Europa am Scheideweg: Religion in der Welt der Politik
Zu Beginn dieser Anmerkungen muss der Vorbehalt gemacht werden, dass ich mir voll bewusst bin, welch unzureichend bestimmtes und trügerisches Gelände die Reflexion über die Rolle des religiösen Faktors im modernen Leben darstellt. André Malraux schrieb einmal, das kommende 21. Jahrhundert werde entweder religiös oder überhaupt nicht sein. Diese Worte drückten das Gefühl aus, dass die Tradition der Aufklärung sich erschöpft habe, ferner die Überzeugung, dass die düsteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Europa zu einem metaphysischen Bedürfnis nach Transzendenz gebracht hätten. Auf dieser Ebene müsste man die Frage des Glaubens erforschen, also eine Sphäre, die mir als delikater Raum individuellen Erlebens erscheint, eines Raums, dem ich den einer Analyse des öffentlichen Lebens eignenden Diskurs nicht anpassen könnte. Damit beschäftige ich mich in diesem Text nicht. Ich beabsichtige nur, das Thema des Ortes des religiösen Faktors im öffentlichen Leben Europas in seiner sozialen (oder auch gemeinschaftlichen) Dimension aufzugreifen.
Imperiale Traditionen der Einheitsbildung
Im langen Prozess des sich bildenden Europas kann man zwei fundamentale Traditionen unterscheiden – die imperiale und die gemeinschaftliche. In der ersteren ging es darum, Europa durch Dominanz zu einen. Dies betrifft sowohl das Reich Karls des Großen wie das Reich Karls V. Zweifellos spüren wir die Bedeutung des karolingischen Reiches, denn der karolingische limes bezeichnete die erste Etappe einer europäischen Konstruktion in einem über den römischen limes hinausgehenden Maß, aber auch sein kulturelles und geistiges Erbe hatte für das künftige Europa begrenzte Bedeutung. Auf das Reich Karls V. um die Mitte des zweiten Jahrtausends beziehen wir uns selten, dabei hat es doch dieser König Spaniens seit 1516 und Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches“ seit 1519 vermocht, Burgund, Norditalien, den neapolitanischen Staat und die Niederlande seinem Herrschaftsbereich einzufügen und ihn danach auch um die neuentdeckten Länder in Amerika zu erweitern. Dennoch gelang es ihm nicht, die Ausbreitung des Protestantismus aufzuhalten und im Zusammenhang mit der Verteidigung gegen die Türken ein katholisches Europa zu einen. 1555 akzeptierte er mit dem Augsburger Religionsfrieden das Prinzip „cuius regio eius religio“, das jedem Fürsten das Recht gab, die Konfession zu wählen und sie seinen Untertanen aufzuzwingen. Als müßig hatte sich der Traum von der Einheit eines katholischen Europas erwiesen.
Als kurzfristiges Unternehmen erwies sich auch die imperiale Expansion Napoleons, mit der Bonaparte das Reich Karls des Großen wiederherstellen wollte. Diese Expansion schien eine europäische Einheit zu errichten, indem sie fast alle Territorien des Kontinents unter der kaiserlichen Macht vereinigte – mit einheitlicher Verwaltung, mit einem vereinheitlichten System der Maße und Gewichte sowie mit einem politischen und kulturellen Übergewicht Frankreichs. In Wirklichkeit weckte die revolutionäre und napoleonische Expansion jedoch in ganz Europa nationale Gefühle und Bestrebungen, sie initiierte eine Ära der Herrschaft von Nationalismen und Nationalstaaten in Europa.
Die Tradition der imperialen Vereinigung Europas wurde von den Gründungsvätern der europäischen Integration verworfen. Versuchungen dazu zeigten sich in verschiedenen Momenten des Integrationsprozesses, insbesondere in Form eines Strebens zur Schaffung eines Hegemonialsystems innerhalb der Gemeinschaft, aber sie waren erfolglos. Die Befürchtungen blieben jedoch und wurden nicht nur von den kleineren europäischen Staaten, sondern auch von Einzelpersonen empfunden. Der französische Philosoph Edgar Morin erinnert daran, dass er gegenüber der europäischen Idee feindlich eingestellt war, weil er sie nach den Erfahrungen des letzten Krieges mit der Nazi-Idee einer imperialen Expansion assoziierte, die zum Bau eines „neuen Europas“ hatte führen sollen.
Europa: Christentum und Humanismus
Die erste Form einer gemeinschaftlichen Vereinigung war das mittelalterliche, durch das Christentum verbundene Europa. Indem das Christentum die Aufteilung des Erbes aus dem römischen Reich zwischen dem Osten und Westen sanktionierte, teilte es sich in das griechische und römische. Auf diese Weise wurde eine zivilisatorische Trennung festgelegt, die zu einem Phänomen „von langer Dauer“ mit Konsequenzen wurde, die bis in unsere Zeiten reichen. So formierte sich die Christianitas – die lateinische politische und kulturelle Gemeinschaft mit dem Papst und dem Kaiser an der Spitze. Das mittelalterliche Europa wird durch den Prozess der Christianisierung geschaffen, der auch ein Prozess der Akkulturation der unterschiedlichen europäischen Völker ist (im 10. Jahrhundert treten die skandinavischen und slawischen Völker in diesen Prozess ein, und im 14. Jahrhundert erfolgt die Christianisierung des letzten europäischen Landes – Litauens). Die Gemeinschaft von Religion und Kultur formt diese erste europäische Einheit, wobei – im Unterschied zum östlichen Christentum wie auch zum Islam – es in dieser Gemeinschaft keine theokratische Macht gibt, sondern das Prinzip der Trennung von weltlicher und geistlicher Macht entsprechend dem Gebot des Evangeliums verwirklicht wird, dass man „dem Kaiser geben“ solle, „was des Kaisers ist“. Die mittelalterlichen Universitäten sind Institutionen, die diese Gemeinschaft des christlichen Europas auf starke Weise verbinden, und das Netz gotischer Kirchen kann bis zum heutigen Tag als Merkmal des europäischen Raums gesehen werden. Die Einheit der europäischen Gemeinschaft stand nicht in Widerspruch zur Heterogenität der Monarchien, die sich gerade damals auf der Basis ethnischer Bindungen herausbildeten. Jacques le Goff hat zutreffend bemerkt: „Europa hat seit seinen Anfängen akzeptiert, dass die Einheit aus der Vielfalt der Nationen errichtet werden kann: die europäischen Nationen und die Einheit Europas sind miteinander verbunden“. Die mittelalterliche Gemeinschaft Europas wurde durch die Reformation zerschlagen, die die religiöse Einheit Europas beendete.
Der zweite Akt dieser gemeinschaftlichen Tradition europäischer Einheit ist die kulturelle Gemeinschaft europäischer Eliten zu Beginn der Neuzeit. Einheitsbildende Strukturen sind jetzt nicht mehr Universitäten oder Klöster, sondern die Milieus der Gelehrten und Schriftsteller, die wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften. Die philosophischen Ideen der Aufklärung heben alle Grenzen innerhalb Europas auf, sie schaffen ein Gefühl europäischer Einheit innerhalb der res publica litteraria. Der Fortschritt der Wissenschaft scheint unbegrenzt. Ihm wird es zugeschrieben, dass der Mensch die Natur zu beherrschen lernt. Diesmal bleibt die Religion außerhalb des Prozesses, in dem die Gemeinschaft europäischer Kultur errichtet wird. Wenn man jedoch nach einem Merkmal für die Grenzen dieser Gemeinschaft sucht, dann ist es das Netz der Barockkirchen, das sie noch besser als das zuvor genannte Netz der gotischen Kirchen bezeichnet. Selbst unter der Feder Voltaires scheint der Satz auf, dass die europäische Zivilisation ihrer Natur nach christlich ist.
Die Bedeutung dieser beiden Akte einer gemeinschaftlichen Einigung Europas für die Prozesse der europäischen Integration, deren Krönung die Europäische Union ist, ist kaum zu überschätzen. Einen vielleicht noch wichtigeren Bezug findet dies, wenn es um die Beschreibung des Bildes europäischer Zivilisation im weiten Sinne geht. Man müsste darüber nachdenken, in welchem Maße auch Byzanz und das östliche Christentum sowohl vor dem Großen Schisma wie auch nach 1054 an den Prozessen zur Schaffung Europas beteiligt waren. Diese beiden Akte gemeinschaftlicher Einigung Europas kann man jedoch als sinnbildlich ansehen, denn sie zeigen, wie die europäische Zivilisation auf dem Boden des Christentums – sowohl durch Bejahung des Glaubens und des religiösen Bandes wie auch durch den Widerspruch dagegen – erwächst.
Als im Jahre 732 bei einem mittelalterlichen Chronisten der Terminus Europeenses („Wir Europäer“) auftaucht, da bezeichnet er die von der Expansion der Islamanhänger bedrohten Christen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wird der Terminus „Europa“ erneut in Umlauf gebracht, aber in verändertem Sinne. Sicher geschieht dies unter dem Einfluss der Kultur der Renaissance und des Humanismus, durch diesen weltlichen Begriff ersetzt man die Bezeichnung „christianitas“. Aber schließlich beschreiben ja diese beiden Termini die gleiche Gemeinschaft. Kennzeichnend ist auch, dass diese Änderung im Begriffsapparat von niemand anderem vollzogen wird als von Enea Silvio Piccolomini, also Papst Pius II. Dieses etwas paradoxe Faktum, dass sich sogar die Laizisierung auf christlichem Grunde vollzieht, lässt uns den erwähnten Satz Voltaires besser verstehen.
Integration ohne ideologische Scheuklappen
Es ist jetzt Zeit, den Raum entfernter Geschichte zu verlassen und beim zeitgenössischen Schicksal Europas, also der Europäischen Union, zu verweilen. Am Anfang des Prozesses europäischer Integration kann man Menschen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Orientierung finden, doch Politiker aus katholischen Kreisen spielten eine besonders herausragende Rolle. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Europäische Gemeinschaft als pragmatische Organisation entstand, die Streitigkeiten oder Engagements ideologischer Art vermied, indem sie am französischen republikanischen Prinzip vom weltlichen Charakter des Staates festhielt. Die Abkommen und Erklärungen der Europäischen Gemeinschaft hüten sich vor irgendwelchen Formulierungen, die über die Sprache des Rechts und der Wirtschaft hinausgehen könnten. Bei der 1950 im Europarat geführten Diskussion über das Europa-Wappen zeigten sich Elemente eines weltanschaulichen Streites, als ein graphischer Entwurf vorgelegt wurde, in dem das Kreuz ein Element darstellte. Der Entwurf wurde jedoch schnell verworfen, und man entschied sich für eine graphische Komposition mit einem Sternenkranz auf blauem Grunde. Eine der wenigen Vorschriften über Religion im europäischen Recht ist die von Helmut Kohl in den Vertrag von Maastricht eingeführte sog. Kirchenklausel, die die Respektierung des Status der Kirchen und Bekenntnisgemeinschaften gebietet.
Bei den Arbeiten des Konvents, der die Europäische Grundrechtecharta unter Leitung Roman Herzogs vorbereitete, tauchten nicht nur Entwürfe für Vorschriften auf, die Diskriminierung verbieten, sondern auch die Forderung nach einer umfassenderen Berufung auf das „religiöse Erbe Europas“. Dieses letzte Postulat stieß auf den Widerspruch Frankreichs, das sich darauf berief, dies stünde in dieser Formulierung in Widerspruch zur französischen Verfassung. Angenommen wurde eine Formel über das „geistige Erbe“ (was in der deutschen Version, aus sprachlichen Gründen, als „geistiges und religiöses Erbe“ bezeichnet wurde). Die Charta der Rechte, die der Europäische Rat in Nizza annahm, besitzt jedoch keine eindeutig definierte Rechtskraft. Der zur Zeit tätige europäische Konvent (unter Leitung von Valéry Giscard d‘ Estaing) soll einen Verfassungsvertrag oder auch geradewegs eine europäische Verfassung vorbereiten. Dies verlangt eine klare Antwort auf die Frage, wie in den Normen des europäischen Rechts die Freiheit der religiösen Überzeugungen sowie die Freiheit des Kults gewährleistet werden.
Im Augenblick werden diese Fragen in den nationalen Verfassungen Europas auf verschiedene Weise geregelt. In Griechenland wird die Orthodoxie als offizielle Religion anerkannt, und der orthodoxen Kirche wird die Finanzierung aus der Staatskasse zugesichert. In Schweden haben die Lutheraner eine gegenüber den anderen Konfessionen privilegierte Stellung. Im Vereinigten Königreich gibt es eine institutionelle Verbindung zwischen der anglikanischen Kirche und den öffentlichen Behörden. Die Freiheit der Überzeugungen und der Religion wird in allen auf dem Gebiet Europas existierenden Rechtssystemen garantiert, wenngleich sie – im Ergebnis differierender historischer Prozesse – in unterschiedlicher Weise formuliert wird. Nichts weist auf die Notwendigkeit hin, in diesem Bereich eine Änderung vorzunehmen – zumindest nicht vom Gesichtspunkt der europäischen Integration. Diese Vorschriften entsprechen den Erfordernissen der Religionsfreiheit, der Toleranz wie auch – wenngleich in unterschiedlichem Umfang – des konfessionellen Pluralismus. Sie verweisen auch darauf, dass die Erscheinung des Säkularismus in den europäischen Staaten Allgemeingut ist, das sich in der Trennung zwischen der geistigen und der irdischen Sphäre gemäß dem Prinzip „Gib dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ ausdrückt.
Schutz vor jeder Diskriminierung
Wenn die Europäische Union sich jedoch entscheidet, eine eigene Verfassung zu schaffen, dann müssen sich in ihr klar definierte Prinzipien der Achtung vor der Religion sowie Garantien für die Kultausübung und für das freie Handeln der Kirchen und religiösen Gemeinschaften finden. Man muss die Möglichkeit einberechnen, dass die Vorschriften der Verfassung unmittelbar wirken, wodurch der Bürger das Recht erhält, seine Freiheiten und Rechte auch gerichtlich einzuklagen – es gibt keinen Grund, davon die Religionsfreiheit und die Achtung der Überzeugungen gläubiger Menschen auszunehmen. Die Erinnerung an die Verfolgung der Kirchen unter totalitären Regimen wie auch die jüngsten gegen die Religionsfreiheit gerichteten gesetzgeberischen Initiativen in Russland und Weißrussland sprechen dafür. Ähnlich wie in den nationalen Verfassungen sollte dies auch in einer europäischen Verfassung Hand in Hand mit Vorschriften gehen, die jede Diskriminierung sowohl von Gläubigen wie auch von Nichtglaubenden ausschließen und die Achtung nichtchristlicher Religionen und religiöser Gemeinschaften garantieren.
Außer der rechtlichen Materie gibt es jedoch in der Sprache der Verfassung auch eine gewisse Schicht, die man die symbolische oder erzieherische nennen kann. Gerade sie umschließt die Frage des religiösen Erbes und seines Platzes im verbindenden geistigen Gewebe Europas. Man kann das – schon aus historischen Gründen, von denen ich am Anfang schrieb – für so selbstverständlich halten, dass es überflüssig wäre, es in der Verfassung festzuschreiben. Ich meine jedoch, dass sich in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe der Europäischen Union das Bedürfnis zeigt, über den „Geist Europas“ zu reflektieren. Karl Jaspers schrieb vor Jahren, der europäische Geist drücke sich in der unaufhörlichen Gegenüberstellung von Standpunkten aus, in der stetigen Destruktion akzeptierter Thesen, in der Entwicklung einander widerstreitender Ideen. Schließlich hat jedoch Europa gleichzeitig einen gewissen Schatz dauerhafter Werte geschaffen. Einen solchen Charakter hat die Achtung vor der Würde der menschlichen Person, die ein humanistisches Fundament der europäischen Zivilisation ist, indem sie religiöse und weltliche Haltungen verbindet. Ein solcher gemeinsamer Faden ist die Affirmation der Freiheitsidee in Verbindung mit dem moralischen Imperativ. Eine solche Dimension hat auch die Idee der Solidarität, die nicht nur Haltungen gegenüber Nächsten betrifft, sondern auch Grundlage der Sozialpolitik ist, eine Methode zum Verständnis des Gemeinwohls, eine Form des Aufbaus der Zusammenarbeit zwischen einzelnen europäischen Staaten.
Diese Reflexion sollte Gegenstand einer permanenten europäischen Erziehung sein, in deren Verlauf sich ein europäisches Gedächtnis herausbilden wird, eine Reflexion über die fundamentalen Werte, ein Gefühl für die gemeinsame Identität. In dieser Schicht kann die eigentliche Mission der christlichen Kirchen angesiedelt werden, denn Erziehung, Überzeugung und geistige Ausstrahlung ist der natürliche Ort religiösen Wirkens. Wenn die Präambel einer europäischen Verfassung – also jener Teil des Verfassungvertrages oder der Verfassung, der keine Rechtskraft hat – die geistige Einheit Europas in einer solchen Weise formulieren könnte, dass dies nicht zu einem Instrument des Ausschlusses, sondern eben des Verbindens diente, dann wäre die europäische Verfassung nicht nur eine Sammlung von Normen und Rechten, sondern auch ein Instrument schulischer und außerschulischer Erziehung.
Modell für die Präambel der Europa-Verfassung?
Die polnische Verfassung von 1997 enthält eine solche pluralistische Formulierung des geistigen Erbes. Wir lesen in ihrer Präambel: „wir, das Polnische Volk – alle Bürger der Republik, sowohl die an Gott als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glaubenden wie auch die diesen Glauben nicht teilenden, sondern diese universalen Werte aus anderen Quellen ableitenden (...), beschließen im Gefühl der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen die Verfassung...“ In einem solchen in seinen Intentionen pluralistischen Geist könnte die Präambel einer europäischen Verfassung formuliert werden, ohne dass sie dann Befürchtungen weckt, sie könnte zum Instrument irgendeines Ausschlusses dienen.
Ich spreche mich für eine solche Einleitung zur europäischen Verfassung aus, denn dies würde der Schaffung eines Gefühls europäischer Einheit über die bestehenden Trennungslinien und Unterschiede in den politischen und religiösen Überzeugungen hinweg trefflich dienen. Ich verstehe jedoch auch die Befürchtungen, dass das Prinzip „cuius regio eius religio“ durch ein anderes Prinzip „cuius religio eius regio“ ersetzt werden könnte, was eine Rückkehr zum Integrismus vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil bedeuten würde. Auch in der polnischen politischen Wirklichkeit tauchten solche Tendenzen auf, die man nur als Ausbeutung religiöser Gefühle für die Erreichung politischer, in tiefem Widerspruch zum Geist des modernen Europas stehender Ziele bezeichnen kann. Ebenso im Widerspruch zum europäischen Geist stünde es, wenn man den besonderen Platz des Christentums – sowohl der Tradition wie auch der aktuellen Wirklichkeit – in der europäischen Identität als Kriterium ansehen würde, das die europäische Zivilisation bestimmt. Dies käme der Theorie vom „Kampf der Kulturen“ als der unabwendbaren Tendenz in der Entwicklung der Welt entgegen. Europa ist eine Erfahrung des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus, der eine Landschaft schuf, in der das Christentum in seinen verschiedenen Konfessionen mit dem Judentum, mit dem Islam oder mit dem Buddhismus koexistiert: die christlichen Gotteshäuser koexistieren mit Synagogen und Moscheen. In den gegenwärtigen zivilisatorischen und politischen Spannungen hat Europa eine schwer zu überschätzende Versöhnungsrolle zu spielen.
Deshalb ist wichtiger als der Text der europäischen Verfassung der Dialog über die geistige Dimension Europas, ein Dialog, der bisher den Prozess der europäischen Integration nicht begleitet hat. Von diesem Dialog wird die Zukunft der Europäischen Union als Gemeinschaft der Völker und Menschen abhängen.
Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.