1936: „Chaos statt Musik“
Der 1906 geborene Dmitri Schostakowitsch gehörte zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Als 1934 seine zweite Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ uraufgeführt wurde, die auf einer Erzählung von Nikolaj Leskow basierte, war Schostakowitsch schon weithin bekannt; die Oper wurde in Leningrad wie in Moskau mit großem Erfolg vielfach auf die Bühne gebracht und auch im Ausland gespielt.
Im Januar 1936 besuchte Stalin eine Aufführung in Moskau. Zwei Tage später erschien in der „Prawda“ ein Artikel mit dem Titel „Chaos statt Musik“. Der Artikel war nicht namentlich gezeichnet, was bedeutete, dass er die Linie der Partei ausdrückte. Darin wurde die Oper auf das Gröbste beschimpft, und dem Komponisten wurden Formalismus und Naturalismus statt des Sozialistischen Realismus vorgeworfen.
Der Artikel hatte enorme Konsequenzen. Das Stück wurde unverzüglich von allen Bühnen im Land abgesetzt; die meisten Kritiker (die darin auch angegriffen worden waren) widerriefen ihre positiven Wertungen. Schostakowitsch selbst zog seine vierte Symphonie zurück, die kurz vor der Uraufführung stand, und wurde gesellschaftlich isoliert. Erst mit seiner fünften Symphonie, die von der offiziellen Kritik als Ausdruck der Reue eines fehlgegangenen Komponisten gewertet wurde, und vor allem mit der sechsten, der „Leningrader Symphonie“, konnte er wieder an seine früheren Erfolge anknüpfen.
Diese Episode ist auch für die sowjetische Kulturpolitik aussagekräftig. Das Verdikt der Parteioberen genügte, um das Schaffen von Künstlern zu beenden, und nicht wenige mussten in der Epoche des Stalinismus mit ihrem Leben dafür bezahlen, Werke geschaffen zu haben, die nicht mit der Parteilinie konform waren. Schostakowitsch überlebte; eine von ihm überarbeitete entschärfte Fassung konnte 1963 aufgeführt werden. Die Noten der Originalfassung wurden 1979 in den Westen geschmuggelt, publiziert und häufig gespielt. In Russland war eine Aufführung erst 1996 wieder möglich.