örtlichen Organe, sondern ermöglichten den Zwangsbekehrten am Ende die Rückkehr zu ihrem islamischen Glauben, wovon fast alle Gebrauch machten.
Die schlimmste Gewalt war damit einstweilen beendet, und doch bedeuten im Rückblick jene Eroberungsereignisse den Einstieg in ein für die montenegrinischen Muslime „blutiges 20. Jahrhundert“. In jedem weiteren Krieg, aber auch in manchen vermeintlich friedlichen Zeiten gerieten sie zu Opfern von Verfolgungen, die mit der „Rache für türkische Verbrechen“ begründet wurden. Ihre Zahl ging nicht nur durch Kriegsgewalt erheblich zurück, sondern nahm auch in langen Friedensabschnitten anders als bei der montenegrinischen Mehrheit zunächst kaum wieder zu: Die Volkszählung von 1921 zeigte auf heute montenegrinischem Boden 55.798 Personen islamischen Glaubens, 1931 gab es dann entgegen dem allgemeinen Trend nur geringfügig mehr, nämlich 61.038. 1924 hatte sich derweil das größte Einzelverbrechen „mitten im Frieden“ ereignet, als in einer einzigen Novembernacht eine ganze Talschaft (am Fluss Vraneš) von Muslimen „gesäubert“ wurde. Hunderte kamen ums Leben. Der südslawische Staat, obwohl immerhin eine parlamentarische Monarchie, brachte dazu keinerlei Untersuchung zustande, und niemand wurde je dafür zur Verantwortung gezogen. In dieser Linie betrachtet war auch die massive Verfolgung der Muslime durch die serbischnationale Četnik-Bewegung im Zweiten Weltkrieg (1941-1945) nicht bloß ein Pfeiler von deren Plan für ein homogenes Großserbien, sondern die Fortsetzung eines Prozesses, in dem „Entosmanisierung“ Gewalt gegen diesen Teil der Bevölkerung bedeutete.
Das 20. Jahrhundert: Konsolidierung und Integration
Die demgegenüber von der kommunistischen Bewegung im Zweiten Weltkrieg gebotene Perspektive war für die Muslime als Schutz vor den Verfolgungen durch die Četniks akzeptabel. Zugleich aber war sie ein radikaler Bruch mit der religiösen Tradition, für die die kommunistische Ordnung nur soweit Raum ließ, wie sie im Verborgenen gelebt wurde. Dennoch positionierte sich die Mehrheit der Muslime positiv gegebenüber Tito-Jugoslawien (1945-1991), und zwar nicht nur wegen der friedlichen und verhältnismäßig gesicherten Lebensumstände, sondern mehr noch wegen ihrer gesellschaftlichen Integration, die allenthalben wirksam wurde. Allerdings gibt es auch für diese Zeit erhebliche Wellen der Aussiedlung in die Türkei (1958-1971) und vor allem danach auch in die westlichen Länder zu verbuchen.
Bemerkenswerterweise fand auch in Montenegro und Serbien parallel zu der nationalpolitischen Anerkennung in Bosnien und der Herzegowina (1968) ein Prozess der nationalen Selbstidentifikation und der Umwandlung der (slawischen) Muslime in die gleichnamige Nation statt. Diese Selbstidentifikation blieb in Montenegro noch über ein Jahrzehnt lang dominant, nachdem in Bosnien unter dem Zeichen des Krieges eine Wandlung hin zum bosniakischen Selbstverständnis stattgefunden hatte. Im März 2003 aber traten mehr als 150 Intellektuelle mit einer öffentlichen „Namensdeklaration“ auf, deren Kernsätze lauteten: „Die Bezeichnung ‚Bosniake‘ ist der historisch verankerte und adäquate Name auch für den in Montenegro lebenden Teil der Nation“, und: „Wir werden uns nicht durch die Bezeichnung von der Nation entzweien, zu der wir gehören.“
Der Prozess ging nicht schlagartig vonstatten und dauert bis zu einem gewissen Grade immer noch an: Während sich 2003 bei der Volkszählung 7,77 Prozent der Gesamtbevölkerung als Bosniaken und 3,97 Prozent als Muslime deklarierten, lauteten diese Zahlen bei der bislang letzten Volkszählung von 2011 8,65 Prozent und 3,31 Prozent. Die Integration in die montenegrinische Gesellschaft dagegen kann als abgeschlossen gelten. Beim Unabhängigkeitsreferendum von 2006 sprachen sich 99 Prozent dieser Volksgruppe für den eigenen Staat aus, in dessen öffentlichem Leben sie auf allen Ebenen voll anerkannt und vertreten sind und in dem sie als eines der Grundrechte heute auch die volle Glaubensfreiheit genießen.
Aus dem Bosnischen übersetzt von Konrad Clewing.