Als georgische Theologiestudentin in Deutschland
Es ist ziemlich schwer, allgemein über die Erfahrungen einer Studentin zu sprechen, die aus Georgien kommt und in Deutschland Theologie studieren möchte, denn alles ist viel komplizierter, als es auf dem ersten Blick scheinen mag. Dabei spielen sowohl „innere“ als auch „äußere“ Faktoren eine große Rolle. Unter „inneren“ Faktoren verstehe ich Gefühle, Reflexionen, Wertvorstellungen, Identitäts-, Glaubens- und Willensstärke. „Äußere“ Faktoren umfassen Politik, Gesellschaft, Kirche (besonders für die Theologiestudentinnen und Theologiestudenten) und Fragen der Hochschulpolitik. Auf die „inneren“ Faktoren werde ich nur kurz eingehen, dagegen ausführlicher die „äußeren“ – und auch meine persönlichen Erfahrungen – darlegen.
Im Ausland zu leben und zu studieren kann sehr schwierig sein, besonders wenn sich die Mentalitäten und die Sprachen so sehr voneinander unterscheiden wie die der Georgier und der Deutschen. Das erste Gefühl, das im Ausland bei jedem aufkommt, ist starkes Heimweh. Vom ersten Tag an wird der Verstand von Tausenden von Bildern und Eindrücken überwältigt. Da jeder mehr oder weniger stark national und kulturell vorgeprägt ist, werden die Bilder zunächst durch das Prisma solcher Vorprägungen betrachtet. Aber ich habe versucht, mich mit dem Neuen, Anderen auseinander zu setzen. So kam ich nach einiger Zeit des Nachdenkens zu einer realistischeren Sicht meines Gastlandes. Gegen Mentalitätsunterschiede kann man wenig machen; wichtig ist nur, dass beide Seiten Aufgeschlossenheit und Verständnis aufbringen sollten.
Glaubensstärke erleichtert erheblich die Bewältigung der Probleme. Ein Gläubiger nimmt alles mit Ruhe und Gelassenheit auf, denn für ihn ist Gott überall, und er sieht die Gnade Gottes in jedem, der oder das ihm begegnet. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass im Ausland selbst der Glaube auf die Probe gestellt wird. Im Land, wo andere Religionen oder Konfessionen vorherrschen, entfällt das gewohnte Kirchenleben. Das kann zum Abbruch der lebendigen Beziehung zu Gott und zur Mutterkirche führen. Schließlich möchte ich noch Willensstärke und Disziplin nennen, die mir in Bezug auf ein Studium im Ausland wichtig erscheinen. Ohne diese beiden kann kein dauerhafter Erfolg erreicht werden. Dank meiner Gastfamilie, meiner Freundinnen und Freunde, der Professoren und Bekannten glaube ich, dass mir alle diese Schwierigkeiten bewusst geworden sind und dass ich sie gemeistert habe, auch mein Heimweh.
Trotz einer tiefen Verankerung meiner Wertvorstellungen in der georgischen Tradition und Kultur habe ich in Deutschland auch viele neue Werte entdeckt, die meiner Meinung nach für jeden wichtig und nützlich sein können. Da ich von meinem Heimatpfarrer in Georgien mit Rat und Tat unterstützt werde, fällt es mir leichter, mit allen Problemen fertig zu werden. Natürlich vermisse ich im Ausland die Georgische Orthodoxe Kirche, den Gottesdienst, den klangvollen und beruhigenden Kirchengesang und alles andere, was mit dem geistlichen Leben zu tun hat, aber die Hauptsache ist und bleibt, dass ich die Beziehung zu Gott und zur Orthodoxen Kirche nicht verliere. Es ist mir wohl bewusst, dass man ohne Disziplin nichts erreichen kann; deswegen arbeite ich intensiv an mir selbst und versuche, möglichst immer mehr zu lernen und schneller ans Ziel zu kommen. Mein Willen wird durch das große Verantwortungsbewusstsein gestärkt, das ich meinem Heimatland gegenüber habe.
An dieser Stelle möchte ich zu den „äußeren” Faktoren übergehen. Der georgische Staatspräsident Eduard Schewardnadse wird Deutschlands größter Freund genannt. Er hat mit Michail Gorbatschow zusammen bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten entscheidend mitgewirkt. Deutschland unterstützt die demokratischen Prozesse in Georgien. So wurden viele Gesetze vom georgischen Parlament verabschiedet, die nach deutschem Vorbild erarbeitet worden waren. Die Georgier blicken mit großer Hoffnung nach Europa und hegen besondere Sympathien für Deutschland. Viele jüngere Menschen kommen hierher, um zu studieren und danach eine bessere Zukunft im Heimatland aufzubauen.
Für einen gläubigen Menschen ist es schwierig, ohne moralische Unterstützung der Kirche im Ausland ein Studium aufzunehmen und voranzutreiben. Theoretisch könnte ich in meinem Vorhaben, in Deutschland zu studieren, von Seiten der Georgischen Orthodoxen Kirche keinen Beistand erwarten, denn bekanntlich ist sie 1997 aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) ausgetreten. Praktisch sieht das ganz anders aus. Dass ich tatkräftig von der Kirche unterstützt werde, ist nicht nur ein Verdienst meines Heimatpriesters, sondern auch eine Folge der Kirchenpolitik des Katholikos-Patriarchen von ganz Georgien Ilija II. Für die Georgische Orthodoxe Kirche bezeichnete bereits die Inthronisation des Patriarchen am 12./25. Dezember 1977 den entscheidenden Wendepunkt auf dem Weg zu innerer Erneuerung und äußerer Erstarkung. Er erreichte die Wiedererrichtung einer Geistlichen Akademie und veranlasste zahlreiche Kircheneröffnungen im ganzen Land. 1979 wurde er in Kingston zu einem der sechs Präsidenten des ÖRK gewählt. 1979 empfing er auch den Vorsitzenden des Päpstlichen Sekretariats für die Einheit der Christen, Kardinal Willebrands, in Tbilisi. Vor diesem Hintergrund erscheint seine Entscheidung, aus dem ÖRK auszutreten, recht unverständlich. Zu den Gründen ist Folgendes zu sagen: Eine Gruppe in der Georgischen Orthodoxen Kirche, hauptsächlich Mönche, hat die eucharistische Beziehung zur Mutterkirche und zu den anderen orthodoxen Kirchen abgebrochen aus dem einzigen Grund, dass die orthodoxen Kirchen Mitglieder im ÖRK sind. Da der Patriarch immer die Einheit als unerlässliche Vorbedingung für das Wohlergehen von Kirche und Volk betont hat, konnte er den Aufstand der Mönche, der zur Kirchenspaltung führen könnte, nicht passiv beobachten. Daraufhin hat die Heilige Synode der Georgischen Orthodoxen Kirche am 20.05.1997 beschlossen, sich von der ökumenischen Bewegung zu distanzieren. In Georgien bestehen unterschiedliche Meinungen darüber, ob der Patriarch zu dieser Entscheidung gezwungen war oder den Aufstand nur als Vorwand benützt hat. Es gibt innerhalb der Kirche Priester und Bischöfe, die jede Art von Kontakten nach außen ablehnen, aber dies verstößt gegen die georgische Mentalität, zu deren wichtigsten Charaktereigenschaften Gastfreundschaft und Loyalität dem Fremden gegenüber gehören.
Kurz noch zur derzeitigen Situation der theologischen Ausbildung an den Universitäten in meinen Heimatland, die mich dazu bewogen hat, nach Deutschland zu gehen: Während der kommunistischen Zeit gab es keine Möglichkeit, Theologie als akademisches Fach an der Hochschule zu erlernen. Das 70jährige Vakuum in der Forschung hat schlimme Folgen mit sich gebracht. Es fehlt an Fachliteratur auf Georgisch, wissenschaftliche Traditionen wurden abgebrochen und vergessen. Obwohl 1992 Theologie als Fachrichtung an der Philosophisch-Soziologischen Fakultät der staatlichen Iwane-Dschawachischwili-Universität in Tbilisi eingeführt wurde und an den mehreren Privatinstituten als Fach angeboten wird, mangelt es an Lehrpersonal. Dabei gibt es eine große Spannung zwischen Professoren, die nur dialektischen Materialismus und kritischen Atheismus gelernt haben, und Priestern oder Laien, die die Geistliche Akademie absolviert haben. Die Professoren möchten aus dem Fach eine rein akademische Fachrichtung ohne konfessionelle Einflüsse machen, die Kirche hingegen legt großen Wert darauf, die theologischen Disziplinen aus orthodoxer Sicht zu unterrichten. Aber beide Seiten erkennen die Notwendigkeit der theologischen Ausbildung im Ausland an. Das wissenschaftliche Niveau der Theologie in Europa und vor allem in Deutschland wird in Georgien sehr hoch geschätzt. Deswegen werden die Studenten gefördert und motiviert, ins Ausland zu gehen, um dort ihren Wissensstand und ihre professionellen Fähigkeiten zu vervollkommnen und nach der Rückkehr den wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Auch ich habe diese Chance zur Erweiterung meines Horizonts in fachlicher, aber auch kulturell-sozialer Hinsicht gerne genutzt.