Geschichte und Gestalt der Armenischen Apostolischen Kirche

Archimandrit Zhamkochyanh absolviert z. Zt. den Lizentiatsstudiengang „Kanonisches Recht“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Das Volk, das sich rühmt, die älteste christliche Nation zu sein, nennt sich selbst „Hayk“. „Armenier“ haben es erst die Griechen genannt. Während der ersten Jahrhunderte der christlichen Ära war Armenien in engem Kontakt mit Palästina, woher die neue Religion kam. Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts haben sich unter dem Einfluss syrischer Missionare christliche Gemeinden im Süden Armeniens gebildet. Wahrscheinlich erleichterten die bereits bestehenden kleinen jüdischen Kolonien aus der Zeit der babylonischen Besetzung die Ausbreitung des Christentums. Nach alter Überlieferung soll das Christentum in Armenien erstmals durch die Apostel Judas Thaddäus und Bartholomäus verbreitet worden sein (zwischen 35 und 64 n. Chr.). Sie sind unter dem Namen „Erste Erleuchter Armeniens“ bekannt, woher auch der Name „Armenische Apostolische“ Kirche stammt.

Armenien ist der erste christliche Staat der Welt, denn im Jahr 301 wurde das Christentum zur Staatsreligion erklärt. In diesem Jahr ließen sich König Tiridates III. sowie die ganze Königsfamilie, die Armee und das Volk im Euphrat taufen. Der Täufer Gregor Bartev (229-325) wurde von der Armenischen Apostolischen Kirche und der Römisch-katholischen Kirche unter dem Namen „Heiliger Gregor der Erleuchter“ heilig gesprochen. Es ist jedoch unpassend, die Armenische Kirche „gregorianische Kirche“ zu nennen, denn, wie es einige liturgische Texte formulieren, war der heilige Gregor der „zweite Erleuchter“ nach Bartholomäus und Thaddäus. Gregor stammte aus dem Hause Parthia und wurde durch Bischof Leontios von Cäsarea zum Bischof von Armenien geweiht. Auch der Ursprung der armenischen liturgischen Tradition wird Gregor zugeschrieben. Er wird Erleuchter genannt, weil er durch die Taufe „die Nation mit dem Licht des Evangeliums“ erleuchtete. Er ist der Schutzpatron aller Armenier und Armeniens.

Das Christentum entwickelte sich in Armenien mit staatlicher Unterstützung sehr schnell. Als Zeichen für den Sieg des Christentums über die heidnische Religion wurde in der Stadt Vagharšapat die erste Kirche gebaut, nämlich Edžmiadzin (Bedeutung: „der Eingeborene ist herabgestiegen“). In Edžmiadzin befindet sich der Sitz des Oberhauptes der Armenischen Kirche, des Obersten Patriarchen und Katholikos aller Armenier. Nach den Worten von Katholikos Karekin I. (1995-1999) ist Edžmiadzin „das armenische Bethlehem“.

Armenisierung der Armenischen Kirche – Schrift und Sprache

Als 387 das Land zwischen dem Persischen und dem Oströmischen Reich geteilt wurde, drohten der völlige Zerfall der nationalen Einheit und das Aufgehen in der byzantinischen bzw. der persischen Kultur. Mit der Schaffung eines eigenen armenischen Alphabets durch Mesrob Maštoc‘ im Jahre 406 war das entscheidende Instrument zur Bewahrung der armenischen Kultur gegeben. Mit Unterstützung von König Vramšabuh (ca. 389-415) und Katholikos Sahak wurde die Bibel aus der griechischen Septuaginta ins Armenische übertragen. Dies förderte zugleich die Entstehung einer eigenen armenischen Liturgie.

Das 5. Jahrhundert kann in der Entwicklung Armeniens ein „Goldenes Zeitalter“ genannt werden. Mit Hilfe der schriftlich fixierten Sprache gelang die Herausbildung einer nationalen Identität. Das aus 38 Buchstaben bestehende Alphabet von Mesrob Maštoc‘ entspricht ausgezeichnet der armenischen Lautbildung und blieb seither nahezu unverändert (nur im 12. Jahrhundert wurden zwei Buchstaben hinzugefügt). Am Anfang des 5. Jahrhunderts war die klassische armenische Sprache eine der großen Sprachen des Nahen Ostens. Armenisch ist eine indo-europäische Sprache, die gewisse Verwandtschaften mit der iranischen, griechischen, lateinischen und den baltisch-slawischen Sprachen aufweist, jedoch keiner Sprachgruppe direkt zugeordnet werden kann.

Der Glaube der Armenischen Kirche

Die Armenische Apostolische Kirche erkennt die ersten drei ökumenischen Konzilien als fundamental für den christlichen Glauben an: Nikaia (325), Konstantinopel (381) und Ephesos (431). Nach der Überzeugung der Armenischen Kirche enthalten die Kanones dieser drei Konzilien die wichtigsten Dogmen des Christentums, die auch von der Römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen als Glaubensfundament verstanden werden. Die Armenische Kirche erkennt jedoch das vierte Konzil zu Chalkedon (451), welches den christlichen Orient weitgehend teilte, nicht an. Zur Zeit des Konzils von Chalkedon waren die Armenier in heftige Kämpfe mit den Persern verwickelt, die sie zum Mazdaismus (zoroastrische Religion) bekehren wollten. Deshalb entsandte die Armenische Kirche keinen offiziellen Repräsentanten zu diesem Konzil. Im Jahre 506 verwarf sie auf der Synode von Dwin nachträglich die Beschlüsse von Chalkedon. So gehört die Armenische Kirche zur Gruppe der vorchalkedonensischen Kirchen, die man auch „altorientalische“ oder „orientalisch-orthodoxe“ Kirchen nennt. In den folgenden Jahrhunderten kam es zwar immer wieder zu Unionsverhandlungen, sowohl mit den vorchalkedonensischen Syro-Antiochenern als auch mit den chalkedonensischen (byzantinischen) Nachbarn, doch scheiterten diese oftmals an liturgischen Gebräuchen, die zu Bekenntnisfragen erhoben wurden. Erst im 13. Jh. kam es in Kilikien zu einer etwa zweihundert Jahre andauernden Union mit Rom, die selbstverständlich nicht ohne Wirkung auf den Gottesdienst blieb.

Die Sakramente der Armenischen Kirche

„Sakrament“ bedeutet im Armenischen „Chorhurd“. Die Armenische Kirche kennt sieben Sakramente, nämlich Taufe, Firmung, Buße, Kommunion, Ehe, Weihe und Segnung der Kranken oder Letzte Ölung:

Taufe und Firmung: Die Säuglinge werden in horizontaler Lage durch dreimaliges vollständiges Eintauchen getauft: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Die Firmung (mit Myron [Chrisam]) spendet der Priester im Anschluss daran. Dadurch erhält der Täufling die sofortige Zulassung zum Empfang der Eucharistie.

Buße: Die Vergebung wird durch den Priester ausgesprochen und besteht aus einer Formel, die die wichtigsten Sünden aufzählt und einen Vergebungszuspruch enthält. Die Gläubigen bereiten sich auf die Buße vor durch Fasten und Gebete.

Kommunion: Sie wird vom Altarraum aus verteilt, wobei die konsekrierte Hostie in den Wein getaucht wird. Die Hostie besteht aus einem Brot ohne Hefe und ohne jegliche Fermentierung und besitzt eine feste Konsistenz. Sie wird durch den Priester am Tag der Messe vorbereitet und gebacken. Der Priester taucht ein Stück der konsekrierten Hostie in den konsekrierten Wein und legt es auf die Zunge des Kommunizierenden.

Die Ehe: Sie ist bekannt als „Sakrament der Krönung“. Die Trauungszeremonie wird stets durch einen Priester vollzogen.

Das Weihesakrament: Dieses Sakrament wird durch Auflegen der Hände und Gebet gespendet. Die drei wichtigsten Stufen des Weihesakraments der Armenischen Kirche sind Diakonat, Presbyterat (Priesterstand) und Episkopat.

Die Segnung der Kranken oder die letzte Ölung: Die Feier dieses Sakraments wird am Sterbebett abgehalten. Seine wichtigsten Elemente sind das Gebet und der Empfang der Kommunion. Eine „Letzte Ölung“ im Sinne einer Krankensalbung existiert in der Armenischen Kirche nicht mehr. Nur verstorbene Geistliche erhalten vor der Beerdigung eine „Letzte Salbung“.

Die Musik der Armenischen Kirche

Musik spielt in der Armenischen Kirche eine sehr wichtige Rolle. Alle neun Stundengebete, die Göttliche Liturgie und alle anderen Zeremonien finden unbedingt mit musikalischer Begleitung statt.

Die armenische Kirchenmusik ist sehr reichhaltig. Ihre Kirchenlieder klingen sehr melancholisch und sind ein Spiegel der Geschichte, der Schmerzen und des Leides dieses Volkes. Katholikos Nerses III. (641-661) sorgte als erster für eine Vereinheitlichung der Liturgie, die seit dem 8. Jahrhundert in einem speziellem System der Notation, genannt „Khaz“, überliefert wird. Über Zwischenstufen wurde das Liedgut bis ins 19. Jahrhundert bewahrt. Archimandrit Komitas Soghomonian (1869-1935), der die europäische Notenschreibung benutzte, kann als der Begründer der neuzeitlichen armenischen Musik angesehen werden. Der von ihm geprägte Musikstil ist orientalisch-europäisch, weil er die armenische Musik von türkischen und persischen Einflüssen befreite und stattdessen europäische Elemente aufnahm.

Wie die byzantinische Musik beruht auch die armenische auf acht Modi (armenisch „dzayn“). Volks- und Kirchenmusik bauen auf diatonischen Tonleitern auf, die aus übereinander geschichteten Vierklängen gebildet werden. Die Liturgie der Armenischen Kirche und die dazu gehörenden Gesänge werden von der Orgel begleitet.

Die Liturgie der Armenischen Kirche

Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern steht im Zentrum des Gottesdienstes auch der Armenischen Apostolischen Kirche. Die heute gebräuchliche Liturgie wird gewöhnlich „Surp Badarak“, d. h. „Heiliges Opfer“ genannt und geht auf den Gründer der Armenischen Kirche, Gregor den Erleuchter, zurück. Je nach kultureller Einflusssphäre fanden von Syrien her die Jakobusliturgie aus Jerusalem sowie über Kappadokien die Traditionen der Basilius- und Chrysostomosliturgie in Armenien Eingang. Die armenische Liturgie besitzt somit ihren Ort innerhalb der großen antiochenischen Liturgiefamilie. Die Entwicklung zog sich dann über Jahrhunderte hinweg und kam im 17. Jahrhundert mit der Einführung von gedruckten liturgischen Büchern zu einem vorläufigen Abschluss. Die heute gebräuchliche Liturgie, die in altarmenischer Sprache vollzogen wird, bildet eine interessante Synthese aus den alten Liturgien der großen Schwesterkirchen und aus eigener armenischer Tradition. In gewisser Hinsicht kann man sie als „Stiefkind“ der byzantinischen Liturgie bezeichnen.

Infolge der bereits erwähnten vorübergehenden Union mit Rom in Kilikien finden sich Eingangsteile der lateinischen Messe in gewandelter Form in der Göttlichen Liturgie. Diese besteht aus: Vorbereitungsgottesdienst (Patrastutiun), Ungetauftenliturgie (Erakhayits Patarag), Opfergottesdienst (Bun Patarag) und Entlassung (Ardzakum) – nachstehend ihr vollständiger Ablauf:

Vorbereitung: Persönliche Vorbereitung des Geistlichen durch Reinigung mit verschiedenen Gebeten, Psalmen und Wasser (mindestens zwei Diakone als Helfer).

Ankleidung: In der Sakristei sprechen Priester und Diakon abwechselnd den Psalm der Ankleidung, Ps 132 [131]. Für jedes liturgische Kleidungsstück gibt es besondere Gebete und Psalmen, die Priester und Diakon abwechselnd sprechen.

Reinigung: Am Altar wäscht der Priester die Hände und spricht mit dem Diakon den Psalm 26 [25], entsprechend wie bei der Ankleidung.

Einzug: Mit Psalmen, Liedern und Gebeten, in Begleitung mehrerer Diakone und Altardiener betritt der Priester den Altarraum und spricht den Eingangspsalm 42 [43].

Darauf folgen – hier nur mit den Begriffen genannt – Prothesis, Wortgottesdienst, Beräucherung, Enarxis, Kleiner Einzug (mit Evangelium), Lesungen, Glaubensbekenntnis von Nikaia, Vorbereitung auf die Anaphora, Großer Einzug (Gabenübertragung), Friedenskuss, Anaphora (Eucharistia) mit Prolog, Präfation, Anamnese, Einsetzungsbericht, Epiklese, Diptychen, Abschluss der Anaphora; Vaterunser, Inklination und Elevation, Eintauchen, Ermahnung zur Kommunion und Brechung der konsekrierten Hostie, Gebete vor der Kommunion, Kommunion, die Konsumption der konsekrierten Gaben durch den Priester, Danksagung, Abschlusssegen und schließlich Entlassung: Gebet für die Kirche (in der Mitte der Kirche), Abschlussevangelium (Joh 1), Entlassungssegen.

Die Armenische Kirche heute

In der heutigen Republik Armenien wohnen nach offiziellen Statistiken etwa 3,8 Millionen Armenier, weltweit gibt es etwa 9-10 Millionen. Insgesamt existieren 34 armenische Diözesen mit ständigen Bischöfen. „Mutterkirche“ der Armenischen Kirche ist Edžmiadzin in Armenien. An der Spitze der Kirche stehen: S. H. Karekin II., Oberster Patriarch (Katholikat aller Armenier in Edžmiadzin/Armenien), S. H. Aram I. (Katholikat des Hohen Hauses Kilikiens in Antelias/Libanon), S. E. Erzbischof Torgom (Armenisches Patriarchat in Jerusalem/Israel) und S. E. Erzbischof Mesrob II. (Armenisches Patriarchat in Konstantinopel/Türkei).

Jeder dieser hierarchischen Sitze hat Klöster, Bruderschaften, Geistliche und Priesterseminare mit eigener Verfassung. Das oberste Leitungsgremium der Armenischen Kirche ist die Nationalkirchliche Versammlung, zu deren Aufgaben die Wahl des Obersten Patriarchen und Katholikos Aller Armenier wie auch die Klärung der wichtigsten Fragen, die die Armenische Kirche betreffen, zählen. Delegierte der Nationalkirchlichen Versammlung sind alle Bischöfe, gewählte Geistliche und Laien, die von allen Diözesen gesandt wurden. Die 1700 Jahre alte Armenische Apostolische Kirche legt auf ökumenische Beziehungen mit ihren Schwesterkirchen großen Wert.


Literaturhinweise:

  • Diözese der armenischen Kirche in Deutschland: Die Göttliche Liturgie. Köln 1996.

  • Köckert, Friederike: Texte und Untersuchungen zur Liturgie der Armenisch-Apostolischen Orthodoxen Kirche. Halle/Saale 1986.

  • Krikorian, Mesrob K.: Die Armenische Kirche. Materialien zur armenischen Geschichte, Theologie und Kultur. Frankfurt/Main (u. a.) 2002.