Die Zitadelle des Friedens
Die Drohkulisse
Das noch immer im Aufbau begriffene europäische Haus durchlebt eine stürmische Phase. Nachdem sein Grund in einer vom Gleichgewicht des Schreckens gesicherten Zeit des „kalten Friedens“ gelegt wurde und sein Aufbau nach dem freiheit- und friedenbringenden Aufbruch von 1989 Gestalt gewann, ist dieser neuerdings durch die über die Welt hereingebrochene Kriegsdrohung gefährdet: Das kommt schon als Drohung einer Niederlage gleich. Denn in Gestalt des europäischen Hauses war auf dem blutgetränkten Böden Zentraleuropas eine Zitadelle des Friedens inmitten einer instabilen und von Krisen erschütterten Welt entstanden, mit der sich die Hoffnung verband, dass von dieser befriedende Impulse auf diese ausgingen. Umgekehrt wirkt sich schon die Androhung eines Krieges destruktiv auf alle davon Betroffenen aus. Denn in Kriegs- und Vorkriegszeiten schweigen nicht nur die Musen, sondern mit ihnen zusammen auch die Stimmen der Seher und Weisen, die den rettenden Ausweg hätten zeigen können. So vollzieht sich der europäische Aufbau im Schatten einer ausgesprochenen Drohkulisse.
Falls diese Bestimmung zutrifft, verweist diese Kulisse aber zurück auf das, was sie verdunkelt. Damit stellt sich die Frage nach den zeitgeschichtlichen Bedingungen, die den europäischen Aufbau ermöglichten. Wenn man die politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren beiseite lässt, konzentriert sich die Frage auf die Grundstruktur des Zeitgeschehens, die nach der Analyse Sigmund Freuds in der progressiven Verwirklichung von Menschheitsträumen besteht. Es ist die Zeit der sich Zug um Zug realisierenden Utopien, wenngleich begleitet von desaströsen Rückschlägen, die nicht weniger das Gesicht der Epoche des heutigen Menschen verfremden.
Zu diesen Traumzielen gehörte das im Prometheusmythos entworfene der Bändigung des „himmlischen Feuers“, das der Sternenreise, das im Schwarzwaldmärchen vom „kalten Herzen“ geahnte des Kunstherzens (Hauff) und die in Goethes Homunculus-Szene anvisierte Kreation eines künstlichen Menschen. Als höchstes Traumziel der Menschheit aber hat noch immer die Utopie des ewigen Friedens zu gelten, die entgegen dem von Kant in seiner Denkschrift „Zum ewigen Frieden“ gehegten Pessimismus durch die Gunst der Zeitverhältnisse in fast schon greifbare Realitätsnähe gerückt zu sein schien. Das erwies sich allerdings durch den Rückschlag, den die Friedenshoffnung durch die neuerliche Kriegsdrohung erlitt, als nahezu vermessene Illusion. Der Friede fällt der Menschheit nicht in den Schoß. Er muss verdient, und das besagt, er muss denkerisch, menschlich und politisch verankert werden. Und das nötigt zum Entwurf eines neuen Friedensbewusstseins, zur Klärung der Frage nach der Friedensfähigkeit des Menschen und zur Verdeutlichung der Vision von einem – als Zitadelle des Friedens zu verstehenden – neuen Europa.
Das Friedensbewusstsein
Wenn es in der Erörterung des Friedens zu einer Wende zum Besseren kommen soll, dann vor allem auf dem Weg einer Denkwende. Denn solange der Friedensgedanke nur im Bereich der Wünschbarkeiten angesiedelt wird, ist jeder Schritt zu seiner Verwirklichung durch ein falsches Denken untergraben. Mit dem gängigen Begriffspaar „Krieg und Frieden“ wird der Friede bereits an den Krieg verraten. Auch wenn ein Volk im Sinn der kantischen Friedensschrift den Beschluss fasst: „Unter uns soll kein Krieg mehr sein“, geht das mit dem Vorbehalt einher, dass trotzdem mit dem Ausbruch eines neuen Kriegs gerechnet werden muss. Wenn der Friede aber als die höchste aller Menschheitsutopien zu gelten hat, wird ihm nur ein Denken gerecht, das ihn der Gruppe der höchsten Ideen zuordnet: der Gottesidee, der Ideen des Wahren, des Guten und der Freiheit, die allesamt durch das Moment der Alternativlosigkeit gekennzeichnet sind. Denn so wenig wie der Teufel den Gegensatz zu Gott, der Irrtum den Gegensatz zur Wahrheit, das Böse den Gegensatz zum Guten und die Knechtschaft den Gegensatz zur Freiheit bildet, ist der Krieg der Gegensatz zum Frieden. Und so wie der streng gefasste Gottesbegriff dem anselmischen Argument zufolge die Gewissheit von Gottes Dasein impliziert, geht von dem in seiner Alternativlosigkeit gefassten Begriff des Friedens eine intellektuelle Nötigung zur Verwirklichung des Friedens aus. Vom Frieden kann deshalb im Grunde nur emphatisch gesprochen werden. Dem trägt die Botschaft des Evangeliums in der Form Rechnung, dass sie zu Beginn der Bergpredigt in Form der Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,8) vom Frieden spricht. Dass sie auch um die Alternativlosigkeit des Friedensgedankens weiß, beweist der Jakobusbrief, sofern er das jesajanische Programmwort „Gerechtigkeit schafft Frieden“ auf den Kopf stellt und den Frieden zum „Boden“ der Gerechtigkeit und diese zur „Frucht“ des Friedens erklärt (Jak 3,18).
Wenn etwas gegen die gegenwärtige Kriegsdrohung und die damit heraufbeschworenen Gefahren im geistigen, gesellschaftlichen und politischen Leben aufkommt, dann nur dieses auf das Prinzip der Alternativlosigkeit gegründete Friedensbewusstsein, dem durch das am emphatischen Redestil des Evangeliums geschulte Wort und durch entschlossenen Einsatz für die Sache der Friedens, der Verständigung und Versöhnung Vorschub geleistet werden muss.
Die Friedensfähigkeit
Ist diese Insinuation aber nicht durch die vielfach behauptete Unfähigkeit des Menschen zu wirklichem und dauerhaftem Frieden von vornherein in Frage gestellt? Wenn der von zahlreichen Denkern geteilte Pessimismus Kants, wenn Spenglers These vom Raubtiermenschen und Burkerts Rede vom „homo necans“ Recht behielten, wäre der Appell freilich in den Wind gesprochen. In diesem Fall würde die Diskussion aber gar nicht stattfinden, weil sich die Menschheit dann schon bei ihrem Entstehen ausgerottet hätte. Tatsächlich aber konnte sie nur überleben, weil der als „Mängelwesen“ ins Dasein tretende Mensch (Gehlen) nur im Schutz der Gruppe zu überleben vermochte. Allerdings bedurfte es des langen, von Norbert Elias für den europäischen Lebensraum nachgezeichneten Erziehungsprozesse, bis jener Grad menschlicher Selbstkontrolle erreicht war, der ein relativ gewaltfreies Zusammenleben ermöglichte. Dazu bedurfte es der allgemein akzeptierten Einsicht, dass auf das anfängliche Faustrecht keine menschenwürdige Lebensordnung gegründet werden konnte, und dass statt dessen das gewaltbereite Privatrecht an das gesellschaftliche Kollektiv in Gestalt des Staates abgetreten und ihm die Wahrnehmung privater wie allgemeiner Rechtsansprüche überlassen werden musste. Wie schon die Eindämmung des mittelalterlichen Fehdewesens durch die kirchlich verordnete „treuga dei“ zeigt, spielte dabei die Religion eine erhebliche Rolle. Dass im Vergleich damit der von Elias beschriebene Prozess der Zivilisation nicht allzu hoch angesetzt werden darf, bestätigt ein von alter Weisheit eingegebener Spruch aus Laotses Tao-te-king, der den progressiven Verfall der tragenden Ordnungsgestalten beklagt. Danach bleibt nach dem Verfall der Religion die Kultur, nach deren Verfall die Politik. Verfällt aber auch diese, so bleibt nur noch die Zivilisation: „des Chaos dünner Oberzug und der Anfang der Verwirrung“. Das aber heißt, dass schon ein einziger Anstoß hinreicht, um die vom Prozess der Zivilisation geschaffene Lebensordnung zum Einsturz zu bringen und die anfängliche Barbarei aufs neue ausbrechen zu lassen.
Wie die neueste Lektion der Geschichte lehrt, besteht der Beweggrund dieses Rücksturzes in der von Rachegefühlen begleiteten Angst. In der Angst bricht, mit Nietzsche gesprochen, der „schreckliche Grundtext homo natura“ unter der verfallenden Decke der Zivilisation durch. Denn der geängstigte Mensch ist zwar zunächst wie gelähmt; wenn er aber keinen Ausweg mehr sieht, wird er unberechenbar und aggressiv. Wenn ein ganzes Kollektiv oder gar ein Volk diesem Zustand verfällt, sind anarchistische und von keiner Vernunft mehr kontrollierte Reaktionen zu befürchten, die zur Gefährdung des Weltfriedens führen können.
Die Befestigung
Wenn der Aufbau des neuen Europa der Errichtung einer Zitadelle gleichkommt, ist damit die Frage nach ihrer Befestigung aufgeworfen. Vor diese Frage sah sich der Visionär dieses Ziels, Novalis, bei der Ausarbeitung seiner Abhandlung „Die Christenheit oder Europa“ noch nicht gestellt. Vielmehr ist er von der Idee einer vom Vorgefühl einer neuen, von Hoffnung und Liebe getragenen „universellen Individualität“ derart hingerissen, dass er ihr die Fähigkeit zu spontaner Selbstverwirklichung zutraut. Um so nachdrücklicher stellt sich die Frage der Befestigung angesichts der aufgebrochenen Erosionskräfte heute. Wenn sich in diesem destruktiven Sinn vor allem die hinter der peremptorischen Kriegsdrohung verborgene Lebensangst auswirkt, muss die Sicherung des europäischen Aufbaus mit dem Versuch ihrer Überwindung ihren Anfang nehmen. Dafür spricht insbesondere die Tatsache, dass der Initialstoß zur europäischen Einigung vom freiheitlichen Aufbruch von 1989 ausging, mit der die während des kalten Kriegs drohende Möglichkeit eines Zusammenstoßes der Nuklearmächte definitiv gebannt zu sein schien.
In dieser in ihrer eminenten Bedrohlichkeit erst im Nachhinein allgemein erkennbaren Gefahr war aber auch klar geworden, dass die allenthalben spürbar gewordene Angst, so sehr sie politisch motiviert war, mit den Mitteln der Politik allein nicht beseitigt werden konnte, zumal Werner Bergengruen in seinem Roman „Am Himmel wie auf Erden“ (1940) darauf hingewiesen hatte, dass die Angst ihre Anlässe überdauert und unter ihren Erscheinungsformen stets diejenige auswählt, die ihre Opfer am heftigsten stigmatisiert. Hilfe ist in dieser Situation aber auch nicht von der Wissenschaft oder Gesellschaft zu erwarten, sondern allein von der durch ihr Prinzip zur Angstüberwindung fähigen Religion, dem Christentum. So ist dieses schon bei der Stabilisierung Europas gefragt. Und es ist kein Zufall, dass es noch vor der Theologie die christliche Dichtung war, die auf die vom Glauben gebotene Hilfe verwies.
Es ist, genauer gesagt, der christliche Gottesglaube, der zur Angstüberwindung verhilft und so den Aufbau einer Zitadelle des Friedens sichert. Denn durch seine Entdeckung des bedingungslos liebenden Gottes riss Jesus die tiefste Pfahlwurzel der Angst, die vor dem Verlust des letzten, unverbrüchlichen Halts sicherte, aus dem Herzen der Seinigen. Durch sein Gebot der Nächstenliebe beseitigte er die Befürchtung, dass sich der ersehnte Partner von heute, wie es nur allzu oft geschieht, in einen verhassten Feind verwandeln könne. Und mit seiner Berufung des Menschen zur Gotteskindschaft – seiner weltweit verschenkten Gottessohnschaft – überwand er die unheimlichste aller Ängste: die Angst des Menschen vor sich selbst. So aber schafft er jenen Raum des Aufatmens, des Vertrauens und der Hoffnung, ohne den kein Aufbauwerk, am wenigsten das des europäischen Hauses zustande kommt.
Der Exorzismus
Dem aber steht der sich aller Bereiche bemächtigende Ungeist entgegen, den Nietzsche als seinen schlimmsten Widersacher ausmachte und als den „Geist der Schwere“ bezeichnete. Dabei handelt es sich um die jede Inspiration und Initiative lähmende kollektive Depression, die den Glauben zum Gehorsam, die Hoffnung zu einer Illusion, die Liebe zu einer Pflicht, die Arbeit zu einer Fron, das Zusammenleben zu einem Kampf, die Kirche zu einer Institution und die Theologie zu einer Ideologie werden ließ. Wenn Nietzsche in diesem Zusammenhang „Gesetz und Satzung“ als die vorzüglichsten Instrumente dieses Ungeists nannte, gab er ihm damit auch die Schuld daran, dass das Christentum in jene Schieflage geriet, die es in den Augen der Meisten als eine genuin moralische Religion erscheinen und seine Ziele hauptsächlich durch Direktiven und Verbote anstreben lässt. Er ließ aber auch keinen Zweifel daran, dass das Christentum dann gleich anderen Kulturgestalten dazu verurteilt sei, in einem sich lange hinziehenden Akt der „Selbstauflösung“ an seinen eigenen Hervorbringungen Zugrundezugehen.
Deshalb ist ein Exorzismus angesagt, der den Geist der Schwere von seiner Wurzel her angreift und ihn aus der gegenwärtigen Lebens- und Glaubenswelt vertreibt. Das wird durch defensive Maßnahmen nicht zu erreichen sein. Wenn man mit Margarete Mitscherlich davon ausgeht, dass sogar die Liebesfähigkeit des Menschen davon abhängt, ob er im Andern das von ihm insgeheim gesuchte „Ideal zu sehen vermag“, ist der bessere Weg eindeutig vorgezeichnet. Es geht darum, den europäischen Gedanken mit einem persuasiven „Mehrwert“ auszustatten, konkreter gesprochen, ihn als das allen Beteiligten vorschwebende Ideal erscheinen zu lassen. Es ist zu wenig, Europa nur als politisches Konstrukt und kollektive Aufgabe darzustellen; vielmehr muss der Gedanke in ein verklärendes Licht getaucht und von einer „Vision Europa“ gesprochen werden. Und dies, gestützt auf die Überzeugung, dass ein gemeinsam erstrebtes Ideal mehr als jedes Programm und jeder Appell zur Freisetzung der verfügbaren Kräfte befähigt und für deren Einsatz mobilisiert. Das müsste in den Schulen und Betrieben seinen Anfang nehmen und sich nicht zuletzt des Bewusstseins der Politiker, Wissenschaftler und Künstler bemächtigen. Vor allem aber müssten sich die Theologen fragen, was sie zur Fundamentierung des europäischen Hauses beitragen könnten.
Die Tragpfeiler
Dem von Novalis mit „Die Christenheit oder Europa“ ausgegebenen Programmziel liegt die Überzeugung zugrunde, dass nur das als Religion der Freiheit und des Friedens begriffene und zu Solidarität und Toleranz anleitende Christentum dem Aufbau Europas Bestand und Dauer verleihen könne. Mit Liberalität, Solidarität und Toleranz sind dann auch schon jene Prinzipien angesprochen, ohne die der Ruin des kaum erst entstandenen Gemeinschaftswerks bereits absehbar wäre. Sie gelten gemeinhin, insbesondere unter dem Eindruck von Lessings „Nathan dem Weisen“, als Errungenschaften der Aufklärung. Doch war niemand klarer als Lessing bewusst, dass die Aufklärung zwar entscheidend zur weltweiten Promulgation dieser Prinzipien beitrug, dass sie aber ursprünglich als Gaben des Christentums an die in Unfreiheit, Unbarmherzigkeit und Hass versunkene Welt zu gelten haben. Denn das Christentum brach nicht nur die Fesseln der Sklaverei, denen das elementare Menschenrecht der Freiheit vorenthalten war; es verhalf der Freiheit überdies zu einem neuen Stellenwert, sofern es sie als Freisetzung der je größeren Möglichkeilen des Menschseins zu begreifen lehrte; es brachte durch das Gebot der uneingeschränkten Nächstenliebe Wärme in die Kältehölle der antiken Gesellschaft, und verpflichtete seine Anhänger dazu, alle religiösen und sozialen Konflikte im Geist der Toleranz zu bewältigen.
Gerade in dieser Hinsicht steht sich das Christentum aber mit seiner weithin von Gewalt, Unterdrückung und Intoleranz geprägten Geschichte selbst im Weg. Deshalb muss sich, synchron mit dem Aufbau des neuen Europa, eine Neuentdeckung des Christentums vollziehen, die die Freilegung seiner weithin verdunkelten Mitte zum Ziel hat. Auch in diesem Sinn gilt „Die Christenheit oder Europa“. Wenn diese Worte nicht als Alternativen, sondern so, wie von Novalis gemeint, als Synonyme verstanden werden, wird das neue Europa als Zitadelle des Friedens in die Geschichte eingehen, die die größte aller Menschheitsutopien einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung voranbringt.