Alles fließt.

Der Fluss als Lehrer des Lebens
aus OWEP 3/2004  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist Theologe, Journalist und der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift.

Flüsse gehören zur Erde wie Berge und Täler, wie Wüsten und Meere, wie Bäume und Menschen. Flüsse sind uns vertraut. Und dennoch: Sind sie uns wirklich vertraut? Sind sie uns selbstverständlich?

Sieht man genauer hin, dann sind sie voller Faszination und Schrecken. Flüsse haben viele Gesichter. Flüsse sind Geheimnisse für sich. Niemals ganz zu enträtseln.

„Panta rhei“, alles fließt, heißt der lapidare Satz des Vorsokratikers Heraklit. Und von ihm stammt auch der Spruch: „Keiner steigt zweimal in denselben Fluss.“

Flüsse sind Symbole des Lebens.

Der Fluss – ein großes und einfaches Bild

Der französische Schriftsteller Albert Camus (1913-1960) sagte einmal, dass der Mensch in seiner Arbeit nichts anderes suche als die Wiederentdeckung jener zwei oder drei großen und einfachen Bilder, angesichts derer sein Herz sich zum ersten Mal öffnete. Der Fluss ist eines dieser Bilder.

Der Fluss hat Ursprung, er hat eine Quelle.
Der Fluss hat ein Bett.
Der Fluss hat zwei Ufer.
Der Fluss hat eine Mündung.
Der Fluss fließt, eilt schnell dahin. Im Fließen hat er seine Beständigkeit.
Ein Fluss bleibt nicht stehen.
Er kommt aus dem Innern der Erde und er verströmt sich in die Unendlichkeit des Meeres.
Was Wunder, dass seine Eigenschaften übertragen werden auf die Wechselfälle des Lebens!

Der Fluss – ein Bild unserer Träume

In der Traumsymbolik erscheint der Fluss als Bild der seelischen und körperlichen Energie. Das Traumbild bezieht sich auf alle Lebensvorgänge: auf Gedanken, Gefühle und Handlungen. Da der Fluss nie ohne Ufer ist, kann er den Wunsch nach einem maßvollen Einsatz der Kräfte oder den Wunsch danach andeuten. Je nach der Intensität taucht er in den Träumen auf als Strom oder als Bach. Positiv erscheint er als ruhig fließendes Wasser mit festen, angenehmen Ufern; negativ als reißender Fluss mit Wasserfällen, schäumenden Wirbeln und Strudeln und steilen, wilden, zerklüfteten Ufern.

Aus der Finsternis kommst du, mein Strom

Welche inneren Bilder ein Fluss, ein Strom hervorzubringen vermag, zeigt ein Gedicht des baltischen Lyrikers Johannes Bobrowski. Flüsse und Ströme sind ein zentrales Thema in seinem Werk.

Die Memel

Hinter den Feldern, weit
hinter den Wiesen
der Strom.
Von seinem Atem
aufweht die Nacht.
Über den Berg
fährt der Vogel und schreit.

Einmal mit dem Wind
gingen wir, stellten das Netz
in der Mündung des Wiesenbachs.
In den Erlen
hing die Laterne. Der Alte
nahm sie herab.
Das Schmugglerboot stieß auf den Sand.

Aus der Finsternis
kommst du, mein Strom,
aus den Wolken.
Wege fallen dir zu
und die Flüsse, Jura und Mitwa,
jung, aus Wäldern und lehmschwer
Szeszupe. Mit Stangen die Flößer
treiben vorbei. Die Fähre
liegt auf dem Sand.

Und der Himmel
dunkelt von Vogelheeren.
In der Luft aus schlagenden Flügeln, hoch,
Schilflaut, Brunnenrauch, harziger Wälder Rauch.
An den Birken, über dem Ufer nun
stehn die Frauen, mit Bändern,
gelben und roten – eine,
an den gewölbten Leib
zieht sie die Töchter, die jungen
Söhne baden im Strom.

Strom,
alleine immer
kann ich dich lieben
nur.
Bild aus Schweigen.
Tafeln dem Künft‘gen: mein Schrei.
Der nie dich erhielt.
Nun im Dunkel
halt ich dich fest.

Der Fluss – ein Symbol aller Religionen

In allen Religionen ist der Fluss ein zentrales Bild, zumal in den drei großen monotheistischen. Er erscheint dort als Bild des Fließens der vergänglichen Formen, der vielfältigen Möglichkeiten der Fruchtbarkeit, des Todes und der Erneuerung des Lebens.

Der „Fluss von oben“ ist in der jüdischen Tradition der Einfluss der göttlichen Gnade.

In den alten Religionen gibt es die vier Paradiesflüsse: Indus, Ganges, Euphrat und Tigris. Diese Flüsse kommen von oben und fließen dann horizontal in den vier Grundrichtungen bis an die Grenzen der Erde. Nach einer muslimischen Legende entstanden Euphrat und Tigris aus den Tränen, die Adam vergoss, als er aus dem Paradies vertrieben wurde. An den „Wasserflüssen Babylons“ weinten die aus ihrer Heimat vertriebenen Juden.

Flüsse sind heilig. Sie sind von Göttern bewohnt. Ja, sie verkörpern selbst Götter.

Es gibt zahlreiche Darstellungen im frühen Christentum, die zeigen, wie die heiligen Flüsse auf einem Hügel entspringen, auf dem Christus oder das Gotteslamm stehen. So symbolisieren sie die vier Evangelien, die „aus Christus fließen“. Aber auch das Wasser der Taufe.

Flüsse sind Ziele der Pilgerschaft. Man reinigt sich in ihnen und schöpft daraus neues Leben.

Der Fluss – Ort wichtiger Entscheidungen

Sowohl im Leben der Völker als auch des Einzelnen ist der Fluss immer wieder ein Ort schicksalhafter Entscheidungen.

Es gibt eine Geschichte im Buch Genesis des Alten Testaments, die dies unüberbietbar deutlich macht: Es ist die Geschichte von Jakobs Kampf mit Gott. Dort heißt es: „In derselben Nacht stand er (Jakob) auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde, sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als nur noch er allein zurück geblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg“ (Gen 32,23-25).

Bevor es zur entscheidenden Begegnung mit Gott kam, musste Jakob alles am anderen Ufer lassen, alles, was ihm gehörte. Er musste durchs Wasser gehen, um dem zu begegnen, den er suchte. Zwischen der Welt der Menschen und der Begegnung mit dem großen Geheimnis der Menschen: der Fluss, das andere Ufer. Wie das Ende der Geschichte zeigt, ging diese Begegnung, dieser Kampf nicht ohne Wunde aus: „Er hinkte an seiner Hüfte“ (Gen 32,32). Zwischen Gott und den Menschen ein Fluss. Gefährlich ist es, das andere Ufer zu betreten.

Ähnliche Geschichten gibt es in allen Religionen. Und immer wieder taucht ein Fluss in ihnen auf.

Ein kurzes afrikanisches Gebet lautet: „Wenn ich am Ufer des großen Maraflusses stehe, brauche ich keine weiteren Beweise Deiner Gottheit.“

Man braucht aber nicht nur Bilder zu bemühen. Flüsse sind auch im Leben der Völker von zentraler und konkreter Bedeutung. Um sie wurden und werden Kriege geführt, weil sie das Kostbarste mit sich führen, was der Mensch unbedingt zum Leben braucht: das Wasser, das lebensspendende und lebenserhaltende Wasser. Ohne Wasser geht nichts auf dieser Welt. Wir Menschen selbst bestehen zu großen Teilen aus nichts als Wasser.

An Flüssen hat sich häufig das Schicksal eines Volkes und einer Nation entschieden. Auch in Zukunft wird es so sein.

Die Quelle – alles fängt einmal klein an

Der Fluss ist nicht von vorneherein groß. Er fängt klein an. Fast unscheinbar. Sein Wasser hat in den Wolken und unter der Erde seinen Ur-sprung. Geht man den Rinnsalen entlang, sieht man, dass sie sich vereinigen, zusammenfließen, größer werden und breiter.

Was klein angefangen hat, wird plötzlich groß, bekommt Wucht und Kraft, erhält Strömung, reißt mit. Man muss die Quellen pflegen, achtsam mit ihnen umgehen. Reiner Kunze sagt es in einem Gedicht:

Sensibel
ist die erde über den quellen: kein baum darf
gefällt, keine wurzel
gerodet werden
die quellen könnten
versiegen
wie viele bäume werden gefällt,
wie viele wurzeln
gerodet
in uns

Schon an der Quelle entscheidet sich das Schicksal des Flusses. Im Anfang liegt das Ende. Das Ende sagt etwas aus über den Beginn.

Das Flussbett – Leben braucht Bahn und Raum

Ein Fluss fliegt nicht durch die Luft. Er fließt auf der Erde. In ihr gräbt er sich sein Bett, schafft sich selber Raum und Grenze zugleich. Der Fluss ist der Erde verhaftet.

Er dringt mit seinem Wasser in sie ein, macht sie feucht und fruchtbar, nährt sie. Das kann er nur, weil er in einer Bahn fließt, die ihm durch die Beschaffenheit der Erde vorgegeben ist. Der Fluss kann sich sein Bett nicht beliebig suchen. Er muss Hindernisse überwinden, bergauf und bergab. Verlässt er sein Bett, hört er auf, Fluss zu sein.

Das Ufer – Leben hat Grenzen

Ohne Ufer kein Fluss. Ufer markieren die Grenze. Die Grenze des festen Landes und die Grenze des unsicheren Wassers.

Das Ufer ist ein Ort der Ruhe. Wer aber am Ufer steht und Ruhe sucht, wird sogleich sehen, dass der Fluss fließt. Wenn er wieder in den Fluss steigt, wird er nicht derselbe sein, als der er für eine Zeit aus ihm stieg. Auch während der Ruhe bleibt alles im Fluss.

Wer das rettende Ufer erreicht, hat für eine Zeit Frieden gefunden, er braucht der Macht des strömenden Wassers nicht mehr zu widerstehen. Er muss nicht mehr gegen den Strom schwimmen.

Eines frühen Abends fuhr ich mit dem Zug den Rhein entlang, schaute lange hinaus auf den Fluss, an die Ufer. Dann schrieb ich mir auf:

Abend am Strom.
Die Schiffe kehren heim
und die Menschen
Das Gebirge wird
dunkel.
Weiße Wolkenschleier
steigen aus den schmalen Tälern
Kleine Orte
Wie Perlen
Stätten der Zuflucht
Am ewigen Fluss.

Langsamer fließt die Zeit

Tritt der Fluss über die Ufer, überschwemmt er das Land. Bringt Tod und Zerstörung, wird uferlos, böse und unberechenbar. Dann helfen keine Dämme mehr gegen die Flut.

Am Ufer entscheidet sich, was im Fluss ist und bleibt. Wer am Ufer uferlos lebt, wird am Ende den Fluss nicht mehr bändigen können.

Die Mündung – das Leben ist endlich

Ist der Fluss groß und alt geworden, hat er die Ufer hinter sich gebracht, oft Hunderte und Tausende von Kilometern, mündet er in einen größeren Fluss oder ins Meer. Er wechselt seine Form, löst seine Gestalt auf, vermischt sich mit anderen Wassern. Kein Fluss kann immer Fluss bleiben. Er ist vergänglich, Fluss auf Zeit. Sein Ende ist die Mündung. Danach ist er nicht mehr. War einmal. Das Flussbett verschwindet, die Ufer bleiben zurück. Der Fluss sucht das Weite.

Alles im Fluss

Flüsse sind Zeichen des Lebens.
Sie fließen in der Zeit.
Sie haben einen Anfang.
Sie haben ein Ende.
Fließen ist ihre Gegenwart.
Flüsse machen Geschichte.
Flüsse trennen Menschen.
Flüsse vereinen sie.
Voraussetzung ist, dass man Brücken baut.
Dass man übersetzt von einem Ufer ans andere.
Alles ist Übergang.
Flüsse nähren.
Flüsse zerstören.
Flüsse reißen mit.
Man kann mitschwimmen im Strom.
Man kann gegen den Strom schwimmen.
Das eine ist leicht.
Das andere ist schwer.
Flüsse sind Lehrer.
Sie lehren das Leben.