Mein Dnjepr
Der Dnjepr ist der bedeutendste Fluss der Ukraine und drittgrößter Strom Europas. Seine Länge beträgt 2.201 km, davon sind rund 2.000 km schiffbar; das Einzugsgebiet umfasst ca. 500.000 km2. Die Quelle des Dnjepr liegt im Norden des mittelrussischen Landrückens, rund 250 km westlich von Moskau; der Fluss mündet unterhalb von Cherson in das Schwarze Meer. Er durchfließt Russland, Weißrussland und die Ukraine. An seinem Lauf liegen bedeutende Städte und Industriestandorte wie Kiew und Dnjepropetrowsk. Besondere Bedeutung haben die chemische Industrie, Eisen- und Stahlerzeugung sowie Großkraftwerke bei Kiew, Kanew, Krementschug, Dnjeprodserschinsk, Saporoschje und Kachowka. Die wichtigsten Nebenflüsse von links sind: Sosch, Desna, Sula, Psjol, Worskla, Samara; von rechts: Beresina, Pripjat, Teterew, Ingulez.
I.
„Der Weg von den Warägern zu den Griechen und von den Griechen den Dnjepr entlang und an den Oberläufen des Dnjepr schleppt man die Kähne bis zum Lowot, und über den Lowot gelangt man in den Ilmensee – einen großen See; aus diesem See fließt der Wolchow und mündet in den großen Newasee, und die Spitze dieses Sees mündet in das Warägische Meer. Auf diesem Meer kann man bis Rom segeln, und von Rom kann man auf dem gleichen Meer nach Konstantinopel und von Konstantinopel in das Schwarze Meer segeln, in welches der Fluss Dnjepr mündet.“ Das ist vermutlich das erste Mal in der Geschichte, dass vom Autor der „Chronik der vergangenen Jahre“ die, wie wir heute sagen würden, geopolitische Bedeutung des Dnjepr beschrieben wurde, des drittgrößten Flusses in Europa, der in mancher Hinsicht wunderbar und unergründlich ist. Doch bereits lange vor dem Autor der „Chronik“ war der Vater der Geschichtsschreibung, Herodot, begeistert von diesem Fluss. Er nannte den Dnjepr (auf Griechisch Borysthenes) „den größten und reichsten unter allen Flüssen überhaupt, außer dem ägyptischen Nil“.
In der Mitte des 10. Jahrhunderts beschrieb der byzantinische Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennitos in seinem Werk „Über die Staatsverwaltung“ die wilden Stromschnellen des Dnjepr, das schäumende Wasser und die tosenden Wasserfälle mit hohen Klippen und mit kleinen Inseln. Die Bewohner der Rus‘ überwanden die Stromschnellen, gelangten mit Kaviar und Sklaven nach Byzanz, mit diplomatischen Gesandtschaften ebenso wie auf Kriegszügen. Offensichtlich mussten auch die uns aus der „Chronik“ bekannten Boten, die nach Byzanz geschickt waren, um den „griechischen Glauben“ zu erforschen, diese Felsen überwinden; tief beeindruckt von der Großartigkeit der ostkirchlichen Liturgie kehrten sie zurück: „Wir wussten nicht, ob wir im Himmel oder auf der Erde waren. Diese Schönheit werden wir nie vergessen …“
Der Dnjepr als die mächtigste aller Gottheiten hat über Jahrhunderte die heidnischen Opfer der verschiedensprachigen Völker entgegengenommen, die er ernährt und bestraft, gezüchtigt und liebkost hat, und er ist für die Bewohner der Rus‘ zum Taufbecken geworden. Vielleicht haben die Historiker Recht, und die Rus‘ wurde gar nicht auf die Weise getauft, wie die „Chronik“ davon berichtet, und die Bewohner von Kiew sind nicht in Massen unter dem strengen Blick des bekehrten Heiden Wladimir Swjatoslawitsch in die Wasser des Dnjepr gestiegen. Sie rannten auch nicht den in den Dnjepr geworfenen alten Götzenbildern hinterher und baten das wichtigste von ihnen, wieder aufzutauchen und nicht in den schnellen Wellen des Dnjepr unterzugehen. Doch vielleicht ist alles wirklich so geschehen – der alte Chronistenmönch hat doch den Fluss der Zeit nicht für den des Schreibens unkundigen Fürsten und auch nicht für die folgenden Generationen fixiert, sondern er hat Rechenschaft vor Gott selbst abgelegt. Wie es auch gewesen sein mag, allein die Tatsache, dass die Rus‘ in den Wassern des Dnjepr „anteilhaftig an Christus“ wurde, ist an seinen Ufern immer erinnert worden – nicht nur während der pompösen 900-Jahr-Feier der Taufe der Rus‘ im Zarenreich oder bei der 1000-Jahr-Feier zur Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka, sondern auch während der Stalinschen Fünf-Jahres-Pläne, als sich der Fluss im Schraubstock der „sozialistischen Rekonstruktion“ krümmte. Die Geschichte hat uns nicht nur die Chroniken der üppigen Zeremonien am Dnjepr zu Zeiten von Alexander III. und Nikolaus II. hinterlassen, sondern auch die rührenden Erinnerungen über die Weihe des großen Flusses durch überlebende Dorfpriester in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als in der gesamten Sowjet-Ukraine nur noch 14 orthodoxe Kirchen geöffnet waren.
II.
Der Dnjepr gehört ohne Zweifel zu jenen Wasserläufen, die mit großer Bedeutung verbunden sind. Er ist ein wesentliches und untrennbares Element, wenn man Taras Schewtschenko („Es gibt keinen zweiten Dnjepr …“) glauben darf, jener unsagbaren Substanz, aus der das Gewebe der ukrainischen Identität gewebt ist. Hierzu gehören auch die Wasser der Donau und des südlichen Bug, die des nördlichen Donez und der Desna und des Tscheremosch mit dem Dnjestr. Doch das ist nicht wichtig. Sie alle münden in den Dnjepr – nicht geographisch natürlich, sondern im Sinne des nationalen Bewusstseins. Vom Dnjepr und seinem freien Element, von seinen Wellen, die die schnellen Kähne der Saporoger Ritter tragen, erzählte man den Kindern in den Karpaten-Bergen und in den Steppen des Donez, in den Wäldern von Poliessje und Wolynien. Ebenso von der Dnjepr-Insel Hortiza, wo die Kosaken ihre berühmte Sitsch gegründet haben, von ihren heldenhaften Siegen und bitteren Niederlagen, von ihrer Furchtlosigkeit und ihrem Edelmut, und davon schließlich, dass ihr Blut nicht umsonst vergossen wurde. Und in diesen Geschichten besteht offensichtlich, wenn man die elegante Metapher von Ernest Gellner verwenden darf, die „Nabelschnur der Nation“.
III.
Heute leben im Becken des Dnjepr etwa 33 Millionen Menschen, und jeder von ihnen – fast jeder – hat sein persönliches Bild von diesem Fluss. Der Mensch kann sich professionell mit Ökologie oder Geschichte beschäftigen, mit der Pflanzenwelt oder der Archäologie, doch wenn er am Dnjepr lebt, ist dieser Fluss für ihn niemals nur eine Kubiklitermenge an Wasser und an Tonnen chemischer Substanzen, die von den so genannten „Industriegiganten“ in ihn geleitet wurden. Der Dnjepr ist für jeden, der an seinen Ufern aufgewachsen ist, ein Teil des Lebens selbst geworden, ein Konglomerat von Gerüchen, Geräuschen, Bildern, Erinnerungen an Begegnungen, Verluste und Erlebnisse. „Mein“ Dnjepr ist der Geruch von Weiden und Schiffsbenzin, die Sonne, die über dem Glockenturm des Höhlenklosters von Kiew untergeht, die ohne Nähte geschweißte Brücke des Konstrukteurs Paton, der Flieder im Botanischen Garten und natürlich die Kastanien, die mit ihren weißen Kerzen die Abhänge am Dnjepr bestreuen. Dieses Bild verbinde ich mit meiner ersten Fahrt auf dem Strom mit dem Dampfer „Nikolaj Tschernyschewski“, der zum Grab von Schewtschenko nach Kaniew fuhr – ich war mit meiner noch ganz jungen Mutter auf diesem Dampfer, das Radio spielte bravouröse sowjetische Lieder, ein älterer Mann schimpfte über den gerade abgesetzten Chruschtschow, weil der „den Dnjepr mit Stromkraftwerken verschmutzt hat“; an der Anlegestelle in Kaniew viele Menschen in gestickten ukrainischen Hemden, und überall sprach man ukrainisch …
Über dem Dnjepr gab es noch nicht so viele missgestaltete Betonklötze der Breschnew-Epoche, die monströse eiserne Dame, die ein Schwert über den Kuppeln der Kirchen von Kiew schwingt, und das äußerst primitive Denkmal „der Freundschaft des russischen und des ukrainischen Volkes“, das von den Bewohnern von Kiew rasch „das Joch“ genannt wurde. Flussaufwärts von Kiew zögerten die Menschen noch nicht, das Wasser direkt aus dem Fluss zu trinken, und der Fluss Pripjat, der die Wassermenge im Dnjepr fast verdoppelt, rief noch keine bösen Assoziationen hervor. Es gab damals noch nicht einmal die Pläne für das Lenin-Atomkraftwerk von Tschernobyl.
Zehn Jahre später wurde das Atomkraftwerk geplant und gebaut. Und deswegen ist „mein Dnjepr“ auch das Dorf Stracholesje am Dnjepr, wohin ich im Mai 1986 geriet: Ein Stacheldraht um die schnell errichtete 30 km-Zone; heißer Staub, Militärkommandos, Geigerzähler, Atemgeräte und Hunderte von Notizen, die die Evakuierten auf einem schwarzen Brett vor dem Gemeindehaus aufgehängt hatten. Das betraf auch das Gebiet des Atomkraftwerks selbst, Spaten, Metallgeschmack auf den Lippen, Bleigeruch und mit Blei ausgelegte Gräben, wohin die vergiftete Erde des Atomkraftwerks gebracht werden musste. Und das waren natürlich meine Kameraden aus dem 731. Bataillon des Spezialschutzes, das in einer Nacht komplett aus Reservisten zusammengestellt worden war, die damals alle noch gesund waren und zu überleben hofften.
Mein Dnjepr, das sind sowohl kleine Ecken als auch eine ganze Welt, etwas sehr Persönliches und etwas ganz Soziales, und vielleicht ein ganzes Weltall, was wahrscheinlich niemand je besser gesagt hat als Gogol: „Die Sterne scheinen und leuchten über der Welt, und sie alle spiegeln sich im Dnjepr wieder“.
Deutsch von Thomas Bremer.