1920: Die Schlacht von Warschau 1920 („Das Wunder an der Weichsel“)
„Warum will meine Traurigkeit nicht vergehen?“, vertraut Isaak Babel am 6. August 1920 seinem Tagebuch an. „Weil ich fern von zu Hause bin, weil wir zerstören, weiterziehen wie ein Wirbelsturm, ein Lavastrom, von allen gehaßt, das Leben stiebt auseinander, ich bin auf einer großen, nicht enden wollenden Totenmesse.“ (Tagebuch 1920. Aus dem Russischen von Peter Urban. Zürich 1998, S. 95). Seine Bilder vom polnisch-russischen Krieg des Jahres 1920 spiegeln den wilden, revolutionären Impetus der jungen Roten Armee wider: Vor kurzem hat sie Kiew von Polen zurückerobert, das versuchte, gemeinsam mit der Ukrainischen Volksrepublik die drohende bolschewistische Gefahr zu bekämpfen. Nun aber bricht die polnische Front zusammen, die bolschewistischen Truppen sind bereits nördlich von Warschau nach Westen bis an die deutsche Grenze vorgestoßen. Babel, immer noch in der Ukraine, notiert den Schrecken des Kriegs: „Weiter vorn steht der Feind. Zwei nackte erstochene Polen mit kleinen zerstückelten Gesichtern blinken im Roggen in die Sonne.“ (Tagebuch, ebd., S. 118). Plünderung, Mord, Vergewaltigung. Polen fürchtet um seine nach mehr als 120 Jahren gerade erst wiedererlangte Unabhängigkeit.
Doch die russischen Linien sind überdehnt und Polens Militärführer Józef Piłsudski erkennt die Chance: Südöstlich des bereits belagerten Warschaus lässt er Mitte August 1920 die polnische Armee angreifen, bald sind die von Michail Tuchatschewski befehligten roten Armeen bedroht, hastig kommt es zum Rückzug. „Wunder an der Weichsel“ wird diese Schlacht von Warschau genannt, eine ursprünglich polemische Bezeichnung von Piłsudskis innenpolitischen Gegnern, die ihm den Erfolg nicht gönnen und ihn höheren Mächten oder französischen Militärberatern zuschreiben. Doch es ist und bleibt ein Erfolg – die polnische Armee geht wieder in die Offensive, bis im Oktober ein Waffenstillstand in Kraft tritt und 1921 im Vertrag von Riga die polnisch-sowjetische Grenze festgelegt wird. Aus polnischer Sicht war die Schlacht nichts anderes als die Rettung des Vaterlandes, für Sowjetrussland endete mit ihr zunächst einmal die Expansion des Kommunismus in den Westen – zumindest vorläufig.