Probleme der katholischen Kirche Frankreichs im 21. Jahrhundert.
Eminenz, worin besteht Ihrer Meinung nach die Hauptaufgabe der katholischen Kirche in Frankreich im 21. Jahrhundert?
In der Hoffnung, voran zu kommen. – Es berührt mich sehr, dass „Hoffnung“ das Leitwort des nachsynodalen Schreibens „Ecclesia in Europa“ von Papst Johannes Paul II. für Europa ist. Die gesellschaftlichen Strukturen haben sich in den letzten Jahrzehnten dermaßen gewandelt, dass sich viele Menschen fragen, wie die Zukunft der Kirche in unserem Land aussehen wird. Diese Frage berührt die Fundamente, die Möglichkeit des Glaubens in unserer gegenwärtigen Kultur. Anders gefragt: Kann das Wort Gottes heute noch die Herzen berühren, ist es noch zu empfangen und zu hören in unserer aktuellen Lebenswelt?
Wir sind also aufgerufen zur Hoffnung, zur Erneuerung unseres Glaubens. Das Wichtigste scheint mir zu sein, „den inneren Menschen zu stärken“, wie der heilige Paulus sagt (Eph 3,16). Unsere Gesellschaft ist in materieller, kultureller und sozialer Hinsicht sehr weit entwickelt, aber es gilt, die spirituelle Dimension zu erwecken. Der Überfluss an Nahrungsmitteln, die hohe Qualität der Sozialfürsorge und des Gesundheitswesens, die Volksbildung, die Universitäten, die allen offen stehenden Möglichkeiten des Sports, der Musik und der Kultur im Allgemeinen sind wunderbare Güter, die den Bewohnern zahlreicher Länder unseres Planeten fehlen. Aber sich damit zu begnügen, bedeutet, den Menschen zu verstümmeln. Sein Leben und seine Entwicklung beschränken sich nicht auf den körperlichen, seelischen und sozialen Bereich (1 Thess 5,23). Das Geistige, das im Augenblick eher vernachlässigt wird, weil es nicht messbar ist oder der Produktivität dient, ist dennoch der Schlüssel zu unserem Glück und unserem gelungenen Zusammenleben. Das ist der Punkt, auf den die Kirche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit lenken muss (ich denke dabei an den Titel des schon vor langem erschienenen Buches von Kardinal Jean Danielou, „Das Gebet, ein politisches Problem“), und vor allem die Aufmerksamkeit die Familien und der christlichen Gemeinschaften. Hier liegt der Schlüssel für alle vor uns liegenden Probleme: die volle Verantwortung der Laien, die Erneuerung der Berufungen, der Platz der neuen geistlichen Gemeinschaften in der Gesellschaft, der missionarische Elan.
Da wir an den Heiligen Geist glauben, die geheimnisvolle Kraft, die in dieser Welt wirkt, müssen wir vor allem auch auf ihn hören und aufmerksam sein für das, was er tut und „was er den Kirchen sagt“.
Können Sie uns eine kurze Einschätzung der ökumenischen Beziehungen, besonders des Verhältnisses zur Orthodoxie geben?
Die theologische Arbeit vollzieht sich im gemischten katholisch-orthodoxen Komitee von Frankreich. Dort hat man vor etwa zehn Jahren die Frage des römischen Primats in der Gemeinschaft der Kirchen diskutiert. Man weiß, dass einige Jahre später der Heilige Vater in der Enzyklika „Ut unum sint“ gefordert hat, man möge ihm Hinweise und Ratschläge über die Art der Ausübung des Petrusamtes geben. Gründlich erforscht wurde auch das Problem des Filioque. Aber selbst wenn immer noch ein Problem mit dem Sprachgebrauch besteht, hat diese Arbeit gezeigt, dass die theologischen und spirituellen Positionen nicht so weit auseinander liegen, wie die Auseinandersetzungen der Vergangenheit es haben vermuten lassen. Auf der Ebene von Personen und Gemeinden ist die brüderliche Erfahrung gegenwärtig sehr vielfältig. Die Kommunikation auf liturgischer, theologischer und geistlicher Ebene ist eine Quelle wechselseitiger Bereicherung. Immerhin findet dieses Bemühen ein wenig Anerkennung. So wurde Hans Urs von Balthasar das goldene Kreuz der Gemeinschaft vom Berg Athos verliehen. Zahlreiche katholische Gemeinden haben sich der Ikonenkunst geöffnet, und man kann jetzt Ikonen in unseren Kirchen und unseren Familien sehen. Ich habe junge orthodoxe und katholische Gesangsgruppen in Russland erlebt, die seit über zehn Jahren miteinander befreundet sind. Seit der Ankunft der Russen in Frankreich nach der Revolution von 1917 erkennen Katholiken und Orthodoxe, was sie einander zu geben haben. Man denke besonders an den Enthusiasmus von Abbé Couturier, als er die innige Frömmigkeit der Orthodoxen in Lyon erlebte. Das veranlasste ihn in Lyon vor 70 Jahren, die Gebetswoche für die Einheit der Christen einzuführen, die heute auf der ganzen Welt praktiziert wird.
Die aktuelle politische Lage und das Problem der Migration von Süd nach Nord zwingen auch Frankreich, sein Verhältnis zum Islam zu klären. Welches sind die wesentlichen Punkte im katholisch-islamischen Dialog in Frankreich?
Frankreich bietet seit langer Zeit ein gutes Beispiel für die Einwanderung, aber die Situation ist so, dass wir überrollt werden und unfähig sind, uns der Herausforderung zu stellen. Oft sieht sich die Kirche gezwungen, bei den staatlichen Behörden zu intervenieren. Dort werden unsere Eingaben durchaus beachtet, und man ist für den Dialog aufgeschlossen. Grundsätzlich ist es aber tragisch, dass man sich zu wenig um die Überwindung internationaler Chancenungleichheit kümmert, was doch für unsere Generation von immenser Tragweite ist.
Allerdings werden die Muslime immer zahlreicher bei uns. Der Islam ist zur zweitstärksten Religion in Frankreich geworden. Das ist gleichzeitig eine neue Form der ständigen Herausforderung des sozialen Zusammenlebens, die heute offenbar wird. Die Toleranz wird oft schlecht gelebt – und sie allein genügt nicht. Tolerieren reicht nicht aus; man muss alles Mögliche tun, um anderen ihren Platz in der Gesellschaft einzuräumen und ihnen zu ermöglichen, frei zu leben und sich zu entfalten. Das ist ein Gebot der Nächstenliebe. Aber dieser wechselseitige Respekt ist schwer zu leben. Die Muslime in Frankreich hatten lange Zeit nur unwürdige Orte für ihre Gebetsversammlungen. Die Frage der Religionsfreiheit und des Rechts zur Konversion ist bisher nicht ernsthaft diskutiert worden. Es gibt Bedrohungen, damit auch Ängste. Man kann sagen, dass die Atmosphäre zur Zeit ziemlich angespannt ist. Ein einfaches Glaubensbekenntnis, aus Überzeugung geäußert, wird von der anderen Seite als Aggression aufgefasst; das ist so, als ob man sich oft in eine Falle gelockt fühlt bei einer Frage über das Kopftuch, das Kreuz, die Praxis des Ramadan ...
Was darüber hinaus meiner Ansicht nach am meisten fehlt, ist der theologische Dialog. Man könnte dieses Feld eröffnen mit dem Thema der Anbetung, das auf dem des Glaubens an den Schöpfergott gründet (ein wichtiger Punkt, wenn man an die anthropologischen Konsequenzen denkt und unsere Beziehungen etwa mit dem Buddhismus in dieser Frage vergleicht), oder mit dem Thema der Barmherzigkeit. Es gibt einen ganzen Katalog verschiedener Aspekte dieses Dialogs in dem Gespräch, das Johannes Paul II. in Casablanca am 19. August 1985 geführt hat. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte bereits in Grundzügen damit begonnen, ausgehend von der Menschwerdung Christi, woraus das Konzil ableitete, dass der christliche Glaube in gewisser Weise darauf hin zielt, allen Menschen zu begegnen. Deshalb werden wir uns darum bemühen, brüderlich mit den Muslimen zu sprechen; die Erfahrung zeigt jedoch, dass dies nicht einfach ist.
Welche Aufgaben kommen den Christen und den Kirchen in Frankreich angesichts der zunehmenden Migration zu?
Immense Aufgaben! Unsere christliche Erziehung hat uns gelehrt, dass die Not des Nächsten uns niemals gleichgültig sein kann. Der heilige Paulus sagt, dass sich die Nächstenliebe dadurch auszeichnet, dass sie uns Mühe und Anstrengung bereitet (1 Thess 1,3). Das ist übrigens ein gutes Kriterium für uns: Sind wir müde geworden, die Eingewanderten aufzunehmen? Die Kirche ist keine Gruppe, die Druck ausübt, sozial oder politisch. Sie respektiert die Gesetze der Republik, die Regierung und alle diejenigen, die Autorität haben. Aber sie tut alles, um die Aufmerksamkeit der öffentlichen Gewalten auf die Not derjenigen zu lenken, die an unserer Seite leben. So haben wir zum Beispiel in Lyon – der Bürgermeister, der Präsident des Conseil Général, die Präsidentin der Region Rhône-Alpes und ich – einen gemeinsamen Brief an den Premierminister hinsichtlich der Aufnahme von Asylbewerbern und von obdachlosen Flüchtlingen in der Region Lyon gerichtet.
Ich lasse auch keine Gelegenheit aus, auf dieses Problem immer wieder hinzuweisen. Warum sind wir seit langer Zeit verpflichtet, 0,7 % unseres Bruttosozialprodukts an die armen Länder zu geben, überschreiten aber de facto nie die Schwelle von 0,3 %? Es ist ganz klar, dass jeder es vorzieht, in seinem Land zu leben und seine Familie dort durchzubringen. Daher müssen wir sowohl diejenigen integrieren, die schon bei uns leben, als uns auch dafür einsetzen, dass sich die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern so verbessern, dass die Menschen nicht gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, sondern dort menschenwürdig leben können.
Aus dem Französischen übersetzt von Christof Dahm.