Zwei Flüsse als Symbole des Tito-Jugoslawien

aus OWEP 3/2004  •  von Marija Barišić

Marija Barišić stammt aus Zadar/Kroatien und ist Publizistin.

Preko vode do slobode!“
(aus dem Film „Neretva“)1

Das zerfallene sozialistische Jugoslawien gründete auf einer großen Erzählung: auf der erschütternden und schließlich durch die vielen Wiederholungen ein wenig langweilig gewordenen Geschichte des Volksbefreiungskampfes aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Fakten und die Mythen des Befreiungskampfes begleiteten unsere Kindheit, unsere Schulbildung, unsere Besuche bei den Großeltern, unsere Fernsehabende. Zwei große Ereignisse waren besonders faszinierend: die beiden „feindlichen Offensiven“ des Jahres 1943 und im Rahmen dieser Offensiven zwei „Schlachten für Verwundete“, die beide mit Flüssen zu tun hatten und in Filmen verewigt wurden, die zu den größten jugoslawischen Filmproduktionen zählen und die nach eben diesen Flüssen benannt sind: Die Schlacht an der Neretva (1969) und Sutjeska (1973).

Während in der Erinnerung an die vierte Offensive (Neretva) Orson Welles in der Rolle eines königlichen Abgesandten in einen tödlichen Konflikt mit seinen Tschetniks geriet, spielte in der Verfilmung der fünften Offensive Sutjeska Richard Burton den Anführer der Partisanen Josip Broz Tito. Auch ansonsten glänzten die beiden Filme mit internationalen Namen und aufwändigen Szenen. Es spielten Yul Brynner und Franco Nero, Curd Jürgens und Hardy Krüger, Irene Papas und Sylvia Koscina. Pablo Picasso entwarf eigenhändig ein Filmplakat für Neretva, Jean Paul Sartre zeigte sich vom Film begeistert. Nur knapp entging Neretva der Oscar für den besten ausländischen Film. Für jugoslawische Verhältnisse war der Film sehr teuer, Sutjeska übertraf ihn sogar noch und errang den Titel des teuersten jugoslawischen Films aller Zeiten.

Die beiden Flüsse schrieben sich mit den suggestiven Mittel der Filmsprache in die kollektive Erinnerung ein. Dabei waren schon die historischen Fakten um die beiden Offensiven spannend und tragisch genug; sie beflügelten die Fantasie der Jugendlichen jener Zeit und bildeten eine Antwort auf eine Kultfigur im damaligen Westen – wir, die jugoslawischen Jugendlichen, brauchten keinen Che Guevara als Vorbild, da wir unseren Tito hatten, der von einem Richard Burton gespielt wurde und dem die ganze Welt zugestehen musste, dass er mit seinen Partisanen das Land ohne Hilfe von außen von den Deutschen und den Italienern befreit hatte. Und wir, weder Westen noch Osten – so unsere stolze Selbstbeschreibung – konnten auch Hollywood Konkurrenz machen, wenn wir nur wollten! Diese euphorische Art der Selbsteinschätzung, ein Produkt der damaligen jugoslawischen Propaganda, ist nur ein Segment im Gesamtblendwerk der jugoslawischen Ideologie. Dass es sich um ein Trugbild handelt, wurde spätestens Ende der achtziger Jahre deutlich. Doch ihre langjährige Überzeugungskraft bezog diese Ideologie aus einigen authentischen Motiven; die beiden Schlachten an den zwei legendären Flüssen gehörten dazu. Wer von uns hat nicht dem legendären Kommandanten Sava nachgetrauert, der – so ein Lied – „tot am Ufer der Sutjeska lag“? Nachdem er wiederholt „in der Nacht gerufen hat: Vorwärts, meine Helden, wir müssen durchkommen!“ Im Unterschied zu den Deutschen, die den Befehl hatten, niemanden zu verschonen („auch Kinder und Frauen nicht“ - so heißt es am Anfang von Neretva), opferten die Partisanen bewusst ihr Leben, um die Schwachen zu schützen. Wir spiegelten uns in ihrer selbstlosen Tat wieder.

Diese moralische Haltung, die teils als Legende und teils als Wahrheit den Mythos von den Partisanen begleitete, war in die Fundamente Jugoslawiens eingebaut, und sie ist zusammen mit dem Land verschwunden. Dabei sind die Partisanen in Neretva als einzige Gruppe unter den fünf beteiligten Kriegsparteien national gemischt: die jugoslawischen Schauspieler sprechen in verschiedenen Dialekten und zeigen, dass sie „Brüder“ sind. Nicht zuletzt gewinnen die Partisanen dank dieser beiden Eigenschaften in den letzten Jahren bei den neuen Generationen im inzwischen ehemaligen Jugoslawien wieder an Sympathien. Che Guevara in der westlichen Welt ist wieder zu einer Art Pop-Ikone geworden, eine Art Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die sich im Kauf von T-Shirts verbraucht, während die vom Nationalismus und von den Berichten über die Verbrechen an Zivilisten im letzten Krieg angewiderten Jugendlichen in den Ländern Südosteuropas manchmal wieder an Tito glauben – und T-Shirts mit seinem Porträt tragen. Doch das Bild von ihm in der Geschichte, das immer schon entweder dämonisiert oder verherrlicht wurde, ist nach wie vor nicht bearbeitet worden, und ebenso wie die gesamte Geschichte des Volksbefreiungskampfes wartet es auf zeitliche Distanz und auf eine Einschätzung ohne ideologische Zweckbindung.

Bis zum Desaster des letzten Krieges waren beide Filme und beide Flüsse fester Bestandteil des jugoslawischen Selbstbildes, und allen negativen Gefühlen zum Trotz, die ich heute dieser Art von Propaganda gegenüber pflege, kann ich meine ursprüngliche Erregung nicht leugnen, die ich empfinde, wenn ich die grandiose Szene aus dem Film Neretva sehe, in der die verzweifelten Partisanen versuchen, die weit überlegene deutsche Armee zu stoppen, und in der die Verwundeten und Kranken sich entscheiden, ihnen mit ihrem Lied zu helfen. Versammelt in einer Kirche, hungrig, erschöpft, in Lumpen gehüllt, singen sie ihr Lied, begleitet vom Glockengeläut und von der Ziehharmonika eines Partisanen, der im Kampf beide Beine verloren hat, während die verblüfften Deutschen zu lauschen beginnen, ihre ersten Selbstzweifel zeigen und die müden Tito-Krieger in ihren Stellungen beflügelt werden: „Nieder mit euch, Macht und Ungerechtigkeit, das Volk ist berufen, euch zu richten ...“

Der Film zieht seine Anziehungskraft vor allem aus den Zielen der gegnerischen Seiten: Die Deutschen und ihre Verbündeten glauben, dass die Alliierten eine Invasion auf dem Balkan vorbereiten, und sind fest entschlossen, ein für alle Mal mit den Partisanen abzurechnen. Die Partisanen versuchen, den tödlichen Ring um sie herum zu durchbrechen, nicht um sich selbst zu retten, sondern um 4.000 Kranke und Verwundete sowie die Zivilbevölkerung, die sich ihnen angeschlossen hat, in Sicherheit zu bringen (die Situation wird sich in noch schlimmerem Ausmaß am Fluss Sutjeska wiederholen). Eine einzige Brücke über das schnelle Wasser der Neretva bildete den Ausweg aus der Einkesselung: da sie das wussten, schickten die Deutschen die mit ihnen verbündeten Tschetniks an das andere Ufer, im festen Glauben daran, dass dieses Mal die Partisanen in die Falle geraten werden. Zu ihrer großen Überraschung aber mussten sie feststellen, dass die Partisanen selbst diese Brücke sprengten – der berühmte Trick Titos, der die Sprengung zum Entsetzen seiner eigenen Leute anordnete, um sie dann heimlich eine improvisierte Brücke bauen zu lassen, damit sie doch über das Wasser gelangten ... Inzwischen hat eine Partisanengruppe die Tschetniks in einen Hinterhalt gelockt, während diese sangen „Die Neretva wird in diesen Tagen/zur Grabstätte der Partisanen“.

Die Deutschen kämpften für ihren Führer, die Italiener für ihren Duce, die Tschetniks für den König und die Ustaschas, die ebenfalls im Film vorkommen, für ihren Poglavnik. Allein die Partisanen, so die Botschaft, kämpften für das Volk – zusammen mit Tito, der aus dem Hintergrund alle Operationen leitete. Der Fluss, zu dem die Kolonne strebt, bedeutete die letzte Barriere vor der Freiheit. Der Weg zur Freiheit ist ein Weg mit Hindernissen, lautet die Botschaft des Films: manchmal ist es notwendig, den offensichtlichen Weg in die Luft zu jagen und einen heimlichen, improvisierten Weg zu bauen. Als Symbol dafür dient die schräg in das Wasser gelassene gesprengte Brücke, die für den Film gebaut wurde und als Denkmal in der Neretva zurückblieb. Heutige Besucher von Bosnien und Herzegowina, die auf diese Brücke stoßen, werden sicher glauben, dass die Ruine aus dem letzten Krieg stammt, liegen doch in der Neretva auch die Reste der schönen Steinbrücke aus Mostar, nach der die Stadt ihren Namen bekam, und die keine Kulisse, sondern ein Zeugnis der alten türkischen Baukunst war.2 So erscheint die gesprengte Brücke, die für einen identitätsstiftenden Film gebaut wurde, als eine Art Prophezeiung, ebenso wie die Szene mit dem Statisten Nezir Omerović, in der er von einem Tschetnik mit einem Messer ermordet wurde. Laut der Zeitung Dani verschwand Nezir Omerović, der immer stolz auf seine kleine Rolle im großen Film Neretva war, in der Nacht vom 12. Juli 1995, als er von der Flüchtlingskolonne, die von Srebrenica nach Tuzla zog, ein wenig abwich, um an einem Bach Wasser zu trinken.

Deutsch von Thomas Bremer.


Fußnoten:


  1. „Über das Wasser in die Freiheit!“ ↩︎

  2. Die berühmte Brücke von Mostar, während des Bosnienkrieges am 9. November 1993 zerstört, wurde inzwischen wiederaufgebaut – als Symbol eines immer noch brüchigen Friedens (Anm. der Redaktion). ↩︎