Die Moskwa – ein „kapitaler“ Fluss
Der Flussname „Moskwa“ ist vermutlich vom altslawischen Wort „moska“ (= „Sumpf, Feuchtigkeit“) abgeleitet und verweist auf das sumpfige Gelände rings um das Flussbett. Die Moskwa entspringt in den Smolensk-Moskauer Höhen und ist ein Nebenfluss der Oka, in die sie bei Kolomna mündet. Die Moskwa ist 504 km lang, davon befinden sich 80 km auf dem Moskauer Stadtgebiet. Die Breite des Flusses auf dem Moskauer Territorium schwankt zwischen 120 m (am Kreml) und 200 m (an den Sperlingsbergen). Vor der Stadt Moskau erreicht der Fluss eine Höchsttiefe von 3 m, danach maximal 6 m. Der Strom ist ab Moskau schiffbar, insgesamt auf 210 km. Hierfür sorgt der Moskwa-Kanal, der seit 1937 eine Verbindung zur Wolga herstellt und den Fluss an das Wasserstraßennetz anschließt. Ursprünglich hatte die Moskwa etwa hundert Nebenflüsse. Die meisten sind jedoch nur noch in Straßennamen erhalten, denn seit dem 19. Jahrhundert wurden rund achtzig Flüsse und Bäche in unterirdische Röhren verlegt. Heute ist der wichtigste Nebenfluss der Moskwa die Jausa. Die Moskwa fließt u. a. durch Moschajsk, Swenigorod, Moskau, Schukowski und Kolomna.
Für russische Verhältnisse ist die Moskwa eher ein Flüsschen als ein Fluss. Denn mit einer Länge von nur 504 km ist sie um ein Vielfaches kleiner als die großen Ströme Russlands, etwa die Wolga oder die Lena. Und anders als die in unzähligen Liedern besungene „Mutter Wolga“ ist die Moskwa auch nie zu einem Inbegriff russischer nationaler Identität geworden.
Dennoch ist die Moskwa berühmt – aber nicht wegen ihrer Größe, sondern deshalb, weil sie mitten durch die Hauptstadt Russlands fließt, mit deren Entwicklung sie aufs Engste verbunden ist: Moskau verdankt dem Fluss nicht nur seinen Namen. Die günstige Lage an einer Wasserstraße und an der Kreuzung der Handelswege von Nord nach Süd und von Ost nach West haben ganz wesentlich zum Aufstieg Moskaus beigetragen. Dadurch, dass die Moskwa sich in großen Schleifen durch die Stadt zieht und dort wichtige Kristallisationspunkte nationaler Identität verbindet, hat sie sich gleichsam auf Schleichwegen doch noch Geltung verschafft. Einige dieser symbolträchtigen Orte und Monumente, die den „Fluss der Kapitale“ säumen, sollen auf einer kurzen Schiffsreise vorgestellt werden. Es sind Orte der Repräsentation staatlicher und kirchlicher Macht, Orte der Erinnerungskultur und der Entspannung. Zugleich erschließen sie verschiedene Zeitschichten der Erinnerung.
Steigen wir also in eines der Ausflugsboote, die flussaufwärts vom Hotel Rossija zur Anlegestelle am Kiewer Bahnhof fahren. Unsere virtuelle Stadtrundfahrt auf der Moskwa beginnt an der schmalsten und zugleich prominentesten Stelle des Flusses: am Borowitzki-Hügel, der sich am rechten Ufer 40 Meter hoch erhebt. Hier, wo früher die Moskwa und die inzwischen unter die Erde verbannte Neglinnaja zusammenflossen, lag die erste kleine Siedlung auf dem Gebiet der späteren Metropole. Anfang des 14. Jahrhunderts entstand auf Beschluss des Fürsten Juri Dolgoruki die Stadt Moskau. Seit dem späten 15. Jahrhundert prangt auf dem Hügel der steinerne Kreml – die Schaltzentrale der Macht, von der aus Russland regiert wird, wenn man einmal von den etwa 200 Jahren absieht, in denen Sankt Petersburg als Hauptstadt fungierte. Die imposante Wehranlage des Kreml strahlt Machtbewusstsein, Verteidigungsbereitschaft, aber auch Weltläufigkeit aus. Denn die Schwalbenschwanz-Zinnen auf den roten Festungsmauern gehen unverkennbar auf italienische Vorbilder zurück. Nicht weniger eindrucksvoll dokumentiert die Kreml-Silhouette die Nähe von weltlicher und geistlicher Macht im Zarenreich. Drei große weiße Sakralbauten überragen die Mauern der Burganlage: der Glockenturm „Iwan der Große“, die Mariä-Entschlafens-Kathedrale und die Erzengel-Kathedrale. Sie lassen erkennen, warum Moskau vor der Revolution als „Stadt der goldenen Kuppeln“ bezeichnet wurde. Im Gegensatz zu den Bauten der Zarenzeit sind die Regierungsgebäude aus der Sowjet-Ära – wie der unter Chruschtschow errichtete Kongresspalast – zunächst vom Fluss aus nicht zu sehen. Seitdem die Sowjetsterne auf den Türmen wieder durch Doppeladler ersetzt wurden und über dem Alten Senat statt der roten Fahne die Trikolore weht, scheinen sich die Spuren der Sowjetzeit im Kreml fast restlos verflüchtigt zu haben. Auch das neue Russland ist im Kreml kaum präsent. Mit dem postsowjetischen Zeitalter assoziiert man doch eher das „Weiße Haus“, das sich an der nächsten Biegung der Moskwa flussaufwärts befindet und das während des Putschversuchs von 1991 sowie während der Auseinandersetzung zwischen Parlament und Präsident 1993 eine prominente Rolle spielte.
So spärlich sich die Spuren der Sowjetzeit im Kreml ausnehmen, so unübersehbar sind sie auf dem gegenüberliegenden Ufer der Moskwa, wo sich das „Haus der Regierung“ befindet. Das Gebäude wird selten beim offiziellen Namen genannt, sondern heißt meist einfach „das Haus am Ufer“ – nach dem Titel des berühmten Romans von Juri Trifonow, der das Leben der 1930er Jahre in und um das Haus beschreibt. Der graue Koloss wurde 1928-1931 für die Eliten aus Politik, Militär, Wissenschaft und Kunst gebaut. Nur Auserwählte hatten das Privileg, dort zu wohnen. Für die damalige Zeit war die Ausstattung der über 500 Wohnungen luxuriös, außerdem fanden sich – dem Geist der zwanziger Jahre entsprechend – in dem Wohnkomplex verschiedene Kultureinrichtungen sowie eine reichhaltige Dienstleistungs- und Konsum-Infrastruktur. Die Bewohner/innen hatten ein eigenes Klubgebäude, aus dem später ein Kleinkunst-Theater (das noch heute existierende „Teatr estrady“) wurde, außerdem ein Kino – lange Zeit das größte in Moskau überhaupt. Während der Stalinschen Säuberungen der späten dreißiger Jahre, die sich hauptsächlich gegen die altbolschewistische Elite wandten, fielen Hunderte der Hausbewohner/innen den Repressionen zum Opfer. Ihre Verwandten wurden meist in Kommunalwohnungen umgesiedelt – eine Erfahrung, die auch Trifonow machen musste, der selbst einige Jahre in diesem Gebäude gewohnt hat. Sein Roman vermittelt eindringlich die Atmosphäre der Angst kurz vor den Schauprozessen und die Wahrnehmung des „tausendfenstrigen Riesenkastens“ aus der Sicht von Durchschnittsbürger/innen, die in den kleinen Häusern nebenan wohnten. Was Trifonow nicht mehr erzählt: Trotz vielfältiger Umbrüche blieb das Gebäude ein Ort der jeweils tonangebenden Eliten. Ende der dreißiger Jahre zogen Aufsteiger/innen der Stalin-Zeit ein, nach dem Krieg kamen verdiente Militärs hinzu. Bis heute ist das Haus eine der besten Adressen Moskaus.
Wer ein weiteres kleines Stück flussaufwärts fährt, kommt an einen geschichtsträchtigen Ort anderer Art. Hier hat das postsowjetische Russland der Jelzin-Ära seinem Verhältnis zur Vergangenheit gleich mehrere Denkmäler gesetzt. Zwei davon verkörpern ein – mehr oder weniger offensichtliches – Bekenntnis zur vorrevolutionären Tradition. Dem Reformzaren Peter I. wurde auf einer künstlich aufgeschütteten Insel in der Moskwa ein monströses Denkmal errichtet, das den Herrscher als Steuermann eines riesigen Schiffes – des russischen Staates – zeigt. Weniger leicht erschließt sich die Bedeutung der benachbarten Erlöserkathedrale für die historische Identität. Die Kirche, deren enorme Goldkuppel mit den Kuppeln der Kreml-Kirchen korrespondiert, steht direkt am rechten Ufer des Moskwa-Flusses, nur einen Kilometer von der Zarenburg entfernt. In ihre Geschichte sind diverse Schichten der russisch-sowjetischen Vergangenheit eingekapselt. Denn die heutige Erlöserkathedrale ist eine in Rekordtempo wieder aufgebaute Replik des gleichnamigen vorrevolutionären Gebäudes, das im 19. Jahrhundert auf Anweisung von Alexander I. als Gedächtniskirche für den russischen Sieg über Napoleon erbaut worden war. Es sollte die militärische Stärke und die Religiosität Russlands versinnbildlichen. Stalin ließ die Kathedrale 1931 sprengen, um Platz für das zentrale Symbol der neuen Zeit zu schaffen: einen gigantischen Palast der Sowjets, der mit 420 Metern das damals höchste Bauwerk der Welt werden und den Überlegenheitsanspruch des Sozialismus über die kapitalistische Welt dokumentieren sollte. Die Lenin-Statue an seiner Spitze wäre in den Wolken verschwunden. Aber das sumpfige Gelände trug nicht einmal das schwere Fundament des Sowjetpalasts, und so entschied man sich für eine Notlösung: 1960 wurde hier das riesige Freiluftschwimmbad „Moskwa“ eingerichtet. Im Winter waren durch die Dampfschwaden, die über dem geheizten Wasser schwebten, die Badekappen der Schwimmenden zu erkennen – ein ebenso irreales wie einprägsames Bild. Nach dem Ende der UdSSR entwickelte sich das Schwimmbad zum Symbol für das Scheitern der himmelstürmenden Pläne der Sowjetzeit und wurde geschlossen. Seinen Platz nahm die Erlöserkathedrale ein, die innerhalb von vier Jahren wieder aufgebaut und zum 850-jährigen Jubiläum der Stadt eingeweiht wurde. Obwohl ihre ästhetische Qualität umstritten ist, hat sich die neue Erlöserkathedrale – wie ihre Vorläuferin – längst wieder zu einem Wahrzeichen Moskaus entwickelt. Sie symbolisiert die Rückbesinnung auf religiöse Werte und die erstarkte Position der orthodoxen Kirche, aber auch die Abkehr von der sowjetischen Vergangenheit.
Sehr viel unauffälliger hat das neue Russland seine Abgrenzung von der Sowjet-Ära auf dem gegenüberliegenden, linken Moskwa-Ufer inszeniert. Dort kann man in einem Skulpturenpark die Relikte sowjetischer Erinnerungskultur besichtigen. Er entstand Anfang der neunziger Jahre und diente gleichsam als „Schutthaufen der Geschichte“, denn dorthin wurden verschiedene Monumente für Lenin, Dzerschinski, Kalinin und andere führende Protagonisten der Sowjetzeit gebracht, die man an den zentralen Plätzen der Stadt abgebaut hatte. Heute ist vom improvisierten, hochpolitischen Charakter dieses Areals nichts mehr übrig, es wurde in einen durchgestalteten Park namens „Museon“ verwandelt, in dem die sowjetischen Statuen zur Nebensache geworden sind. Das Moskauer Kulturmagazin „Afischa“ empfiehlt inzwischen sogar, den Park von der Moskwa-Seite her zu betreten, um sich den Anblick der hässlichen sowjetischen Denkmäler zu ersparen und unbeschwert die neuen Pavillons, Plastiken, Spazierwege und Teiche genießen zu können. Im Vordergrund steht nun die Erholungsfunktion dieser Oase der Ruhe mitten im Moloch Moskau. Dementsprechend wird der Park gerne für Spaziergänge genutzt, vor allem von Familien mit Kindern.
Der traditionsreichere und größere Erholungspark befindet sich direkt nebenan: der Ende der dreißiger Jahre geschaffene und durch den gleichnamigen Thriller bekannt gewordene Gorki-Park. Damit sind wir beim dritten und letzten Teil unserer Reise angelangt, der Alltags- und Freizeitkultur. Der Gorki-Park ist die „Mutter“ aller sowjetischen Erholungsparks und sollte den Sowjetbürger/innen die Kunst kultivierter Entspannung vermitteln. Zum Teil verbindet sich mit diesem Park offizielle Festkultur, vor allem die Feier des Sieges über Hitler-Deutschland am 9. Mai. Alljährlich kann man vor dem pompösen Eingangsportal des Parks Veteran/inn/en zu Akkordeonmusik tanzen sehen. Bereits Anfang der neunziger Jahre trug einer der Veteranen freilich schon nicht mehr das bisher übliche Jackett, sondern eine blendend weiße Jeansjacke, an die er seine zahlreichen Orden geheftet hatte – ein erster Indikator für das Eindringen der westlichen Konsumkultur in das Siegesfest, das sich später in immer zahlreicher werdenden Imbissbuden und sonstigen Verkaufsständen äußerte. Trotz seiner offiziösen Seiten war der Gorki-Park mit seinen Attraktionen (einem Riesenrad und anderen Kirmes-Elementen), Pavillons, Uferpromenaden schon zur Sowjetzeit ein Ort, an dem auch eher unpolitische Freizeitgestaltung möglich war. Noch viel mehr gilt dies für die weiter flussaufwärts liegenden Sperlingsberge, einen beliebten Ausflugsort zum Spazierengehen, Sonnenbaden, Picknicken und im Winter auch zum Skifahren. Hier macht die Moskwa ihre letzte Schleife vor dem Kiewer Bahnhof und entfaltet sich zu ihrer größten Breite. Begibt man sich zum Abschluss der Reise auf die Spitze der Sperlingsberge und wirft von der Aussichtsplattform einen Blick hinunter auf die Stadt, dann sieht man, wie sich der Fluss am Luschniki-Stadion, dem Ort der Olympischen Spiele von 1980, am Neujungfrauenkloster mit seinem Prominentenfriedhof und am „Weißen Haus“, dem Sitz der Regierung, entlang schlängelt. Hier zeigt sich nochmals, welche vielfältigen Verbindungen zwischen Kristallisationspunkten vorrevolutionärer, sowjetischer und postsowjetischer Geschichte die Moskwa herstellt. Dem symbolischen Gehalt dieser Orte verdankt sie selbst ihre Bedeutung.