Der „Westen“ in intellektuellen und populären Diskursen der islamischen Welt
Steht die islamische Welt dem Westen feindlich gegenüber? Diese Frage wird spätestens seit dem 11. September 2001 immer wieder aufgeworfen. Richtet sich der Hass, der sich im Terrorismus manifestiert, aber gegen die imperialistische Politik vor allem der USA – oder richtet er sich gegen den Westen, gegen westliche Werte im Allgemeinen? Hierzu lässt sich konstatieren: das Wertesystem des Westens wird zwar nicht kategorisch abgelehnt, zu Recht wird jedoch gefragt, ob diese Werte denn auch tatsächlich vertreten werden. In diesem Zusammenhang äußerte der deutsch-iranische Publizist und Islamwissenschaftler Navid Kermani: „... sie werfen dem Westen nicht seine Standards vor, sondern dass er sie nicht anwendet, wenn er Diktaturen, korrupte Regime oder den Terror einer Staatsgewalt deckt.“1 Dass mit anderem Maß gemessen wird, wenn es um die islamische Welt geht, zeigt u. a. die Diskussion um den Beitritt der Türkei in die Europäische Gemeinschaft. „Wer mit der Rede vom christlichen Abendland ein islamisches Land per se für uneuropäisch erklärt, macht aus Europa eine Religion, beinahe eine Rasse, und stellt das Vorhaben der europäischen Aufklärung auf den Kopf“.2 Auch Muslime in Deutschland haben erfahren müssen, dass für sie bisweilen gesonderte Spielregeln gelten. In der so genannten Kopftuchdebatte fällt auf, dass die gleichwertige Behandlung religiöser Symbole von Christen und Muslimen keineswegs selbstverständlich ist. Muslime haben oft den Eindruck, dass, sosehr sie auch westliche Werte verinnerlicht haben und diese leben, sie am Ende dennoch nicht dazugehören werden.
Zum Selbstverständnis des Orients
Im Orient ist man sich der Krise der eigenen Kultur sehr wohl bewusst und gibt sich keiner Illusion um den Zustand der islamischen Welt hin. Angesichts der überkommenen sozialen Strukturen, der ökonomischen Missstände, des mangelhaften Bildungswesens, des Scheiterns nationalstaatlicher Modernisierungsversuche stoßen westliche Werte wie Demokratie und Menschenrechte durchaus auf Akzeptanz. Man begreift, dass die säkularen westlichen Werte die europäische Offenheit ausmachen. Der ägyptische Politikwissenschaftler Amr Hamzawy fasst die wichtigsten Punkte in den Argumentationslinien reformorientierter Intellektueller zusammen: „Sie sind bemüht, sich in einem mächtigen globalen Diskurs zu positionieren. Es setzt sich jedoch die Überzeugung durch, dass die von den Amerikanern thematisierten Kernideen durchaus die richtigen seien. Zweitens bildet die Bezugnahme auf westliche Ideen von Demokratie ein wichtiges Fundament reformerischen Denkens. Trotz Kritik an den USA verfestigt sich die Wahrnehmung, dass ‚der Westen‘ aus pluralistischen Ländern besteht, deren Außenpolitik durch Staat und zivile Gesellschaft dauernder Reflexion und Kontrolle unterliegt. Das in der arabischen Öffentlichkeit undifferenziert gezeichnete Bild von ‚westlicher Gesellschaft‘ bekommt Risse. Drittens ist eine deutliche Abkehr vom Glauben an den Nationalstaat als Motor gesellschaftlicher Modernisierung zu beobachten.“3
In der Diskussion werden die Stimmen Konservativer, die in platten Verschwörungstheorien verharren, leiser. Um so fataler ist es, dass in der amerikanischen Politik sich gerade jetzt christlicher Fundamentalismus breit macht. Es sind nicht nur liberale Intellektuelle, die das Konzept Demokratie anspricht; auch unter Islamisten gibt es zunehmend bekennende Demokraten, die die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie postulieren. Der Ruf nach Demokratie ist also nicht auf den Westen beschränkt, denn die Völker in der islamischen Welt sind nicht zwangsläufig für die Demokratie ungeeignet.4
Außerhalb der intellektuellen Debatte werden Orient und Okzident hüben wie drüben in simplifizierenden, populären Diskursen oft als monolithische Blöcke in starrer Dichotomie wahrgenommen. In der aktuellen westöstlichen Konfliktrunde ist auf beiden Seiten vom Zusammenprall der Zivilisationen die Rede. Islamische Intellektuelle werden dagegen eher von der Frage umgetrieben, ob es denn tatsächlich zwei Welten gäbe. Abbas Beydoun, libanesischer Literat und Kulturjournalist, skizziert die Haltung der Intellektuellen wie folgt: „Ihre Welt haben sie mit dem Beginn der westlichen militärischen, ökonomischen und kulturellen Invasion verloren. Die Araber haben seitdem ihre Architektur, Kleidung, Wohnungseinrichtung und ihre Alltagsgegenstände im Rekordtempo an den Westen angepasst. Wahrscheinlich hat die westliche Invasion damals nur ein morsches, brüchiges Gebäude vorgefunden, das sich trügerischerweise selbst für die Welt hielt. Diese rasche Selbstaufgabe haben sich die arabischen Muslime bis heute nicht verziehen. Sie führte zu immensen Schuldgefühlen und ist eine Ursache für den allgemeinen Hass gegen den Westen.“5
In der verwestlichten Kultur ist das islamische Erbe weitgehend zerstört worden: arabische Intellektuelle forderten im Kolonialzeitalter die Abkehr vom – ihrer Ansicht nach – unzeitgemäßen Islam und stattdessen ein nationales Selbstbewusstsein nach westlichem Vorbild. Die eigene Kultur mit der traditionellen Dichtung, Musik usw. wurde zugunsten europäischer Kunstformen vernachlässigt. „Der starke Nationalstaat, die moderne Armee und Industrie wurden zum alles bestimmenden Ideal. Überall galt der Westen als großes Vorbild.“6 Der Orient wurde zu einem verzerrten Spiegelbild des Westens. Beydoun bezeichnet den Orient treffend als eine Art virtueller Westen und führt aus: „Es ist das, was das kolonialistische System hinterlassen hat. Das alte Gebäude wurde zerstört, ihm wurde der Mechanismus des westlichen Systems einverleibt. ... Der gegenwärtige Orient ist eine westliche Erfindung. Es existiert nur eine einzige Welt und ein einziges System, nämlich das westliche. Der so genannte Orient ist das im Baudrillard‘schen Sinn ‚falsche Gesicht‘, das hässliche Gesicht des Westens.“7
Beobachtungen in Ägypten 2003
Während meiner Aufenthalte in Ägypten im März und September 2003 ist in vielen Gesprächen mit Einheimischen mein Eindruck bestätigt worden, dass das Bild des Westens außerhalb des intellektuellen Diskurses quer durch alle Schichten nach wie vor von Stereotypen geprägt ist. Junge Menschen, insbesondere im städtischen Umfeld Kairos, orientieren sich – wie Kermani zu Recht sagt – sehr an westlichen Werten, was man etwa anhand ihrer Kleidung oder bevorzugten Musik leicht ablesen kann; viele von ihnen nähmen jede Gelegenheit zu einem Studium in Europa oder in den Vereinigten Staaten wahr. Auf der anderen Seite waren es aber vor allem Gesprächspartner aus der Mittelschicht (Zahnärzte, Ingenieure) und Ägypter, die in der Tourismusbranche tätig sind, die deutlich machten, dass sie weder geneigt seien, im Westen einen Urlaub (wenn sie je die Mittel dazu hätten), geschweige denn ihr Leben zu verbringen. Natürlich sei ein finanziell sorgloses Leben (welches im Westen nach ihrer Meinung garantiert ist!) attraktiv, aber das soziale Netz aus Familie, Nachbarn, Kollegen und Freunden würde ihnen fehlen. Dabei können Ägypter, die tagtäglich mit Touristen Umgang pflegen, sehr wohl genau die verschiedenen Nationalitäten unterscheiden. Zumeist erkennt der Taxifahrer sofort, ob sein Gast aus England, Frankreich, Italien, Spanien oder Deutschland kommt. Amerikaner und Engländer waren in den Straßen Kairos im Frühjahr wie auch im Spätsommer im Vergleich zu früheren Jahren deutlich unterrepräsentiert. Dabei konnte man sich auch in der aufgeheizten Stimmung zu Beginn des Krieges gegen den Irak durchaus sicher fühlen. Die Demonstrationen und öffentlichen Kundgebungen richteten sich stets gegen die amerikanisch-britische Politik. Touristen – auch Amerikaner und Engländer – waren so herzlich willkommen wie eh und je. Als Deutsche war man allerdings noch ein wenig herzlicher willkommen. Die Politik der deutschen Regierung, die Kritik am militärischen Einsatz der Vereinigten Staaten und Englands im Irak übte, fand großen Anklang bei den Ägyptern, wie Mustafa, Mitarbeiter eines großen Ölkonzerns, mir gegenüber auf dem Flug von Assuan nach Kairo programmatisch formulierte: „Schröder ist der Liebling aller Ägypter, ja gar der Liebling aller Araber!“ Obwohl die Anschläge vom 11. September 2001 ausnahmslos verurteilt werden und man mit einem gewaltbereiten Islamismus nichts zu schaffen haben will, so werden doch die Maßnahmen Amerikas zur Bekämpfung des Terrorismus als Krieg gegen den Islam empfunden. Im kollektiven Gedächtnis halten sich hartnäckig die Bilder von der immer wieder betrogenen islamischen Welt und vom ewigen Kampf zwischen Orient und Okzident. So werden die kriegerischen Begegnungen mit dem Westen während der Kreuzzüge oder des Kolonialzeitalters in Reden von Politikern und Predigern nach wie vor sprachlich aktualisiert. Dem Muslim bleibt angesichts der jüngsten Entwicklungen nur sabr, das geduldige Ertragen – denn Gott ist mit denen, die sabr haben –, bis die Weltmacht USA, die westliche Zivilisation insgesamt, einer anderen weicht.
Das Denkmodell von Yusuf al-Qaradawi
Diese Haltungen werden auch in den Predigten, Interviews und Veröffentlichungen eines der bekanntesten modernen Religionsgelehrten, Yusuf al-Qaradawi, deutlich. Der ägyptische Jurist und Schriftsteller wurde 1926 geboren. Nach einem Studium an der Azhar-Universität, Kairo (Diplom in Theologie 1953, Promotion 1973), wurde er nach seiner Verfolgung in Ägypten Professor für islamisches Recht in Doha/Qatar. Der Verfasser zahlreicher Bücher zur aktuellen Anwendung des islamischen Rechts und zur Situation des Islam ist schon seit seiner Jugend in der islamischen Mission tätig. Berühmt wurde er als charismatischer Prediger, der durch seine Fernsehauftritte ein weltweites muslimisches Publikum anspricht. Er ist eine der obersten Instanzen, wenn es gilt, Fragen zum Islam in der Moderne zu klären. Die Rechtsgutachten (Fatwas) des hochangesehenen Gelehrten nehmen viele als Richtschnur. Yusuf al-Qaradawi ist in der islamischen Welt überaus populär, wenn auch nicht unumstritten. Seine Botschaft ist populistisch und simplifizierend; sie richtet sich nicht an den Intellektuellen, sondern an die breite Masse der Muslime, denen er rhetorisch geschickt seine Ansichten zu Islam und internationaler Politik vermittelt. Gerade weil Qaradawi Einfluss auf viele Muslime, auch in Europa, ausübt, können seine Auffassungen als repräsentativ gelten und verdienen unsere Aufmerksamkeit. Qaradawi selbst ist zu den gemäßigteren Islamisten zu rechnen, die den gewalttätigen Terrorismus ablehnen, in der Palästinafrage aber deutlich antiisraelische und auch antijüdische Positionen beziehen; Selbstmordattentate, für Qaradawi Märtyreraktionen, zur Befreiung Palästinas werden von ihm befürwortet.8 Seine hier vorzustellenden Ansichten basieren auf der Auswertung seiner Mongraphie al-Islâm ... hadârat al-ghadd („Der Islam ... die Zivilisation der Zukunft“, Beirut u. a. 1989) sowie mehrerer Interviews und Predigten, die auf der Homepage Qaradawis veröffentlicht sind.9
Die grundlegende Position Qaradawis wird bereits in der Einführung seines Buches zusammengefasst: Die westliche Zivilisation, sowohl in Ost als auch in West dominant, ist trotz aller technischen Errungenschaften nicht in der Lage, dem menschlichen Leben Sinn zu verleihen. Vielmehr birgt sie Gefahren für die Menschheit, da sie nicht allen menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden vermag: in der Konzentration auf materielle Aspekte vernachlässigt sie sinnstiftende Funktionen. Demgegenüber vermag der Islam in seiner göttlichen Botschaft an die Menschheit sämtliche Bedürfnisse zu befriedigen und stellt für Qaradawi den einzig richtigen Weg dar.
Die Besonderheiten westlichen Denkens fasst Qaradawi in fünf Punkten zusammen:
Dunkelheit der Gotteserkenntnis: Die Vorstellung von der göttlichen Existenz ist im Westen dunkel und unklar. Gott wird nicht das volle Recht auf allumfassende Macht zuerkannt. Die verschwommene und verworrene Vorstellung lässt echte Gotteserkenntnis nicht zu, da Gott nach aristotelischer Tradition auf seine Funktion als erste Ursache oder der erste Beweger beschränkt ist. Was für ein armer, bemitleidenswerter Gott – ruft Qaradawi aus –, der Herr über die Welt ist, sie aber nicht regiert!
Materialismus: Der Hang zum Materialismus führt nach Qaradawi dazu, dass alles, was jenseits der Sinneswahrnehmung vorhanden ist, geleugnet wird. Die westlichen Länder bekennen sich mehrheitlich zum Christentum; aber einerlei, ob sie Katholiken oder Protestanten sind, die wahre Religion der heutigen westlichen Gesellschaft ist der Materialismus. Bei aufrichtiger Betrachtung muss der Okzidentale erkennen, dass er keine Religion außer dem Materialismus und keine Konfession außer dem Utilitarismus kennt. Sein Streben ist allein auf materielle Werte gerichtet, um sich das Leben immer noch komfortabler zu gestalten. Statistisch gesehen gehen nur 5 % der Christen im Westen sonntags regelmäßig in die Kirche, wobei auch dies kein zwingender Beweis für Frömmigkeit ist.
Säkularismus: Der Säkularismus scheidet zwischen Kirche (dîn) und Staat (dawla), zwischen Glaube und sozialem Leben. Die Religion ist nach westlicher Auffassung eine Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Gott, deren Sitz im Inneren des Menschen ist, außerhalb dessen aber keine Funktion hat. Religion lenkt das Leben nicht durch Gesetze und ist von Wissenschaft, Erziehung, Kultur, Herrschaft, Politik und Wirtschaft abgekoppelt. Dieses Denken ist bereits in der Bibel verankert: die Zweiteilung des Lebens in einen profanen Teil, der des Kaisers ist, und in einen sakralen, der Gottes ist. Mit dem Säkularismus einher geht die Entmachtung der Kirchen, die diese durch Monopolisierung und Kontrolle des Glaubens mitverschuldet haben.
Kampf: Das Leitmotiv der westlichen Gesellschaft ist der Kampf; sie kennt weder Frieden noch ruhige Gelassenheit oder Liebe. Der Kampf findet zwischen dem Menschen und seiner Seele, dem Menschen und der Natur, zwischen den einzelnen Menschen und sogar zwischen Mensch und Gott statt. Das christliche Prinzip der Nächstenliebe ist obsolet; Individuen kämpfen gegeneinander aus Selbstsucht um höheren Gewinn.
Überlegenheitsgefühl: Ausnahmslos wird der Verstand des Okzidentalen von der Vorstellung beherrscht, dass er der besten Rasse angehöre und das reinste Blut habe, geschaffen wurde, um zu führen und herrschen, während alle anderen geschaffen wurden, um geführt und beherrscht zu werden. Sie sind überzeugt, Europa sei der Mittelpunkt der Welt; alte, mittlere und neue Geschichte, all dies ist allein die Geschichte Europas. Nach dem Vorbild der Römer, die die Menschheit in Römer und Barbaren teilten, und in Anlehnung an das israelische Konzept des erwählten Volkes wähnt sich der Westen als Mutter der Zivilisation.
Die Auswirkungen dieser Spezifika des Westens auf den Menschen sind überwiegend negativ. Die positiven Effekte werden von Qaradawi schnell auf knapp drei Seiten abgehandelt. Die modernen Kommunikationsmittel haben die Erde zu einem globalen Dorf werden lassen. Dabei kommen die technischen Möglichkeiten von Computer und Internet auch den islamischen Wissenschaften von Koran, Hadith, Sprache, Literatur etc. zugute. Jedem Okzidentalen steht es offen, sich bestmöglich in intellektueller und ökonomischer Hinsicht zu entwickeln. Dies gewährleistet eine Gesellschaft, in der die Freiheit des einzelnen Menschen und seine individuellen Rechte verankert sind.
All diese Errungenschaften werden aber nicht zu hehren Zwecken eingesetzt und wirken sich entsprechend negativ aus. Zunächst nennt Qaradawi den moralischen Verfall, dem derjenige ausgesetzt ist, der von allen sittlichen Banden, die die Religionen determinierten, befreit ist. Der damit verbundene Egoismus führt zur Auflösung von jeder Gemeinschaft, sei es Ehe, Familie oder Gesellschaft. Sexuelle Freizügigkeit, homosexuelle Lebensgemeinschaften (beides trägt zur Verbreitung von Aids bei), die Leihmutterschaft, die steigende Zahl von Scheidungen und unehelichen Kindern sind Anzeichen des moralischen Verfalls.
Ausführlich wird der Zerfall von Familien thematisiert. Der Einzelne ist völlig isoliert, da weder eine Einbindung in die familiäre Gemeinschaft noch wahre Freundschaften, die nicht materiell determiniert sind, ihm Halt geben. Die Folge sind seelische Krankheiten und Gewalt gegen Mitmenschen. Trotz allen materiellen Wohlstands ist der Mensch im Westen nicht glücklich. Sorge und Unruhe sind die Folge der Vereinsamung und des beständigen Strebens nach persönlicher Befriedigung. Die steigende Zahl von Selbstmorden auch unter Jugendlichen und psychischer Erkrankungen sind hinlängliche Beweise für das Scheitern der westlichen Zivilisation. Dies haben auch westliche Intellektuelle erkannt, deren Positionen Qaradawi zum Beleg seiner Reflexionen darbietet. Einen Ausweg aus dem Verfall und der Selbstzerstörung kann allein wahre Spiritualtät bieten, die dem Materialismus durch moralische Werte Grenzen setzt. Nur vom Islam kann der Impetus zu einem alternativen Gesellschaftskonzept ausgehen, das die Errungenschaften der westlichen Zivilisation sinnvoll zu nutzen versteht und sinnstiftend durch moralische Werte dem Individuum ein glückliches und zufriedenes Leben ermöglicht. Um dies zu erreichen, gilt es, die gegenwärtige intellektuelle, ökonomische, politische und soziale Schwäche des Islam zu überwinden und sie zum Nutzen aller in Stärke zu verwandeln.
Um Nicht-Muslimen den Islam näherzubringen, engagiert sich Qaradawi im interreligiösen Dialog. Den Dialog mit dem Westen hält er für wichtig und unumgänglich, sieht allerdings die Schwierigkeit darin, dass christliche Werte kaum mehr eine Rolle spielen, die Kreuzzugsmentalität aber sehr wohl beibehalten wurde. Mit dem Christentum habe der Islam weit mehr gemein als mit der säkularen, materialistischen Gesellschaft. Seit der Kreuzzugszeit habe sich eine feindliche Haltung gegenüber dem Islam verfestigt, die es zunächst zu überwinden gelte. Der Islam, „die grüne Gefahr“, werde im Westen zum neuen Feindbild erklärt, nach „der roten Gefahr“ durch Kommunismus und „der gelben Gefahr“ durch die Chinesen. Gerade aber mit den Vertretern christlicher Werte im Westen könne ein Dialog aus der Krise führen, im gemeinsamen Kampf gegen Gottlosigkeit.10
Was ist der Sitz im Leben von Qaradawis Buch, wer der intendierte Empfänger seiner Botschaft? Qaradawi wendet sich mit seinen Schriften und Predigten nicht an ein westliches Publikum, sondern zielt darauf ab, den vom rechten Weg abgekommenen Muslim zur Umkehr und Reue zu bewegen. Keinesfalls ist es ihm entgangen, dass auch muslimische Gesellschaften vom Materialismus geprägt sind. Sein Buch ist weder als Beitrag zum westöstlichen Dialog, noch als detaillierte Analyse westlicher Kultur gedacht, sondern mehr im Sinne einer Mahnschrift zu begreifen. Deutlich verweist er anhand von koranischen Straflegenden auf das Schicksal, das jede materialistische Kultur zu erwarten hat. Die Rückkehr zum unverfälschten islamischen Glauben ist der Ausweg aus der Krise und wird Muslimen neues Selbstbewusstsein verleihen. Den oft vernommenen Vorwurf, dass Selbstkritik keine herausragende Eigenschaft von Muslimen sei, sondern eher auf westliche Gesellschaften beschränkt sei, kann man Qaradawi nicht machen. Allerdings vermag er nicht, genauso wenig wie die meisten anderen Islamisten, ein konkretes Bild „der islamischen Gesellschaft der Zukunft“ zu zeichnen.
Fußnoten:
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Navid Kermani, Das heilige Phantasma, in: Der Islam und der Westen, Berlin 2003, S. 27. ↩︎
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Ebd., S. 31. ↩︎
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Amr Hamzawy, Powells Saat keimt, in: Der Islam und der Westen, Berlin 2003, S. 61. ↩︎
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Zur Vereinbarkeit von Demokratie und Islam vgl. Amr Hamzawy, Powells Saat keimt (wie Anm. 3), und Georg Brunold, Allah gehört nicht zu den Feinden der Demokratie, in: Der Islam und der Westen, Berlin 2003, S. 55-62 u. 63-73. ↩︎
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Abbas Beydoun, Der Westen ist überall, in: Der Islam und der Westen, Berlin 2003, S. 76. ↩︎
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Ebd., S. 77. ↩︎
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Ebd., S. 79 f. ↩︎
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In Fatwas vom 23.03.2002 und 13.04.2002 erklärt Qaradawi den Dschihad in Palästina zur Individualpflicht (fard ’ayn; Dschihad ist ansonsten fard kifâya, „Kollektivpflicht“). ↩︎
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Vgl. die Homepage Qaradawis www.qaradawi.net; dort findet sich auch eine Auflistung seiner arabischsprachigen Titel. Publikationen Qaradawis, die in europäische Sprachen übertragen wurden, sind: Economic security in Islam. New Delhi 1997; Erlaubtes und Verbotenes im Islam. München 1989; Introduction to know Islam. [Kairo] 1997; Islamic awakening between rejection and extremism. Herndon, Va., u. a. 1991; Le véritable monothéisme. Beirut 1998; Non Muslims in the Islamic society. Indianapolis 1985; Priorities of the Islamic movement in the coming phase. Kairo 1992; Recueil de fatwas. Lyon o. J.; Time in the life of a Muslim. London 2000. ↩︎
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Interview „Der Dialog mit dem Westen“ vom 21.07.2001. ↩︎