Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen?
„Die politische, soziale und wirtschaftliche Lage in Georgien hat sich kaum verbessert, wenn sie nicht sogar schlechter geworden ist. Auf uns kommen immer mehr und mehr Probleme zu, die wir allein, ohne staatliche Hilfe lösen müssen, obwohl es die Aufgabe des Staates ist, seine Bürger zu schützen ... Selbst die Leiter der Kinderheime und Krankenhäuser sind so gleichgültig gegenüber den Kindern, dass wir immer Druck machen müssen, damit sie ihre Pflicht erfüllen.“ So schreibt Anuki Chkheidze von „Association Stages“ in ihrem Zwischenbericht an Renovabis.
Auch elf Jahre nach Erlangen der Unabhängigkeit zählt Georgien zu den ärmsten Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Hohe Arbeitslosigkeit, ein niedriges Pro-Kopf-Einkommen und ein viel zu geringes Wirtschaftswachstum stehen in der Bilanz der meisten Transformationsländer. In Georgien kommen außerdem Sezessionskonflikte, Bürgerkrieg und Erdbeben hinzu.
Kein Wunder also, dass das Land nicht zur Ruhe kommt, instabile Institutionen und korrupte Behörden der Not der Menschen, die aus den Folgen der Transformation und Migration entstanden ist, nichts entgegen zu setzen haben. Noch kann die Gesellschaft das Vakuum an staatlicher Ordnung nicht füllen. Auf der Strecke bleiben Kranke, Waisen, Obdachlose und Flüchtlinge.
Mit offenen Augen
1992 sieht eine Gruppe junger Leute zwischen 18 und 25 Jahren und von unterschiedlichem beruflichen Profil die Probleme und tauscht sich miteinander darüber aus. Sie wollen sich mit dem Leid der alten Menschen und Waisen in ihrem Land nicht abfinden. Es berührt sie, dass zu viele Menschen gezwungen sind, unter freiem Himmel, unter Brücken oder auf freiem Feld zu schlafen, weil sie aus ihrer Heimat in Westgeorgien geflohen sind. Sie sehen andere, die den ganzen Tag auf den Straßen stehen und um ein Stück Brot betteln. Sie entdecken die Babywaisen, die im ersten Lebensjahr besonders gefährdet sind, und sie sehen die Tatsache, dass viele der in Kinderheimen erzogenen Kinder ihren Platz im kriminellen Milieu finden.
Die Ursachen der Probleme sind multikausal, und jeder Fall liegt anders. Es ist schwer zu sagen, wer die Lage verschuldet hat. War es das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, das den Stein des Elends ins Rollen brachte? Haben die rivalisierenden nationalistischen Parteien ihre partikularen Interessen zu sehr favorisiert und damit die Chance, ein florierendes Gemeinwesen von Demokratie und Marktwirtschaft zu schaffen, verspielt?
Für die jungen Leute spielen die Antworten auf diese Fragen keine große Rolle. Ohne tiefe Analysen fangen sie zu helfen an. Unter den 300 Menschen, die um ihre Hilfe bitten, treffen sie eine Auswahl von 50, die es am nötigsten haben. Einsamen, alten Menschen und alleinstehenden Müttern bringen sie Nahrung und Medikamente, helfen beim Putzen, Waschen und Spülen. Bei Bedarf begleiten sie sie zu ärztlichen Konsultationen, stehen bei Operationen zur Seite, kümmern sich um eine Unterbringung im Krankenhaus. Obdachlose bringen sie in existierenden Obdachlosenheimen unter, mit ihnen suchen sie nach Möglichkeiten, Wohnraum anzumieten. Den auf der Straße Lebenden bringen sie Kleidung, Medikamente und Lebensmittel.
Drei Arbeitsschwerpunkte
Als die Anfragen nicht mehr zu bewältigen sind, beschränken sie sich auf drei Projekte: ein Babywaisenhaus in Tbilisi, ein Kinderheim in Martkopi und ein Obdachlosenheim in Tbilisi.
In dem Waisenhaus von Tbilisi leben etwa 100 Kinder. Die Jüngsten werden gleich nach der Geburt hier abgeliefert, die ältesten sind drei Jahre alt. Ein großes Problem ist die Ernährung der Babywaisen. Oft wird ihnen Kindernahrung verabreicht, deren Verfallsdatum bereits abgelaufen ist. Wen wundert es da, dass immer häufiger Kinder mit Magen- und Darmkrankheiten ins Krankenhaus eingeliefert werden? Eine zweite Schwierigkeit stellen mangelhafte hygienische Bedingungen dar: Die Kinder bekommen alte Windeln, die in kaltem Wasser gewaschen wurden, ohne Krankheitsüberträger abzutöten. Die Ansteckungsgefahr z. B. mit Krätze und Salmonellen ist groß.
Im Kinderheim des Dorfes Martkopi, 20 km von Tbilisi entfernt, leben 76 Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 23 Jahren. Die Gemeinde finanziert das Heim; allerdings reicht das Geld nur für Nahrung. Es gibt keine Waschgelegenheiten, die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, die Toiletten liegen 200 Meter vom Haus entfernt. Infolge der mangelhaften hygienischen Verhältnisse und der belastenden psychischen Situation leiden 19 Kinder an Enurese (Bettnässerei).
In einem dritten Arbeitsschwerpunkt widmen sich die jungen Leute den Obdachlosen in Tbilisi. Sie sind Opfer der Konflikte in Abchasien und Südossetien und mussten aus Angst vor Übergriffen der Rebellen ihre Heimat verlassen. Die meisten verkraften den Schock von physischem und psychischem Leid nicht. Im April 2002 kamen durch die Erdbeben weitere Obdachlose in Tbilisi hinzu.
Association Stages
1998 war es soweit: Man brauchte eine Organisation. 22 Freiwillige aus verschiedenen Berufen gründeten eine Initiativgruppe mit Namen „Association Stages“. Sie sind eine Non-Profit- und Nicht-Regierungsorganisation. Ihr Ziel ist es, durch ehrenamtliches Engagement den Opfern der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage zu helfen und vor allem die Ärmsten der Armen mit dem Nötigsten zu versorgen. Aber Nothilfe allein reicht nicht aus, strukturelle Veränderung ist angesagt. Um wirklich etwas zu verändern, muss die schändliche Situation der Ärmsten und Schwächsten öffentlich gemacht werden, vor allem wenn ihre Not durch die Schlamperei der Leiter von Sozialeinrichtungen vergrößert wird. Deshalb brauchte „Association Stages“ zur Wahrung seiner Unabhängigkeit ein eigenes Büro.
Kontakt zu Renovabis
Im Jahre 2000 nahm die Organisation erstmals Kontakt zu Renovabis auf. Es ging um die Ausstattung eines Büros und finanzielle Hilfe für die Arbeit mit Kindern, Kranken und Obdachlosen. Unterstützt wurde ihr Anliegen von Ilija II., dem Patriarchen der Georgischen Orthodoxen Kirche, der in dem Antrag einen gelungenen Ansatz für eine überkonfessionelle Zusammenarbeit sieht, und dem Apostolischen Nuntius Erzbischof Zurbriggen, der das beispielhafte ehrenamtliche Engagement der jungen Leute lobt. Zwar hat die Organisation keine direkte Anbindung an eine bestimmte Kirche; lediglich die beispielhafte Arbeit am Nächsten und die Integrität der jungen Leute bewegten die Kirchenoberen, für die Förderung von „Association Stages“ auch Verantwortung bei der Antragstellung zu übernehmen.
Nach einer Besichtigung vor Ort wurde den Gremien von Renovabis ein Antrag zur Bewilligung von Ausrüstungsmitteln und zur Anschaffung von Medikamenten und Lebensmitteln vorgelegt. Die Gremien verknüpften mit der Bewilligung zur Anschubfinanzierung die Hoffnung, dass sich „Association Stages“ als Nicht-Regierungsorganisation einen Namen machen und eigene Finanzierungsquellen künftig auftun werde.
Verwendung der Mittel
Im Winter 2001/2002 hat die Organisation ein kleines Büro im Stadtzentrum angemietet. Weil es klein ist, ist es leicht zu beheizen, und weil es zentral liegt, fällt der Strom seltener aus. Nach zehn Tagen wird der PC geliefert, nur wenige Tage danach die Möbel. Zuletzt wird ein Kühlschrank für die Lagerung von Medikamenten aufgestellt und das Büro ist komplett.
Das Geld von Renovabis war kaum überwiesen, da erging ein Hilferuf aus dem Babywaisenhaus in Tbilisi. Mitten im Winter blieben die staatlichen Zuschüsse für Heizkosten aus. Über Mittel von Renovabis besorgte „Association Stages“ Diesel für das Babywaisenheim und verschaffte sich dadurch täglich Zugang zum Heim, um die Temperaturen zu kontrollieren.
Eine weitere Kontrollmöglichkeit bietet die Verwaltung der Medikamente, die die Organisation besorgt hat und die im Büro verwahrt werden. Das hat den Vorteil, dass die Arzneimittel nicht gleich auf dem Schwarzmarkt landen, und eröffnet den Mitarbeitern einen Einblick in die sozialen Institutionen in staatlicher Trägerschaft.
Bei diesen Besuchen entscheiden die Mitarbeiter über die Gesundheit der Kinder im Babywaisenheim und im Kinderheim. Die medizinische Behandlung wird in einem Krankenhaus von Tbilisi vorgenommen, der Staat zahlt die Kosten der Behandlung. Die Medikamente und den Transport der Kinder finanziert Georgien jedoch nicht, und da hilft „Association Stages“. So werden die verschiedensten Behandlungen vorgenommen: Die 12jährige Schorena wird wegen Katarakten (Grauer Star) operiert und kann jetzt wieder sehen und lesen. Der 12jährige Ramin hatte Rheuma, das stationär zu behandeln war. Bei drei Jungen wurden schwere Anämie und Würmer festgestellt. Sie bekamen Medikamente und wurden im Heim weiter behandelt. Andere Behandlungen waren: Gips für eine gebrochene Hand, rheumatische Arthritis und Magengeschwüre. Zuletzt wurden alle Kinder von einer Gruppe von Ärzten, bestehend aus einem Allgemeinmediziner, einem Endokrinologen, Neurologen und einem Chirurgen intensiv untersucht. Die Mitarbeiter von „Association Stages“ legten die Termine bei den Ärzten fest, transportierten die Kinder auch in Notfällen dorthin und versorgten sie in der Klinik mit Essen, eine Aufgabe, die sonst von Verwandten übernommen wird.
Schwieriger gestaltet sich die Arbeit mit den Obdachlosen. Da ist Natela, 55 Jahre alt und Invalidin. Sie hat chronische, zeitweise eiternde Wunden an beiden Beinen. „Association Stages“ hat ihr ein 6 m2 großes Zimmer besorgt, in dem sie mit ihrer Tochter (27) und ihrem Enkel (10) lebt. Natela bettelt auf der Straße, ihre Tochter verkauft Blumen. Im September hatten die Wunden wieder angefangen zu eitern. Sie brauchte dringend ärztliche Behandlung. Die Mitarbeiter haben sie zu Ärzten gebracht, wo sie versorgt wurde.
Marina (35) ist schwanger mit dem sechsten Kind. Ihre Mutter, ihr Mann und die fünf Kinder wohnen in einem Zimmer. Die Familie hat kein Einkommen. Während der Schwangerschaft stellen die Ärzte Wassermangel und Entwicklungsstörungen beim Kind fest. „Association Stages“ hat die notwendigen Medikamente und Vitamine zur Verfügung gestellt. Die Schwangerschaft verlief normal. Vor einem Monat bekam sie ein gesundes und hübsches Baby.
Offene Probleme
Schnell stellten die Mitarbeiter fest, dass ihre Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, solange sie nicht auf die dramatische Lage der Benachteiligten aufmerksam machen und die Struktur der Armut brandmarken können. So meldeten sie Fehlverhalten der Hausleitungen an die Aufsichtsbehörden und nutzten dabei auch lokale Printmedien – ein Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement durch aktive Hilfe und Öffentlichkeitsarbeit.
Ungelöst bleiben auch weiterhin die Fragen der Gestaltung der Zukunft für die Kinder, wenn diese das Heim verlassen. Bis jetzt konnte nur ein Junge mit Hilfe von „Association Stages“ als Nachtwächter bei der Amerikanischen Botschaft untergebracht werden. Für die anderen fehlen Ausbildungs- und später Arbeitsplätze. Bei den Obdachlosen gilt es, nach der ersten Linderung der physischen Mängel die psychischen Schäden zu beseitigen. Diese zu beheben dauert lange. Hier ist noch viel zu tun.
Weitere Hilfen
Renovabis hat die Arbeit von „Association Stages“ mit einer Anschubfinanzierung gefördert, d. h. mit der Aufforderung, andere Finanzierungsquellen aufzutun. Der georgische Staat ist jedoch nicht so weit gegangen, der Organisation eine Sockelfinanzierung für laufende Kosten zu sichern. Mit der Finanzhilfe von Renovabis hat sich „Association Stages“ aber national und international einen Namen gemacht und inzwischen weitere Sponsoren in Europa und den USA gefunden.